Vortrag «Die Dystopie im 21. Jahrhundert»

Diese Woche fand an der Universität Regensburg das interdisziplinäre Symposium Ökotopien und Dystopien in Kunstgeschichte, Kultur und Film statt. Auf Einladung von Christoph Wagner und Marcus Stiglegger trug ich hier einige Gedanken zu neueren Entwicklungen im Bereich der filmischen Dystopie vor.

Obwohl die Dystopie ein Genre ist, das ich an sich sehr mag, bin ich mit vielen Filmen, die in jüngerer Zeit in diesem Bereich entstanden sind, nicht wirklich glücklich. Der Vortrag bot mir Gelegenheit, meine Gedanken diesbezüglich ein wenig zu ordnen. Eine wichtige Referenz bildete dabei Anika Gonnermanns Studie Absent Rebels, die ich vor einiger Zeit rezensiert habe.

Simon Spiegel am Vortragen

Bild: Christoph Wagner

Der Vortrag leidet ein bisschen unter meinem bekannten Ähm-Problem, aber ich hoffe, er ist dennoch halbwegs interessant.

Erwähnte Werke

Gonnermann, Anika: Absent Rebels. Criticism and Network Power in 21st Century Dystopian Fiction. Tübingen: Narr Francke Attempto 2021.

Spiegel: «Rezension von Gonnermann, Annika (2021): Absent Rebels. Criticism and Network Power in 21st Century Dystopian Fiction. Tübingen: Narr Francke Attempto». In: Zeitschrift für Fantastikforschung 9.1, 2021, 1–6. DOI: 10.16995/zff.5691.

Rezension von »Absent Rebels«

Über kaum etwas schreibt das Feuilleton so gerne wie über das Verschwinden der Utopie bzw. das Überhandnehmen der Utopie. Dass dieses Lamento in meinen Augen nur bedingt berechtigt ist, da die Zukunft in der Science Fiction zu keinem Zeitpunkt ausschliesslich positiv war, habe ich schon verschiedentlich geschrieben.[ref]Unter anderem in diesem Beitrag.[/ref]

Cover »Absent Rebels«Zweifellos korrekt ist aber, dass sich dystopische Stoffe seit geraumer Zeit grosser Beliebtheit erfreuen. Und ebenso richtig ist, dass die Dystopie dazu tendiert, die stets gleichen Elemente zu verwenden. Letzteres ist an sich nicht ungewöhnlich, es gehört vielmehr zum Wesen eines Genres, dass es mit einem Grundstock von Motiven und Plot-Versatzstücken arbeitet und diese jeweils auf mehr oder weniger neue Weise kombiniert.[ref]Siehe dazu auch diesen und diesen Post.[/ref] Nun versteht sich die Dystopie aber dezidiert als kritisches Genre, das negative Entwicklungen dramatisch übersteigert und die Leserinnen und Zuschauer auf diese Weise aufrütteln will. Ist das bei einem Genre, das, etwas überspitzt ausgedrückt, seit Huxley und Orwell bloss die immer gleichen Motive rezykliert und heute zudem in der Form von Mega-Franchises wie die Hunger-Games-Reihe oder Serien wie The Handmaid’s Tale erscheint, aber überhaupt noch möglich? Oder anders formuliert: Ist es nicht Zeichen eines grossen Missverständnisses, wenn, wie oft kolportiert, nach der Wahl Donald Trumps Nineteen Eighty-Four plötzlich wieder in den Bestseller-Listen auftaucht? Denn was kann uns ein mehr als ein halbes Jahrhundert altes Buch, das vor einem gänzlich anderen politischen und kulturellen Hintergrund entstanden ist, wirklich über die Gegenwart sagen?

Annika Gonnermann geht in Absent Rebels, das auf ihrer Dissertation in Anglistik an der Universität Mannheim basiert, von der These aus, dass ein Grossteil der dystopischen Literatur – und damit auch der Utopieforschung – irgendwo tief im 20. Jahrhundert stecken geblieben ist. Der Feind, den es zu bezwingen gilt, ist in den meisten Romanen und Filmen immer noch der (totalitäre) Staat ist, der durch einen politischen Umsturz besiegt werden kann. Dies entspräche aber längst nicht mehr der Realität; die eigentliche Bedrohung geht heute, so Gonnermann, nicht vom Staat, sondern von einem ungebremsten kapitalistischen Wirtschaftssystem aus. Folglich kann die Lösung auch nicht in einer Rebellion gegen das herrschende politische System liegen.

Mit dieser Prämisse rennt Gonnermann bei mir offene Türen ein. Ich konnte es bisher zwar nicht so präzise wie sie benennen, aber ich teile ihr Unbehagen über den Zustand der Dystopie weitgehend. Entsprechend habe ich mich gefreut, dass ich das Buch für die Zeitschrift rezensieren konnte.

Wie ich in meiner Besprechung ausführe, kann Gonnermann ihre These überzeugend belegen. Meine Hauptkritik ist, dass Absent Rebels für meinen Geschmack zu literaturlastig ist und Bewegtbilder völlig ignoriert. Das sagt allerdings vor allem etwas über meine Interessen aus und schmälert Gonnermanns Verdienst in keiner Weise.

Die vollständige Rezension gibt es hier.

The Handmaid's Tale

Wie kritisch kann die Dystopie heute noch sein?

Spiegel, Simon: »Rezension von Gonnermann, Annika: Absent Rebels. Criticism and Network Power in 21st Century Dystopian Fiction. Tübingen: Narr Francke Attempto 2021«. In: Zeitschrift für Fantastikforschung 9.1, 1–6. Doi: 10.16995/zff.5691.

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Die Utopie ist noch nicht tot

Das Genre der Utopie-Totenrede erfreut sich im deutschsprachigen Feuilleton schon seit geraumer Zeit grosser Beliebtheit. Mein folgender Gastbeitrag im Tages-Anzeiger ist eine indirekte Antwort auf einen Artikel von Beat Metzler.

Die Klage, dass Dystopien überhand- nehmen, ist ein Dauerbrenner des Feuilletons. Alle paar Monate lesen wir, wie allgegenwärtig der Pessimismus in Literatur und Film sei. Dass die Gegenwart angesichts von Klimawandel, Kriegen, Finanz- und Flüchtlingskrisen nicht rosig ist, darin sind sich alle einig. Aber statt aus Utopien Hoffnung zu schöpfen, ergötzen wir uns an Dystopien, die uns stets von neuem versichern, dass die Zukunft noch viel schrecklicher sein wird.

Die Diagnose scheint angesichts des Erfolgs von Produktionen wie der Hunger Games-Reihe oder The Handmaid’s Tale treffend, beruht aber auf falschen Prämissen.

The Handmaid's Tale

Under His Eye – The Handmaid’s Tale

Seit der englische Humanist Thomas Morus 1516 seine Utopia veröffentlicht und damit das Genre begründet hat, machte die Utopie viele Wandlungen durch. Was sich dabei kaum verändert hat, ist ihre zentrale Funktion: Die Utopie zeigt, dass es Alternativen zur misslichen Gegenwart gibt. Ihr Ausgangspunkt ist immer der Befund, dass die Lage desolat ist; die Kritik am Status quo ist dabei oft wichtiger als der utopische Gegenentwurf. Sonderlich optimistisch ist das nicht.

Wirklich ausgestorben ist diese Form nie. Was sich verändert hat, ist das Interesse des Publikums. Edward Bellamys Looking Backward, das ein sozialistisches Boston im Jahr 2000 entwirft, war Ende des 19. Jahrhunderts in den USA ein Millionenbestseller; 130 Jahre später ist das Buch ausserhalb von Spezialistenkreisen unbekannt.

Nicht anders erging es Aldous Huxley mit seinem letzten Roman, dem 1962 erschienenen Island. Auf der Insel Pala lebt eine kleine Population dank Meditation, frei gelebter Sexualität und gezieltem Einsatz der fiktiven Droge Moksha ein Leben in Glück und Harmonie. Huxleys Utopie ist heute praktisch vergessen, geblieben ist dagegen seine drei Jahrzehnte früher entstandene Dystopie Brave New World.

Ähnlich das Bild, wenn wir uns in heimatliche Gefilde begeben. Einer der radikalsten utopischen Entwürfe jüngeren Datums dürfte bolo’bolo des Zürcher Autors P. M. sein. Bei P. M. ist jegliche staatliche Organisation aufgehoben, sind die Menschen in Gemeinschaften von maximal 500 Mitgliedern, den sogenannten bolos, organisiert. Die Regeln des Zusammenlebens gibt sich jedes bolo selbst, vom egalitären bis zum totalitären bolo ist alles möglich. bolo’bolo wird gerne als Kultbuch bezeichnet, ausser einer Handvoll eingefleischter Anarchisten dürfte es aber kaum jemand wirklich gelesen haben.

Ein städtisches bolo

Ein städtisches bolo

Anders, als gerne suggeriert wird, ist die Dystopie keine neue Erscheinung. In der Science-Fiction dominieren schon lange negative Zukunftsentwürfe. Das liegt weniger am chronischen Pessimismus der Autoren, sondern daran, dass Geschichten Konflikte brauchen. Eine Welt, in der alle zufrieden sind, ist eine denkbar schlechte Ausgangslage für eine spannende Erzählung. Dystopien sind nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil sie den Konflikt frei Haus mitliefern. In ihrem Zentrum steht fast immer die Rebellion eines Unangepassten, Action und Nervenkitzel sind damit garantiert.

Dabei sind Dystopien gar nicht so pessimistisch wie oft behauptet, denn an ihrem Ende steht meist der Umsturz der tyrannischen Ordnung, leuchtet ein utopischer Horizont auf. Wie der Liebesroman, der endet, wenn die Liebenden endlich vereint sind, schliesst auch die Dystopie in dem Moment, in dem das Glück greifbar wird.

Ohnehin sagt die Allgegenwart von Dystopien weniger über den Zeitgeist als über die Strategien der Filmindustrie aus. Science-Fiction ist heute kein Billiggenre mehr, sondern bildet eine zentrale Säule in Hollywoods Geschäftsmodell. Wer sich vor 30 Jahren nicht für das Genre interessierte, konnte ihm leicht aus dem Weg gehen und somit auch übersehen, wie häufig Dystopien bereits damals waren. Eine Serie wie The Handmaid’s Tale ist dagegen ein aufwendig produziertes Prestigeprojekt, das auf allen Kanälen beworben und im Feuilleton diskutiert wird. Einmal mehr gilt: Es liegt nicht am Angebot, sondern daran, was wir konsumieren.

Erschienen im Tages-Anzeiger vom 12. Dezember von 2019.

Wie der Science Fiction die Zukunft abhanden kam

Die Welt, in der Wade Watts (Tye ­Sheridan) lebt, ist alles andere als ­gemütlich. Klimawandel und Überbevölkerung haben grosse Teile des Planeten zerstört, die meisten Menschen leben wie Wade in Slums. Einziger Hoffnungsschimmer ist die Oasis, ein riesiges Virtual-Reality-System, in das entfliehen kann, wer der Realität überdrüssig ist. Und das sind viele. Wieso sollte man die desolate Wirklichkeit ertragen, wenn die digitale Welt attraktivere Alternativen bietet?

Ready Player One, der neuste Science-Fiction-Kracher von Steven Spielberg nach dem gleichnamigen Bestseller von Ernest Cline, zeigt eine düstere Zukunft und ist ­damit keineswegs ein Einzelfall. Wenn das Kino vorausschaut und mögliche Szenarien für die Menschheit entwirft, fallen diese fast immer negativ aus. In Young Adult Dystopias wie den Hunger Games-, Maze Runner– oder Divergent-Filmen kämpfen Jugendliche in totalitären Staaten ums Überleben. Und während in Interstellar von Christopher Nolan die Erde vor dem ökologischen Kollaps steht, ist dieser in der Wüstenwelt von Mad Max: Fury Road ­bereits eingetreten. Gewissermassen die Gegenposition dazu zeigt Snowpiercer von Bong Joon-ho, in dem eine neue Eiszeit über die Menschheit hereingebrochen ist.

Ready Player One

Eine wenig einladenden Zukunft in Ready Player One

Ob Terrorherrschaft, Sand- oder Eiswüste – die filmische Zukunft präsentiert sich stets wenig einladend. Wo aber sind die positiven Szenarien geblieben? Die Filme also, die uns eine sorglose Welt von morgen zeigen, wo freundliche Roboter-Butler der Heldin das Frühstück ans Bett bringen und diese anschliessend im persönlichen Gleiter fröhlich zum Mars düst?

Ein Blick in die Filmgeschichte zeigt: Das Kino war an der guten Zukunft nie interessiert. Mehr noch: Vor Mitte der 1960er Jahre waren futuristische Themen im Kino dünn gesät. Es gab zwar prominente Ausnahmen wie Metropolis (1927) von Fritz Lang und Kuriositäten wie das Zukunfts-Musical Just Imagine (1930) von David Butler. Letzteres zeigt im Gegensatz zu Langs Dystopie-Klassiker tatsächlich eine sorgenfreie Zukunft. Diese beiden und eine Handvoll weiterer ähnlicher Filme sind aber Ausreisser.

Meilenstein von Stanley Kubrick

Hollywood beginnt sich erst ab 1950 für ­Science Fiction zu interessieren, nimmt das Genre aber noch nicht allzu ernst. Die grosse Mehrheit solcher Filme, die im folgenden Jahrzehnt entstehen, sind billige B-Movies, in denen sich die Menschheit gegen Ausserirdische oder verrückte Wissenschafter zur Wehr setzen muss. Nicht zuletzt aus Budgetgründen sind diese Filme fast alle in der Gegenwart angesiedelt, für aufwendige futuristische Kulissen fehlte das Geld.

In den sechziger Jahren legt die Science Fiction ihren B-Movie-Status allmählich ab. Die Budgets werden höher, gleichzeitig spielen immer mehr Filme in der Zukunft. Einen Markstein stellt diesbezüglich 2001: A Space Odyssey (1968) von Stanley Kubrick dar, der in Sachen Budget und Aufwand alles bisher Dagewesene übertrifft. Doch obwohl der Film den technischen Fortschritt zelebriert, Raumschiffe zu Walzerklängen tanzen lässt und minutenlang das Fitness-Training eines Astronauten zeigt – bei genauerem Hinsehen entpuppt sich diese Welt keineswegs als perfekt. Der Kalte Krieg ist noch nicht überwunden, und als auf dem Mond ein ausserirdisches Artefakt entdeckt wird, halten die Amerikaner dies vor ihren russischen Kollegen geheim.

Noch düsterer präsentiert sich der im gleichen Jahr erschienene Planet of the Apes. Hier verschlägt es Charlton Heston in eine post-apokalyptische Zukunft, in der sprechende Affen die Weltherrschaft übernommen haben. Das berühmte Schlussbild mit den Überresten der Freiheitsstatue offenbart, wie es dazu kam: Die Menschheit hatte sich selbst ausgelöscht.

Planet of the Apes

«You Maniacs! You blew it up!» – Das Ende von Planet of the Apes

Das zu dieser Zeit erwachende ökologische Bewusstsein sowie die kritische Haltung der Gegenkultur gegenüber dem Establishment schlagen sich jetzt in Filmen wie George Lucas’ Kino-Erstling THX 1138 über die Furcht vor dem Identitätsverlust des Einzelnen in einer hochtechnologisierten Welt, dem Überbevölkerungs-Drama Soylent Green (wieder mit Charlton Heston) oder in Silent Running nieder, in dem letzte Überreste biologischen Lebens in acht Raumschiffen durchs All gondeln. Die in den siebziger Jahren entworfene Zukunft ist an Düsternis kaum zu übertreffen.

«Die Zukunft war früher auch besser», soll der Komiker Karl Valentin einmal gesagt haben. Dass das für das Kino nicht zutrifft, ist nicht erstaunlich, denn Filme brauchen Konflikte. Eine Welt, in der alle glücklich und zufrieden sind, gibt erzählerisch nichts her. Deshalb kommt es selbst in Star Trek, in dem dank Replikatoren-Technologie jede Ressource beliebig verfügbar ist und Hunderte von Planeten und Rassen friedlich als Föderation vereint sind, regelmässig zu handfesten Auseinandersetzungen.

Wenn das Kino nie positiv nach vorne schaute, woher kommt dann aber das Gefühl, dass die Film-Zukunft früher grösser, schöner, besser war? Die Ursache dürfte nicht bei den Filmen, sondern bei uns, den Zuschauern, liegen. Heutige Bilder der Zukunft lassen uns kalt, weil diese längst da ist. Ein iPhone erkennt nicht nur Gesichter und reagiert auf Sprachbefehle, wir können damit auch Filme schauen, Videokonferenzen abhalten und im grössten Lexikon der Welt alles nachschlagen. Was ist das, wenn nicht wahr gewordene Science Fiction?

Als der Mond noch weit weg war

Weil sich die Distanz zwischen Fiktion und Realität punkto Technologie verringert hat, haben Zukunftsentwürfe viel von ihrer ­Faszination verloren. Am Anfang von 2001 führt eine Figur von einer Raumstation aus ein Videotelefongespräch mit ihrer Tochter. Für die Zuschauer im Jahr 1968 stellte ­bereits die realistische Darstellung einer ­solchen Technik ein Faszinosum dar. Wie grossartig muss eine Welt sein, in der so etwas möglich ist? Wen interessiert da, dass sich die Grossmächte noch immer bekriegen? Heute dagegen sind selbst Videos von der internationalen Raumstation ISS nur einen Klick entfernt.

Destination Moon

Als die Zukunft noch auf dem Mond zu finden war: Destination Moon

Besonders deutlich zeigt sich diese veränderte Wahrnehmung an der Darstellung der Raumfahrt. Während Jahrzehnten standen Raumschiffe und Raketen sinnbildlich für das strahlende Morgen. Entsprechend vermittelte jeder Film, in dem jemand durchs All fliegt, bereits eine positive Vision. Die Schlacht unterwegs, die bösen Aliens auf dem Zielplaneten – das alles verblasste angesichts der Tatsache, dass die Menschheit die Erde hinter sich gelassen hat. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist der heute halb vergessene Film Destination Moon von 1950, ein für seine Entstehungszeit verhältnismässig aufwendiges Werk, an dessen Produktion unter anderem der bekannte Science-Fiction-Autor Robert A. Heinlein beteiligt war. Der Plot ist an Einfachheit kaum zu überbieten: Weil das staatliche Raumfahrtprogramm nach zahlreichen Pannen eingestellt wurde, springt eine Gruppe amerikanischer Geschäftsleute in die Bresche und finanziert den ersten Flug zum Mond aus der eigenen Tasche.

Produzent George Pal zeichnete später noch für zwei weitere Genreklassiker verantwortlich, die beiden H.-G.-Wells-Verfilmungen War of the Worlds (1953) und The Time Machine (1960). Im Gegensatz zu diesen deutlich bekannteren Filmen kommt Destination Moon ganz ohne Ausserirdische und sonstige Schockeffekte aus. Der Fokus liegt vielmehr auf der realistischen Darstellung einer Mondmission, und die Dramatik entsteht ausschliesslich aus natürlichen Hindernissen, welche die drei findigen Astronauten überwinden müssen. Etwa, wenn es gilt, einem Asteroiden auf Kollisionskurs auszuweichen, oder wenn sich beim Rückflug herausstellt, dass der Treibstoff nicht ausreicht. Wie realistisch Letzteres ist, sei allerdings dahingestellt.

Das Ergebnis ist ein aus heutiger Sicht doch eher langweiliger Film. Das zeitgenössische Publikum sah das damals freilich anders. Insbesondere die jungen Science-Fiction-Fans waren begeistert, dass endlich jemand ihre Sehnsüchte ernst nahm. Destination Moon trat zu einem Zeitpunkt, als das Apollo-Programm noch in weiter Ferne lag, gewissermassen den Beweis an, dass an den ganzen Raumschiff-Fantasien etwas dran war. Geradezu programmatisch gibt sich diesbezüglich der Schluss des Films: Statt dem üblichen «The End» erscheint hier «This is THE END … of the Beginning». Wir stehen an einem Anfang, das Weltraumzeitalter hat gerade erst begonnen! Was spielte es da für eine Rolle, dass die Schauspieler hölzern agieren und eine echte Handlung fehlt?

1961 eröffnete Präsident Kennedy mit seiner berühmten Rede dann den realen Wettlauf zum Mond, und von da an schien die Weltraumbegeisterung grenzenlos. Die Rakete war nun endgültig zum Inbegriff der Zukunft geworden. Wer zuerst den Mond erreichte, dem würde das All offen stehen.

JFK

Präsident Kennedy gibt den Startschuss für das Mondfahrt-Programm

Doch es kam anders. 1969 betrat Neil Armstrong zwar als erster Mensch den Mond, doch kaum war das geschehen, ebbte die weltweite Raumfahrtbegeisterung auch schon wieder ab. Obwohl ursprünglich weitere Missionen geplant waren, war 1972 nach Apollo 17 Schluss. Der Mond hatte sich als langweiliger Gesteinsbrocken entpuppt, auf dem es nichts zu holen gibt. Zugleich wurde deutlich, dass damit das vorläufige Ende der Fahnenstange erreicht war, dass uns die Weiten des Alls auf absehbare Zeit verschlossen bleiben werden.

Wenig ist unvorstellbar

Mittlerweile hat selbst hier die Realität das Kino weitgehend eingeholt. Mit Elon Musk hat nun tatsächlich ein Privatmann seine eigene Rakete zwar nicht zum Mond, doch immerhin ins All geschossen. Doch irgendwie scheint das niemanden mehr vom Sessel zu reissen. Die Medien haben zwar ausführlich über das rote Tesla-Cabriolet berichtet, das Anfang Februar seine Reise Richtung Mars antrat, aber die erwartete grosse Euphorie wollte sich nicht einstellen. Selbst das erklärte Fernziel des Hightech-Entrepreneurs, der bemannte Flug zum Mars, scheint die meisten Menschen wenig zu interessieren. Sollte das Projekt erfolgreich sein, wäre das zweifellos eine ausserordentliche Leistung, sie bliebe aber wohl ähnlich folgenlos wie die Apollo-Missionen.

Tesla

Früher Science Fiction, heute Marketing – der Tesla-Roadster im All

Es sind also nicht die Science-Fiction-Filme, die pessimistischer geworden wären. Vielmehr hat sich im Publikum Ernüchterung breitgemacht. Damit wir wieder an eine bessere Zukunft glauben, ist heute mehr nötig als ein Videotelefon und ein schickes Raumschiff. Man kann das als Verlust der Unschuld bedauern. Man kann darin aber auch einen Reifeprozess sehen – der Zuschauer ebenso wie des Kinos.

Erschienen in Frame 1/2018.

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Lehrjahre des Schreckens

Erschienen in kolik.film 28/2017.

Young Adult Dystopias wie The Hunger Games inszenieren typische Coming-of-Age-Szenarien als futuristische Schreckensvisionen – und erweisen sich dabei als erstaunlich konservativ.

Nach Harry Potter und den liebestrunkenen Vampiren von Twilight ist derzeit ein neues Genre bei Teenagern besonders en vogue: die Jugenddystopie oder, wie man auf Neudeutsch sagt, die Young Adult Dystopia. Wobei man sich darüber streiten kann, ob der Trend seinen Höhepunkt nicht schon wieder überschritten hat. Wenn findige Filmproduzenten meinen, dass sogar Ödön von Horvaths Jugendbuchklassiker Jugend ohne Gott als futuristisches Schreckensszenario aufgebrezelt werden muss, wie es unlängst unter der Regie von Alain Gsponer geschah, deutet einiges darauf hin, dass wir den Genrezenit bereits überschritten haben und nur noch Derivatives zu erwarten ist.

Jugend ohne Gott

Horvath als Young Adult Dystopia: Jugend ohne Gott.

Die Warnung vor der Zukunft

Dystopien sind an sich nichts Neues. Als eigenständiges literarisches Genre mit typischen Motiven und Plot-Elementen etabliert sich die negative Utopie zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Romanen wie Jack Londons The Iron Heel und Jewgeni Samjatins Wir und später mit den beiden großen Klassikern, Aldous Huxleys Brave New World und George Orwells Nineteen Eightyfour. Die grundlegende Funktion des Genres ist die Warnung. Dystopische Romane und Filme übersteigern negative Tendenzen der Gegenwart – oft mit stark satirischem Einschlag – ins Monströse und signalisieren auf diese Weise, dass eine Umkehr noch möglich ist. Die Zukunft, die es abzuwenden gilt, ist technisch avanciert, wobei nicht alle gleichermaßen vom Fortschritt profitieren. Die schöne neue Welt erweist sich vielmehr als erbarmungslose Klassengesellschaft. Wer im falschen Sektor respektive mit der falschen genetischen Veranlagung geboren wurde, hat von Anfang an keine Chance. Im Zentrum der Handlung steht meist ein zu Beginn vorbildliches Mitglied der neuen Gesellschaft, das allmählich die Schlechtigkeit der herrschenden Ordnung erkennt und schließlich in Opposition zu dieser tritt.

Was die Dystopie filmisch interessant macht, ist just dieser Rebellionsplot. Im Gegensatz zur positiven Utopie, die diesbezüglich wenig zu bieten hat, bringt ihre schwarze Schwester von Haus aus eine spannende Handlung mit. Auch visuell ist das Genre attraktiv: Anonyme Riesenstädte, in denen gleichgeschaltete Massen ohne Murren ihrer Pflicht nachkommen, sind ebenso dankbare Motive wie die Gegenüberstellung des dekadenten Luxus der Oberschicht mit dem Leid der breiten Bevölkerung. Bereits Fritz Langs Metropolis (1927) bedient sich dieser Topoi, und spätestens seit den 1970er-Jahren, mit Filmen wie THX 1138 (1971), Soylent Green (1973) oder Logan’s Run (1976), präsentiert sich ein beträchtlicher Teil des Science-Fiction-Kinos im dystopischen Gewand.

Die Dystopie is visuell attraktiv: Metropolis von Fritz Lang.

 

Böses Erwachen

Genregeschichtlich tritt die Young Adult Dystopia zu einem Zeitpunkt auf den Plan, als die verschiedenen Genreversatzstücke bereits fest etabliert und oft schon zu Klischees geronnen sind. Die Hunger-Games-Reihe, mit ihrem Franchising und vier Kinospielfilmen der erfolgreichste Vertreter des Subgenres, reichert die bewährte Formel um zwei zusätzliche Elemente an: Zum einen stehen, wie bereits an der Genrebezeichnung erkennbar wird, jugendliche Protagonisten im Zentrum. Diese müssen sich – und damit wären wir bei der zweiten Neuerung – meist in einer Art Test oder Wettkampf beweisen. Das Vorbild, auf das sich im Grunde alle filmischen Young Adult Dystopias mehr oder weniger direkt beziehen, ist der 2000 erschienene japanische Skandalfilm Battle Royale. In dem Film, der in Deutschland über ein Jahrzehnt lang auf dem Index stand, tragen auf einer Insel ausgesetzte Teenager einen blutigen Wettkampf gegeneinander aus. Eine Idee, die ihrerseits bereits in Filmen wie La decima vittima (1965), The Gladiators (1969) oder The Running Man (1987) zu sehen war, von Regisseur Kinji Fukasaku nun aber erstmals mit Jugendlichen inszeniert wurde.

Battle Royale

Ein Kampf auf Leben und Tod: Battle Royale.

Battle Royale spielt bereits in einer dystopischen Welt, diese wird aber nur angedeutet. Wie sich das Leben außerhalb der Insel gestaltet, kriegen wir kaum mit, und der Ausgang des Wettkampfes scheint auf die Gesellschaftsordnung dieser Welt auch keinen großen Einfluss zu haben. Die titelgebenden Hunger Games, in denen Gesandte der verschiedenen Bezirke einen Kampf auf Leben und Tod austragen, sind dagegen Veranstaltungen von hohem symbolischem Wert, in denen sich das Regime seiner Herrschaft versichert. Und Katniss Everdeen, die in der 74. Ausgabe der Spiele den 12. Bezirk vertritt, wird im Wettkampf nicht nur zur erbitterten Gegnerin des Systems, sondern schließlich sogar zur Anführerin des Widerstands.

Bei Gsponer ist der Wettkampf weit weniger blutig, die Teenager müssen verhältnismäßig harmlose Gruppenspiele bestehen, die an Bondingseminare für Kadermitarbeiter erinnern, die grundlegende Struktur bleibt aber gleich. Und selbst wenn kein Wettkampf im eigentlichen Sinne stattfindet, geht es bei der Young Adult Dystopia letztlich doch immer darum, dass sich Jugendliche in einem extremen Setting behaupten müssen. In The Maze Runner (2014) etwa, basierend auf der gleichnamigen Jugendbuchreihe von James Dashner, finden sich die Protagonisten ohne Erinnerung an ihr früheres Leben auf einer großen, von hohen Mauern umgebenen Wiese wieder. Jenseits der Mauer tut sich ein riesiges Labyrinth auf, in dem schreckliche Monster hausen. Die Herausforderung ist damit eine doppelte: Die Teenager müssen ihr Zusammenleben organisieren und sich zudem gegen die Bedrohung von außen zur Wehr setzen.[ref]Siehe zu The Maze Runner auch einen früheren Blogeintrag.[/ref]

The Maze Runner

The Maze Runner

Die Lüge der Erwachsenen

Ein weiteres Muster, das hier sichtbar wird, stammt aus William Goldings mehrfach verfilmtem Lord of the Flies. Der Roman von 1954 ist seinerseits eine Reaktion auf das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Großbritannien sehr beliebte Genre der Jugend-Robinsonade. Der böse Dreh besteht bei Golding darin, dass seine jugendlichen Robinsons in dem Südseeparadies, auf das sie der Zufall gespült hat, kein Utopia errichten. Vielmehr werden die bis dahin braven Internatszöglinge bald zu blutrünstigen Bestien. Die „natürliche Ordnung“, zu der die von der Zivilisation abgeschnittenen Jugendlichen zurückfinden, ist die Terrorherrschaft.

Lord of the Flies

Lord of the Flies in der Verfilmung von 1963.

Ist der Mensch ein soziales Wesen oder in Wirklichkeit doch des Menschen Wolf? Goldings Roman gibt auf diese Frage eine sehr pessimistische Antwort. Die Jugenddystopien hingegen bleiben ambivalent. Kooperation wäre möglich, eine bessere Gesellschaft im Prinzip erreichbar, aber da die Verhältnisse nun einmal so sind, wie sie sind, müssen auf dem Weg in die bessere Welt zuerst einmal diverse Konkurrenten aus dem Weg geräumt werden. Strategisch ist das durchaus geschickt, ermöglicht es den Filmen doch, die mitunter drastischen Actionszenen in eine pazifistische Botschaft einzubetten.

Der Erfolg der Young Adult Dystopia gründet aber wohl nicht zuletzt darin, dass sie die Topoi des Genres nutzt, um klassische Coming-of-Age-Geschichten zu erzählen. Das Herauswachsen aus der Kindheit und die Entfremdung von der Erwachsenenwelt vollziehen sich in der Jugenddystopie als Einsicht, dass man einer großen Lüge aufgesessen ist, dass die bestehende Ordnung ein riesiger Schwindel ist, den eine kleine Elite aus purem Eigennutz inszeniert. Das Labyrinth von The Maze Runner entpuppt sich ebenso wie das Klassensystem in der Divergent-Reihe als eine Art gigantischer Labortest, während die Einwohner der Hauptstadt in der Welt von The Hunger Games ein Luxusleben auf Kosten der übrigen Bezirke führen.

Wie im klassischen Coming-of-Age-Plot geht es darum, dass sich der rebellierende Teenager nicht mit der Verlogenheit der Erwachsenenwelt arrangieren will. Da der Einsatz, mit dem in der Young Adult Dystopia gespielt wird, aber beträchtlich höher ist, fallt auch die jugendliche Rebellion um einiges drastischer aus. Ein bisschen Kiffen oder Schulschwänzen reicht hier nicht mehr, um Opposition zu markieren. Es muss gleich eine ausgewachsene Revolution sein.

So aufrührerisch sich die Filme geben mögen – eine halbwegs konsistente politische Botschaft hat keiner von ihnen zu bieten. Man rebelliert gegen das System, dieses bleibt aber höchst diffus. Irgendwie totalitär, irgendwie anonym, künstlich und lebensfeindlich mit viel Beton, Glas und manipulierten Medien. Konkreter wird es selten.

Puritanische Rebellen

Noch frappanter als die im Grunde apolitische Haltung ist aber die Keuschheit des Genres. Es darf kräftig gemordet werden, Sex ist dagegen tabu. Natürlich kommt hier die bekannte US-Prüderie zum Tragen, die bei Filmen für ein jugendliches Publikum besonders restriktiv wirkt. Dennoch ist die Verklemmtheit hochgradig absurd, wenn man bedenkt, welch zentrale Rolle dem Triebleben sowohl in der Dystopie wie auch in der Coming-of-Age-Geschichte normalerweise zukommt. Oft sind es in der Dystopie gesellschaftlich nicht sanktionierte Formen der Sexualität, durch die sich der bisher angepasste Protagonist seiner Individualität bewusst wird und die ihn in Opposition zur bestehenden Ordnung bringen. Und was ist für die Adoleszenz grundlegender als die Verunsicherung angesichts des heranreifenden Körpers?

Doch davon wissen die Young Adult Dystopias nichts zu erzählen. Die Probleme ihrer jugendlichen Figuren spielen sich alle in der oberen Körperhälfte ab. Die Frage, wie die eingesperrten Jugendlieben von The Maze Runner, die alle voll im pubertären Saft stehen, mit ihren Trieben umgehen, wird nicht einmal angedeutet. Selbst als ein Mädchen zu der bis dahin reinen Männergesellschaft stößt, sind körperliche Begierden kein Thema. Obwohl die Ankunft Teresas für Aufruhr sorgt, scheint niemand an Sex zu denken.

Man könnte argumentieren, dass diese Verklemmtheit nicht ganz so neu ist, denn bei genauerer Betrachtung erweisen sich viele Dystopien als tendenziell konservativ. Die Alternative zum kommenden Schrecken liegt allzu oft in einer mythischen Vergangenheit, in einer Zeit, als alles noch so war, wie es sein soll. Das Genre warnt vor der Zukunft, wartet aber selten mit einem ernsthaften Gegenvorschlag auf. Nicht anders in der Young Adult Dystopia: Das Bild, mit dem die Hunger-Games-Reihe schließt, ist Katniss mit Mann und zwei Kindern auf einer sonnenüberfluteten Wiese. Am Ende der Revolution steht das traditionelle Familienidyll. Die Heldin hat sich nach heftigen Kämpfen in die bürgerliche Gesellschaft eingegliedert, der klassische Bildungsroman ist damit zu seinem Abschluss gekommen.

The Hunger Games: Mockingjay – Part 2

In The Hunger Games: Mockingjay – Part 2 endet die Rebellion im Familienidyll.

War die Utopie je utopisch?

It has become easier to imagine the end of the world than the end of capitalism.

Dieses Zitat von Fredric Jameson scheint derzeit den allgemeinen Ton an Tagungen zu SF und Utopie zu setzen.[ref]Obwohl Jameson in der Regel als Urheber des Ausspruchs angegeben wird, konnte ich keine eindeutige Quelle ausmachen. In einem Artikel für die New Left Review schreibt Jameson selbst «Someone once said that …». Das Zitat scheint somit älter.[/ref] Die Diagnose ist düster: Die Welt ist in einem schrecklichen Zustand und ein entfesselter Kapitalismus verhindert nicht nur, dass es besser wird, sondern hat alle Bereiche des Lebens – inklusive dem, was überhaupt noch denkbar ist – derart umfassend durchdrungen, dass wir schlicht nicht mehr in der Lage sind, uns eine andere Welt vorzustellen. Eine noch eher harmlose Folge dieser Misere ist der schon seit längerer Zeit zu beobachtende Boom an Dystopien und post-apokalyptischen Szenarien – primär, aber nicht nur im Kino. Es fehlt – so der allgemeine Tenor – an positiven Utopien, die uns hoffnungsvoll in die Zukunft blicken lassen.

Auch am 20. internationalen Bremer Symposium zum Film, an dem ich diesen Freitag eine Keynote halten durfte, grundierte diese resignative Einstellung viele Beiträge. Exemplarisch hierfür waren die beiden Keynotes von Vivian Sobchack und Sherryl Vint, zwei Koryphäen der amerikanischen US-Forschung, die zwar unterschiedlichen Generationen angehören, aber beide stark von Jameson beeinflusst sind und sich in der Einschätzung einig waren, dass die SF resp. die Utopie nicht mehr ist, was sie mal war.

Fredric Jameson

Fredric Jameson.

Wie ich bereits vor einiger Zeit in meinem Beitrag zur SF/F-Now-Konferenz geschrieben habe, bereitet mir diese pessimistische Sicht Mühe. Das mag zu einem gewissen Teil eine Temperament-Frage sein. Ich bin bei aller Skepsis betreffend der Gegenwart ein Optimist, was die langfristige Perspektive betrifft. Vielleicht ist das ein Ausdruck von Naivität, aber im Grunde kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie man ohne eine positive Sicht auf die Zukunft vernünftig leben kann.

Kommt hinzu, dass ich die Gegenwart bei allen Mängeln, die es zweifellos gibt, nicht als grundsätzlich negativ empfinde. Natürlich liegt weltweit manches im Argen, und im Vergleich zu dem, was viele Menschen täglich erleiden müssen, lebe ich auf einer Insel der Glückseligen. Für mich stellt sich aber die Frage, ob es je wirklich besser war und ob die Zuversicht früherer Generationen nicht zu einem beträchtlichen Teil auf seligem Nichtwissen beruhte. Wahrscheinlich blickte man in den 1950er und 1960er Jahren tatsächlich optimistischer in Zukunft, aber inwieweit war das u.a. eine Folge davon, dass man gerade eine schreckliche Zeit hinter sich hatte? War es damals denn wirklich so viel besser als heute? Seien es Rechte von Frauen oder von Minderheiten, der Kalte Krieg, mangelndes ökologisches Bewusstsein, gesellschaftliche Enge etc. etc. – ich bin auf jeden Fall froh, dass ich heute und nicht vor 50 Jahren lebe. Zweifellos wird noch immer Raubbau an der Natur betrieben, gibt es Kriege und Unrecht, aber ist nicht bereits die blosse Tatsache ein grosser Fortschritt, dass es mittlerweile unzählige NGOs gibt, die gegen solche Missstände ankämpfen, dass Umweltschutz-Richtlinien zur Selbstverständlichkeit geworden sind, dass für diese Probleme überhaupt ein Bewusstsein existiert? Ich möchte hier keineswegs unkritisch den Status quo verteidigen, aber es scheint mir keineswegs ausgemacht, dass es der Menschheit heute insgesamt schlechter geht als vor 20, 50 oder 100 Jahren.

Und was ist mit den Utopien, den angeblich fehlenden positiven Entwürfen? Es gibt heute auf jeden Fall mehr Dystopien als zu früheren Zeiten. Aber allzu viele SF-Filme, die eine rundum positive Zukunft entwerfen, gab es auch vor 20 oder 40 Jahren nicht (andernfalls wäre mein Forschungsprojekt überflüssig). Je länger ich mit der Utopie beschäftige, desto mehr scheint mir zudem, dass dieses Genre oft falsch verstanden wird. Denn in ihrem Kern ist die Utopie zuerst und vor allem eine Kritik an der Gegenwart. Sie ist ein Gegenbild, das aktuelle Missstände aufgreift und diesen eine Alternative entgegenhält. Zweifellos gibt es utopische Entwürfe, die ernst gemeint sind, die tatsächlich Idealbilder ihrer Autoren darstellen. Diese Form der Utopie ist aber nicht die einzige, und ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob sie über die Geschichte des Genres hinweg gesehen die dominante bildet. Zumindest der morussche Urtext ist eindeutig nicht als Anleitung für eine neue Gesellschaftsordnung gedacht. Und dies dürfte insgesamt wohl für die meisten der intelligenteren Utopien gelten. H. G. Wells etwa, der zahlreiche utopische Entwürfe verfasst hat, schreibt in seinem diesbezüglich programmatischen Pamphlet The Open Conspiracy explizit, dass er nicht darauf aus sei, einen definitiven Endzustand zu skizzieren. Vielmehr gehe es darum – und hier steht Wells den ihm ansonsten verhassten Marxisten erstaunlich nahe –, einen Prozess anzustossen, dessen Ausgang nicht absehbar ist. William Morris wiederum beschreibt in News from Nowhere zwar durchaus eine Welt, die in vielen Dingen seine Vorlieben widerspiegelt. Aber auch ihm dürfte klar gewesen sein, dass sein anarchistischer Wunschtraum in dieser Form kaum realisierbar ist.

Vegetal City

Wo sind die positiven Utopien geblieben – die Vegetal City von Luc Schuiten

Wie ich schon früher geschrieben habe, kann man das Fehlen rundum positiver Utopien zudem als quasi natürliche Folge der Evolution und Ausdifferenzierung des Genres verstehen. Gewisse Formen verbrauchen sich und werden durch neue Varianten ersetzt. Auf die klassische Utopie folgen die Dystopie, die kritische Utopie und schliesslich hoch reflektierte und mehrfach gebrochene Formen wie etwa die Romane Kim Stanley Robinsons. So verstanden kann man das Fehlen positiver Utopien auch als einen Reife- und Lern-Prozess verstehen. An die Stelle von naiven Totalentwürfen, welche auf der Basis einer Tabula rasa alles neu aufbauen wollen, treten Varianten, welche der Komplexität der Gegenwart Rechnung tragen.

Zum Schluss noch ein ketzerischer Gedanke: Wenn die klassische Utopie primär eine Kritik der jeweiligen Gegenwart darstellt, könnte das Fehlen positiver Entwürfe ja ein Anzeichen dafür sein, dass wir mit dem aktuellen System trotz allem gar nicht so unzufrieden sind. – Für Jameson wäre diese Sicht wohl bloss ein weiterer Beleg für unsere Unfähigkeit, eine Alternative zum Kapitalismus zu denken.

Literatur

Wells, H. G.: The Open Conspiracy. Blue Prints For a World Revolution. London 1928.

Morris, William: «News from Nowhere» (1890). In: Ders.: News from Nowhere and Other Writings. Hg. von Clive Wilmer. London 1998, 41–228.

The Maze Runner als Utopie

Wie immer gilt ein genereller Spoilervorbehalt.[ref]Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie leidet, sollte die entsprechenden Einträge somit besser meiden.[/ref]

The Maze Runner ist zwar beileibe kein Meisterwerk, das die Zeit überdauern wird, der Film hat mich insgesamt aber positiv überrascht und war kurzweiliger und weniger kitschig, als ich es erwartet hatte (siehe meine Kritik). Zudem bot er in Sachen Utopie einige interessante Elemente.

Wes Balls Film erzählt von einem jungen Mann, der in einem Fahrstuhl zu sich kommt, welcher ihn zu einem von hohen Mauern eingeschlossenen Stück Grünfläche – der Glade – transportiert. Thomas, so der Name des Protagonisten, hat wie die anderen Bewohner der Glade, die ihn bereits erwarten, sein Gedächtnis verloren. Er weiss weder, wer oder was er vorher war, noch, wer ihn hierher gebracht hat. Wie wir bald erfahren, wird die Lichtung jeden Monat via Fahrstuhl mit Nahrungsmitteln und Utensilien versorgt. Zusammen mit dem Nachschub ist jeweils auch ein neuer Junge ohne Erinnerung mit dabei.

Als wäre das nicht bereits mysteriös genug, öffnet sich jeden Morgen eine Türe in der Wand, die den Weg in ein riesiges Labyrinth frei gibt. Dieses Labyrinth führt zu einem Ausgang – zumindest sind die Bewohner der Lichtung davon überzeugt, gefunden hat man ihn bislang noch nicht. Deshalb machen sich die sogenannten Runners jeden Tag auf, um das Labyrinth abzulaufen. In der Hoffnung, dereinst den sagenumwobenen Ausgang zu finden.

Das Leben der kleinen Gemeinschaft ist derweil gut organisiert. Jeder hat seine Aufgabe, es werden Nahrungsmittel angepflanzt und Unterkünfte gebaut, man isst und feiert gemeinsam. Im Grunde gar nicht so schlecht, wenn da nicht die grosse Ungewissheit wäre sowie die unheimlichen Geräusche, die des Nachts aus den Tiefen des Labyrinths widerhallen. Diese stammen von den Grievers, die sich später als eine Art riesenhafte Cyborg-Spinnen entpuppen werden.

Lord of the Flies in der Verfilmung von 1963

Lord of the Flies in der Verfilmung von 1963

Die Halbwüchsigen-Kolonie erinnert an William Goldings mehrfach verfilmten Roman Lord of the Flies (1954). Bei Golding stranden britische Jugendliche auf einer pazifischen Insel und errichten dort bald ein Terrorregime. Die pessimistische Botschaft des Romans: Der Mensch ist eine Bestie, und selbst bestens erzogene britische Jünglinge werden zu Ungeheuern, wenn die normalen gesellschaftlichen Normen wegfallen. Der Roman kann in diesem Sinne als eine Art Radikaldystopie verstanden werden: Es braucht gar keinen Big Brother oder eine übermächtige Partei, um ein Schreckensregime zu errichten. Die Protagonisten des Romans besorgen das alleine – notabene vor dem Hintergrund eines Südseeparadieses.

Verglichen mit Lord of the Flies erscheint The Maze Runner als regelrechte Utopie. Zwar deutet Alby, der unbestrittene Anführer an, dass es in der Vergangenheit nicht immer so friedlich zu und her ging, mittlerweile scheinen die Bewohner der Glade aber eingesehen zu haben, dass sie nur durch Kooperation weiterkommen. So gibt es zwar kleine Rivalitäten und Rangeleien, insgesamt funktioniert das Gemeinwesen aber recht gut. Und es finden sich die üblichen utopischen Elemente wieder. Da wäre einmal ein radikaler Neuanfang. Das unausgesprochene Problem der meisten Utopien ist bekanntlich, wie man mit all den Menschen verfahren soll, die noch im degenerierten vor-utopischen System aufgewachsen sind und denen die richtige utopische Gesinnung fehlt. Die Antwort von Maze Runner: Indem man auch hier Tabula rasa macht und jede Erinnerung an die Vergangenheit auslöscht. Darin zeigt sich auch die für Utopie und Dystopie gleichermassen typische Geschichtslosigkeit.[ref]Paradigmatisch hierfür ist Nineteen Eighty-Four, wo die regierende Partei laufend die Geschichtsschreibung an die Gegenwart anpasst. Aber auch Utopien interessieren sich nicht sonderlich für die Vergangenheit, denn diese ist bloss eine minderwertige Vorstufe der bestehenden Gesellschaft und deshalb für die Gegenwart kaum noch von Relevanz. Mit der Errichtung der Utopie kommt die Geschichte an ihr Ende; «and if for many of us Utopia is grasped as political fulfillment of history, we tend to overlook an ‹end of history› internal to the Utopian texts» (Fredric Jameson: Archaeologies of the Future: The Desire Called Utopia and Other Science Fictions. London/New York 2007, 186).[/ref]  Weitere altbekannte Details sind die zentrale Organisation und Güterverteilung (eine Gesellschaft ohne Geld!) sowie gemeinsame Speise- und Wohnbereiche.

Die utopische Ordnung der Glade ruht auf mehreren Pfeilern: Zum einen sorgt der Fahrstuhl für den Nachschub lebenswichtiger Güter. Die Jungen-Kolonie scheint stets so gut versorgt zu sein, dass kein Kampf ums Essen stattfinden muss, zugleich herrscht aber auch kein Überfluss, der dazu führen könnte, dass jemand mehr besitzt. Die unsichtbaren Herrscher über Fahrstuhl und Labyrinth sind hier ganz und gar utopische Herrscher, die dafür sorgen, dass alle echten Bedürfnisse befriedigt werden.

Unbestrittener Anführer der Gemeinschaft ist Alby, der als erster mit dem Fahrstuhl nach oben geschickt wurde und einen ganzen Monat alleine überleben musste. Obwohl Probleme in der Gruppe diskutiert werden, ist er es am Ende, der kraft seiner Seniorität beschliesst, was zu tun ist. Was die Gemeinschaft zusätzlich zusammenhält, ist die Hoffnung, dereinst aus dem Labyrinth zu finden.

Da eine funktionierende Jungen-Utopie kein Thema für ein Film wäre, werden diese drei stützenden  Faktoren im Laufe des Films nach und nach ausser Kraft gesetzt: Nach der Ankunft von Thomas kommt der Fahrstuhl nur noch einmal nach oben. Dieses Mal mit einer jungen Frau sowie der Nachricht, dass dies die letzte Lieferung war.[ref]Die Figur von Teresa offenbart eine prüde Schwachstelle des Films: Sex ist in dieser Welt kein Thema. Es wäre ja durchaus interessant, wie eine Gruppe Jugendlicher, die alle voll im pubertären Saft stehen, mit ihren Trieben umgeht. Das Thema wird aber nicht einmal angedeutet. Und obwohl die Ankunft Teresas für Aufruhr sorgt, sind körperliche Begierden auch hier kein Thema. Für einen Moment dachte ich ja, dass die Nachricht, dass mit Teresa die letzte Lieferung erfolgt sei, als Aufforderung zu verstehen sei, dass sich die Gemeinschaft nun selber fortpflanzen müsse. Aber da habe ich den Film offensichtlich überschätzt.[/ref]

Kurz darauf erfährt Thomas, den es natürlich ins Labyrinth zieht, dass die Runner den Irrgarten längst abgelaufen haben – ohne einen Ausgang zu finden. Die Hoffnung auf Flucht war somit umsonst. Und schliesslich stirbt Alby. Die Folge: Ein Streit um das weitere Vorgehen und schliesslich um die Führerschaft.

Die Szene, in der Alby Thomas offenbart, dass er und die Runner schon lange wissen, dass es keinen Ausweg aus dem Labyrinth gibt, erinnert an das Konzept der edlen Lüge bei Plato. In dessen Politeia bedient sich die herrschende Philosophenkaste bei verschiedenen Gelegenheiten der Lüge, um die Bürger zu lenken. So wird etwa Paaren vorgegaukelt, dass sie durch einen göttlicher Zufall zusammengeführt wurden, in Wirklichkeit wurden sie von den Herrschern nach Zuchtkriterien ausgewählt. Es gibt nach Plato Situationen, in denen der weise Herrscher das Volk belügen muss, um den richtigen Entscheid umsetzen zu können. Offensichtlich ist Alby ebenso der Meinung, dass er im Interesse der Gemeinschaft handelt, wenn er geheim hält, dass es keinen Ausweg gibt (dass Thomas dann doch einen Ausgang finden wird, versteht sich von selbst).

Gally will die bestehende Ordnung aufrecht erhalten

Gally will die bestehende Ordnung aufrecht erhalten

Alby scheint davon überzeugt, dass die Gemeinschaft ohne die Hoffnung auf Rettung nicht funktionieren kann, allzu viel Zeit wendet der Film für dieses moralische Dilemma allerdings nicht auf. Auch Gallys Motivation, der nach Albys Tod zum Gegenspieler Thomas’ wird, wird nicht gross ausgeleuchtet. Dabei ist dessen Handeln durchaus nachvollziehbar. Denn bis zu Thomas’ Ankunft war das Leben in der Glade ja ganz angenehm; Thomas aber scheint die Ordnung aus dem Gleichewicht zu bringen. Mit dem Ergebnis, dass die Grievers in der Nacht die Glade heimsuchen. Die klassische Utopie ist statisch und ihr natürlicher Feind ist der Utopist, der eine neue Ordnung herbeiführen will – in diesem Falle Thomas, dem es gelingt, einen Griever zu zerstören. Es ist nur konsequent, dass Gally, der an Albys Ordnung glaubt, auf dem Status quo beharrt.

Und tatsächlich behält Gally Recht: Die zerstörte Welt, welche die wenigen Überlebenden am Ende des Films betreten, scheint in jeder Hinsicht schlechter als die Oase der Glade. Aber wir können wohl davon ausgehen, dass am Ende der Trilogie dann doch ein bessere Welt auf die Labyrinthläufer warten wird.

«Snowpiercer»

Auf diesem Blog werde ich unter anderem regelmässig über aktuelle Kinofilme schreiben (zumindest ist das so geplant). Da es hier aber um Analysen und mehr oder weniger wilde Gedanken zu den jeweiligen Filmen und nicht um Kritiken im engeren Sinn gehen soll – dafür gibt es meine andere Website –, gilt ein genereller Spoilervorbehalt. Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie[ref]Definition gemäss Urban Dictionary: (n.) fear of coming across a spoiler. can be preceded with specific kind of spoilerphobia.[/ref] leidet, sollte die entsprechenden Einträge somit besser meiden.

Snowpiercer

Snowpiercer des Südkoreaners Bong Joon-ho ist ein gelungener Science-Fiction-Film (siehe meine Rezension ), der auch in Sachen Utopie/Dystopie von Interesse ist. Kurz zur Geschichte: Der Versuch, die Klimaerwärmung mittels Freisetzung eines Wirkstoffs in die Atmosphäre rückgängig zu machen, hat ein bisschen zu gut funktioniert. In der Folge ist die Erde zu einem unbewohnbaren Eisklotz geworden, die letzten Überlebenden sind in einem Zug versammelt, der in endloser Kreisfahrt die Erde umrundet. Für seine Bewohner ist der Zug die Welt, der Versuch, diese zu verlassen, endet tödlich.

Der Zug ist ein geschlossenes Ökosystem: Es gibt Wagen, in denen Pflanzen angebaut werden, ein Aquarium, in einem Wagen wird Wasser rezykliert etc. Die Anordnung des Zugs bringt auch eine soziale Hierarchie zum Ausdruck: Die Oberschicht, die «ticket-holders», führt in den vorderen Wagen ein Leben in Luxus mit Sushi-Bar, Schönheitssalons und Party-Location, während die Unterschicht im letzten Wagen zusammengepfercht ist und sich von Proteinriegeln (Soylent Green lässt grüssen) ernähren muss. Natürlich wollen sich die Bewohner des hintersten Wagens nicht mit ihrer Situation abfinden – es kommt zur unvermeidbaren Revolte.

Snowpiercer ist eine typische Dystopie: Es wird ein Schreckensregime in all seinen schaurigen Details gezeigt und die Geschichte eines Aufstands erzählt. Im Gegensatz zur Utopie, in der es keine Unzufriedenen gibt, hat die Dystopie durch ihre rebellierende Hauptfigur immer schon einen handlungstreibenden Konflikt.[ref]In der klassischen Dystopie – wenn man diesen Ausdruck verwenden will – gibt es eigentlich immer irgendeine Form von Rebellion gegen die herrschende Ordnung. Oft erkennt dabei ein ursprünglich perfekt angepasstes Mitglied der Gesellschaft die Schlechtigkeit des Systems. Diese Einsicht geht oft Hand in Hand mit einer Liebesgeschichte. Mittlerweile wurde aber auch dieses Muster wiederum variiert. Vladimir Sorokins Der Tag des Opritschniks wäre ein Beispiel für eine Dystopie, die ganz ohne Rebellion auskommt. Der Protagonist ist hier ein Scherge der menschenverachtenden Diktatur. Diese Figur würde in einer «normalen» Dystopie früher oder später an ihrem Tun zweifeln. Sorokins Held dagegen bleibt bis zum Schluss ein treuer Diener seiner Herren.[/ref] Dass Utopie und Dystopie dennoch nahe beieinander liegen, wurde schon vielfach festgestellt. Im Grunde reicht ein Unzufriedener, dem das jeweilige System nicht passt, um aus einer klassischen Utopie eine Dystopie zu machen. Es ist denn auch kein Zufall, dass die meisten klassischen Utopie der Frage ausweichen, was mit all jenen geschah, die ursprünglich gegen die Etablierung der utopischen Ordnung waren …

Auch in Snowpiercer ist die Nähe der beiden Formen präsent, denn für die meisten Reisenden stellt der Zug durchaus eine Utopie dar. Nicht nur ist er – zwangsläufig – von der Aussenwelt abgeschlossen und autark, für die «ticket-holders» gestaltet sich das Leben in dieser Welt zudem sehr angenehm. Ohnehin gibt es keine echte Alternative zum rettenden Zug. Aus Sicht der «ticket-holders» bringen die Rebellen die einzig vernünftige – da alternativlose – Ordnung durcheinander; ein Zerstören des Zugantriebs wäre für alle Insassen gleichermassen fatal.

Für die Aufrechterhaltung der utopischen Ordnung ist Erziehung zentral. Die Utopie ist auf utopische Bürger angewiesen, die einsehen, dass keine vernünftige Alternative zum jeweiligen System existiert. Und tatsächlich gibt es im Snowpiercer-Zug einen Schulwagen, in dem auch die witzigste Szene des Films spielt. Hier werden die Kinder der «ticket-holders» von klein auf gedrillt, um in dieser Welt richtig zu funktionieren. Wie wichtig der Zug ist, lernen die Kleinen dabei in eingängigen Kinderliedern:

Rumble rumble, rattle rattle …
It will never die!
What happens if the engine stops?
We will all freeze and die.

Wilford, der sagenhafte Erbauer und Lenker des Zugs, erscheint je nach Perspektive als weise Vaterfigur, der das Überleben der Menschheit sicherstellt, oder aber als tyrannischer Big Brother. Dabei lässt der Film die Frage lange offen, ob Wilford überhaupt noch lebt oder bloss eine Propaganda-Figur ist (ähnlich wie Orwells Big Brother, bei dem letztlich irrelevant ist, ob er je existiert hat). Wie sich am Ende aber herausstellt, lebt Wilford noch und ist zudem äusserst rührig. Die Rebellion kam für ihn keineswegs unerwartet, sondern wurde vielmehr von ihm eingefädelt. Er versorgt die Rebellen immer wieder mit Informationen, die ihnen das Vorwärtskommen im Zug überhaupt erst ermöglichen. Der Aufstand dient dabei einerseits dazu, die Population des Zugs zu dezimieren, andererseits will Wilford auf diese Weise seinen Nachfolger küren. Ausgerechnet Curtis, der zögerliche Anführer der Revolution, soll den Platz des alternden Wilford einnehmen.

Curtis durchläuft auf seinem Weg zur Zugspitze eine regelrechte utopische (Um-)Erziehung. Als sie sich schliesslich gegenüberstehen, hat er den Argumenten Wilfords wenig entgegen zu setzen; eine echte Alternative zum etablierten Zugsystem kann er nicht bieten. Freilich ist der Film dann doch nicht so bitterböse, dass er der wilfordschen Logik bis zum bitteren Ende folgen würde. Als Curtis entdeckt, was mit den beiden Jungen geschehen ist, die zu Beginn des Films entführt wurden — sie dienen als menschliche Ersatzteile für die alternde Zugmechanik —, siegt die menschliche Anteilnahme über die kalte utopische Rationalität. Die obligate grosse Schlussexplosion macht dem verhassten Zug dann endgültig den Garaus.

Beides — der Sieg der Menschlichkeit sowie der finale Kracher — sind Konventionen des Mainstreamkinos. Aus der Logik der Filmwelt heraus betrachtet erscheinen sie allerdings alles andere als zwingend. Ist es wirklich klug, den Zug zu zerstören und so das Überleben der Menschheit aufs Spiel zu setzen? Snowpiercer kann sich hier nur mit einem Deus ex machina behelfen: Obwohl zu Beginn wenige Minuten Aussentemperatur reichen, um einer Figur den Arm abzufrieren, hat sich die Erde am Ende so weit erwärmt, dass Leben im Freien wieder möglich ist.

Dass die utopisch-dystopische Dialektik trotz entsprechender Ansätze nicht voll zum Tragen kommt, liegt allerdings an einer anderen, gravierenderen Schwäche, auf die auch Abigail Nussbaum in ihrer lesenswerten Rezension (die meine eigene massgeblich inspiriert hat) hinweist: Für das Funktionieren des Ökosystems Zug ist der letzte Wagen vollkommen überflüssig. Wieder und wieder betonen die Vertreter der Obrigkeit zwar, dass das System Zug nur funktioniert, wenn jeder seinen vorgeschriebenen Platz einnimmt;[ref]Auch das ein utopischer Topos. Bereits Platons Politeia, einer der utopischen Urtexte, der für Morus einen massgeblichen Einfluss darstellte, entwirft ein rigides Klassensystem.[/ref]  andernfalls droht das labile Gleichgewicht zu kippen. Tatsächlich kann von einem Gleichgewicht aber nicht die Rede sein, denn der letzte Wagen erfüllt im Ökosystem Zug keinen sichtbaren Zweck. Die Unterschicht produziert nichts, trägt nichts zum Funktionieren des Zugs bei, ist im Grunde überflüssig.

Dabei wären Varianten, in denen der hinterste Wagen wirklich ein integraler Teil des Zugsystems ist, durchaus vorstellbar. Man denke etwa an H. G. Wells’ Klassiker The Time Machine (1895): In ferner Zukunft hat sich die Menschheit in zwei unterschiedliche Spezies ausdifferenziert, die in einer blutigen Symbiose leben. Über der Erde führen die kindlich unschuldigen, aber auch völlig degenerierten Elois ein sorgenfreies Leben. Die schrecklichen Morlocks im Untergrund dagegen halten die Maschinerie dieser Welt am Laufen. Grausame Pointe des Ganzen: Die Morlocks ernähren sich von den Elois. Der Preis, den die Elois für ihr Arkadien bezahlen, ist die ständige Gefahr, eines Tages verspeist zu werden. Aus der Perspektive der Morlocks erscheint das Arrangement dagegen bloss als eine Form von Viehzucht.

Eine analoge Konstellation in Snowpiercer hätte das utopisch/dystopische Dilemma noch verschärft. Mit den beiden Kindern, die einspringen müssen, als die Technik versagt, greift der Film eine ähnliche Idee auf – der letzte Wagen als menschliches Ersatzteillager. Auch das Thema Kannibalismus ist im Film präsent: Wie wir gegen Ende erfahren, assen sich die Bewohner des letzten Wagens gegenseitig auf, bevor sie mit Protein-Riegeln versorgt wurden. Die entsprechenden Ansätzen wären also vorhanden, sie werden aber nicht konsequent durchgespielt. Wirklich erstaunlich ist das nicht, denn wenn Vorder- und Hinterteil des Zugs im gleichen Masse voneinander abhängig wären wie Elois und Morlocks, wäre ein Aufstand von Anfang an sinnlos. Dann könnte dieser bestenfalls dazu führen, die Verhältnisse umzudrehen und die einstigen Herrscher ans Zugsende zu verbannen. Eine so pessimistische Vision ist von einer Hollywood-Produktion aber kaum zu erwarten.

Der Schuh des Anstosses

Ein Detail, das mir besonders aufgefallen ist, möchte ich hier noch erwähnen, obwohl es sich wahrscheinlich um einen reinen Zufall handelt. Relativ früh im Film wird Mason, die Satthalterin Wilfords (Tilda Swinton mit einer karikaturistischen Glanzleistung), vom Vater des einen entführten Jungen mit einem Schuh beworfen. Zur Strafe verliert er den Arm. Bevor das Urteil vollstreckt wird, muss er sich vor dem versammelten Wagen mit dem besagten Schuh auf dem Kopf anhören, dass er die natürliche Ordnung durcheinander gebracht hat (ich habe nur einen Screenshot gefunden, der die Umdrehung der Situation zeigt: Nachdem die Rebellen Mason gefangen genommen haben, muss nun sie mit dem Schuh auf dem Kopf posieren). Ein Schuh ist unten, der Kopf ist oben – «so it is». Wer diese Ordnung stört und den Schuh auf den Kopf stellt, muss bestraft werden.

snowpiercer

Der Schuh des Rebellen

In dieser Szene finden zwei ganz unterschiedliche Motive zusammen. Einerseits spielt sie natürlich auf den irakischen Journalisten Muntazer al-Zaidi an, der US-Präsident George W. Bush im Dezember 2008 mit Schuhen bewarf. Das Schuhwerfen ist seither zu einem ikonischen Bild des Protests geworden. Das Bild des Schuhs auf dem Kopf wiederum findet sich in Tommaso Campanellas Civitas solis, dt. Der Sonnenstaat (verfasst 1602, veröffentlicht 1623). Campanellas utopischer Entwurf ist einer der frühesten Texte, die direkt auf Morus’ Utopia reagieren, eine wilde Mischung aus Theokratie, Kommunismus sowie protofaschistischenen Elementen und ein typisches Beispiel für eine Utopie, in der kein vernünftiger Mensch leben will. Für unsere Zwecke ist die Passage interessant, in der beschrieben wird, was mit Männern geschieht, die sich der Sodomie, sprich: der Homosexualität, hingeben:

Wer bei Sodomie ertappt wird, wird gerügt und muss zur Strafe zwei Tage lang die Schuhe um den Hals gebunden tragen Zum Zeichen, dass er die Ordnung verkehrt und den Fuss auf den Kopf gestellt hat.[ref]Tommaso Campanella: Sonnenstaat. In: Klaus J. Heinisch (Hg.): Der utopische Staat. 26. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, 111–172, hier: 131. Im Wiederholungsfall erwartet den Sodomiten übrigens die Todesstrafe.[/ref]

Wie gesagt: Wahrscheinlich reiner Zufall; ich glaube nicht, dass Bong und sein Team Campanella kannten und bewusst Bezug auf diesen nehmen. Ich finde es aber interessant, wie hier zwei ganz unterschiedliche Motive miteinander verschmelzen und wie der Schuh auf dem Kopf resp. um den Hals in beiden Fällen als Symbol einer frevlerisch verkehrten Ordnung fungiert.