Utopia Is Televised

In der Utopieforschung gehört es zu den Standard-Wendungen, darauf zu beharren, dass die Utopie entgegen anders lautenden Behauptungen alles andere als tot sei. Und tatsächlich: Vielleicht liegt es ja nur an meiner erhöhten Sensibilität für das Thema, aber mir scheint, dass keine Woche vergeht, in der ich nicht über einen Feuilleton-Artikel, eine Ausstellung oder sonst eine Veranstaltung stolpere, in der es um Utopien geht. Und als hätte es noch der Bestätigung bedurft, dass die Utopie allgegenwärtig ist, hat Thomas Morus’ altehrwürdige Gattung nun auch noch die Niederungen des Reality-TVs erreicht.

Das Newtopia-Logo

Wenn das Thomas Morus wüsste …

Newtopia, das seit Anfang dieser Woche auf Sat.1 läuft, ist ein Format der Firma Endemol, mit Big Brother für die Mutter aller Reality-TV-Formate zuständig (Bruder – Mutter, ist das nun ein besonders cleveres oder ein besonders doofes Wortspiel?).[ref]Newtopiaist bereits der dritte Aufguss der Sendung. Das holländische Original läuft anscheinend nach wie vor mit großem Erfolg. Die US-amerikanische Version von Fox, die wie das Original noch Utopia hieß, wurde nach anfänglichem großem Tamtam bereits nach wenigen Folgen eingestellt.[/ref] Newtopia ist der Versuch, dieses nicht mehr ganz taufrische Sendungkonzept mit neuen Ingredienzen wieder attraktiv zu machen. Zu diesem Zwecke werden 15 Freiwillige ein Jahr lang auf ein abgetrenntes Gelände verbannt, das mit rudimentärster Infrastruktur – ein Stall, zwei Kühe, ein paar Hühner, ein Teich, Ackerland, Mobiltelefon, 5000 Euro – ausgerüstet ist. Einziger Hightech: Es hat überall Kameras. Was das Grüppchen daraus macht, wie sie sich organisieren, ist ihre Sache – «Totales oder Glück oder totales Chaos», wie es zu Beginn der ersten Folge so schön heisst.

Der utopische Gehalt der Joggingschuhe

Natürlich liegt der Reiz von Newtopia wie bei anderen Reality-TV-Formaten auch primär im Zwischenmenschlichen. Hinter der Auswahl der Kandidaten steht einiges Kalkül; gewisse Fähigkeiten müssen abgedeckt sein, deshalb gehören unter anderem ein Landwirt, ein Koch und ein Handwerker zur Truppe. Ebenso klar ist aber, dass gewisse Leute nur mit dabei sind, weil sie für Reibereien sorgen werden. So etwa der 44-jährige Candy – ausgesprochen «Sandy» –, der sich selbst zwar als Politikwissenschaftler bezeichnet, der aber mehr wie eine Mischung aus faulem Althippie und asozialem Penner wirkt. Oder die Studentin Karolina, die zum Auftakt gleich verkündet, dass sie es nicht zulassen wird, dass in Newtopia Tiere geschlachtet werden. Der Konflikt mit Bauer Christian scheint vorprogrammiert. Und dann dürfen natürlich auch Leute vom Schlag eines Hans – Modell, Fotograf und Fitness-Trainer – nicht fehlen, die durch sagenhaft dumme Statements auffallen. Im Falle von Hans die Aussage, dass er vor allem anderen einen Trainingsanzug und Joggingschuhe brauche (logisch: Ist eine bessere Gesellschaft ohne fachkundig durchgeführte körperliche Ertüchtigung denkbar?). Soweit als das bekannte Prinzip: Als Zuschauer lehnt man sich bei Nüsschen und Bier zurück und mokiert sich über die Beschränktheit der Newtopier.

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Candy, der arbeitsscheue Politologe

Zwar geht es in Newtopia vorderhand um den Aufbau einer neuen Gesellschaft, da dies aber wohl nicht interessant genug ist, hat man alle möglichen Schikanen eingebaut. So wird jeden Monat ein Pionier durch das Publikum abgewählt und mit einem neuen ersetzt, was sehr deutlich zeigt, dass typische Gameshow-Aspekte letztlich wichtiger sind als der Aufbau einer neuen Gesellschaft. Zudem ist die Anlage weder mit Strom oder Wasser verbunden – beides müssen die Pioniere, wie sie offiziell heissen, selbst besorgen. Auch sonst gibt es allerhand Beschränkungen, die nicht aus der Anlage des Experiments – so die Selbstzeichnung – folgen, sondern einzig dramaturgische Gründe haben. Beispielsweise das erste Treffen vor Ort, wo den Pionieren eröffnet wird, das sie noch einmal nach Hause gehen dürfen, um lebenswichtige Dinge einzupacken. Der Haken: Um sich abzusprechen haben sie lediglich eine halbe Stunde Zeit, für die eigentliche Packaktion dann nur noch 15 Minuten,. Zudem darf jeder nur so viel mitnehmen, wie in eine nicht allzu große Kiste passt. Man würde ja meinen, dass für die Gründung einer neuen Gesellschaft etwas mehr Vorarbeit und Absprache nötig wäre, aber mit klaren Deadlines erzeugt nun mal mehr fernsehtaugliche Dramatik.

Sieht man mal über die offensichtliche Idiotie des Settings hinweg und betrachtet das Ganze mit dem Wissen über die Geschichte der Utopie im Hinterkopf, zeigen sich dennoch ein paar interessante Dinge. Da wären einmal die typischen Phrasen: «Ich träume von einer besseren Welt.» – «Es gibt eine bessere Welt als die  draussen». Und so weiter. Ernst Bloch wird’s freuen: Der utopische Impetus ist lebendig.

Utopie im Aufbau

Newtopia zeigt eine Phase, die in den literarischen Utopien typischerweise fehlt, nämlich die des Aufbaus. Normalerweise sind die utopischen Staaten bereits fertig und voll funktionsfähig – wie sie zustande gekommen sind, bleibt unklar. Newtopia ist diesbezüglich durchaus instruktiv, weil sich bereits hier das Grundproblem der klassischen Utopie zeigt: Die Ansichten über die ideale Gesellschaftsform gehen auseinander, und das eigentliche Problem liegt darin, hier einen Konsens zu erreichen.

Kriegsrat in Newtopia

Die Pioniere beim «Demokratie-Scheiß-Gelaber».

Sehr schön in diesem Zusammenhang eine der ersten Gruppensitzungen in der zweiten Folge: Eigentlich sollen praktische Dinge besprochen werden, aber sogleich landen einige Pioniere bei grundsätzlichen Fragen: Was für ein System haben wir eigentlich? Wird demokratisch abgestimmt, gibt es Hierarchien, Führungspositionen? Und soll man solche Fragen gleich zu Beginn diskutieren, weil aus ihnen alles andere folgt, oder wäre es nicht besser, sich mal aufs nackte Überleben zu konzentrieren und derartige Luxusprobleme später anzugehen. Ebenfalls sehr schön die Reaktion von Jogging-Enthusiast Hans: Nach kurzer Zeit hat er genug und läuft davon – «Ihr habt die Diskussion kaputt gemacht mit Eurem Demokratie-Scheiss-Gelaber». Ein bisschen mehr Debattierfreude ist wohl nötig, wenn man eine neue Gesellschaft errichten will.

Was ebenfalls schnell klar wird: Die Rahmenbedingungen sind so gesetzt, dass der effektive Gestaltungsspielraum für die Newtopier sehr eingeschränkt ist. Da die Ressourcen knapp sind, wird es nicht ohne Handel mit der Außenwelt gehen. Dazu braucht es Geld und dieses kriegt man nur mit Geschäftsideen. Mit anderen Worten: Eine echte Alternative zu einem kapitalistischen System haben die Pioniere gar nicht. Als autarke, von der Umwelt weitgehend abgetrennte Inseln umgehen die klassischen Utopien dieses Problem, Newtopia dagegen ist so konzipiert, dass es nicht selbstversorgend ist.

Zumindest zwei Pionieren ist dieses Problem durchaus bewusst. Sowohl der verpennte Candy als auch der äußerst rührige Steffen (Beruf: Hartz-IV-Empfänger) fragen immer wieder, ob es denn wirklich darum gehen kann, die Werte von «draußen» zu reproduzieren, oder ob eine neue Gesellschaft nicht auch neue Werte braucht. Auch damit sind wir wieder bei einem Grundproblem jeder Utopie.

Anders als die US-Version wird Newtopia täglich ausgestrahlt. Mal schauen, wie lange ich am Ball bleibe.

«Demand the Impossible»

In der neuen Ausgabe der SFRA Review ist eine Rezension von mir zu Tom Moylans Demand the Impossible: Science Fiction and the Utopian Imagination enthalten, das vergangenes Jahr in der Reihe Ralahine Utopian Studies neu aufgelegt wurde. Moylans 1986 erstmals erschienenes Buch, von dem 1990 auch eine deutsche Übersetzung veröffentlicht wurde,[ref]Moylan, Tom: Das Unmögliche verlangen: Science-fiction als kritische Utopie. Hamburg/Berlin: Argument 1990.[/ref] gehört mittlerweile zu den Klassikern der Utopieforschung und das darin entwickelte Konzept der kritischen Utopie ist fester Teil des wissenschaftlichen Vokabulars geworden. Obwohl mir Moylans Überlegungen schon in diversen anderen Texten begegnet sind, muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich das Buch bisher nicht gelesen hatte. Die Neuauflage war somit ein guter Anlass, diese Bildungslücke zu schließen.

Das Cover von «Demand the Impossible»Ich möchte hier nicht die ganze Rezension wiederholen, deshalb nur kurz: Moylan untersucht in Demand the Impossible vier in den 1970er Jahren erschienene (Science-Fiction-)Romane, nämlich Joanna Russ’ The Female Man, Ursula K. Le Guins The Dispossessed, Marge Piercys Woman on the Edge of Time und Samuel R. Delanys Triton. Was diese Bücher verbindet, ist, dass sie in Moylans Augen die utopische Tradition weiterführen und transformieren. Nachdem die klassische – statische – Utopie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in eine Krise geraten ist, werden utopische Totalentwürfe spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich verdächtig. Die Idee einer umfassenden Neuen Weltordnung hat zu diesem Zeitpunkt viel von ihrer Attraktivität verloren. Hier haken die Romane ein, indem sie keine abgeschlossenen Baupläne mehr präsentieren, sondern vielmehr dynamische Szenarien entwerfen, die zudem innerhalb des Romans kritisch hinterfragt werden. Die Utopie kritisiert nicht mehr nur die Gegenwart, vielmehr wird sich die Gattung ihrer eigenen Beschränkungen und Probleme bewusst und setzt sich mit diesen auseinander; in Moylans Worten – der meistzitierten Passage des Buchs – klingt das so:

[a] central concern in the critical utopia is the awareness of the limitations of the utopian tradition, so that these texts reject utopia as blueprint while preserving it as a dream (10).

Das Konzept der critical utopia ist heute fester Bestandteil der “offiziellen” Gattungsgeschichte und wurde mittlerweile um weitere Varianten ergänzt. Moylan selbst hat in Scraps Of The Untainted Sky (2000) den Begriff der critical dystopia hinzugefügt.

Ein Grund, weshalb ich bislang einen Bogen um Moylans Buch gemacht habe, war, dass ich einen Jargon-Exzess befürchtete. Wissenschaftliche Klassiker zeichnen sich ja nicht selten durch Unverständlichkeit aus, und gerade bei einem in den 1970er Jahren entstandenen Buch – obwohl Demand the Impossible 1986 erschien, ist es, wie Moylan selbst schreibt, ein Kinder der 1970er – ist marxistisch-kritisches Geschwurbel leider keine Seltenheit. Umso größer meine Freude, dass sich das Buch als erstaunlich gut lesbar entpuppte. Insbesondere Moylans Ausführungen zur klassischen Utopie sind erfreulich kompakt und klar; inhaltlich lässt sich ebenfalls kaum etwas aussetzen. Was Moylan hier schreibt, hat auch knapp 30 Jahre später noch Gültigkeit.

Das Cover von «The Dispossessed»Da ich von den untersuchten Romanen einzig den Le Guins kenne – an The Female Man bin ich beim ersten Versuch gescheitert, vor Triton habe ich Angst –, kann ich nicht allzu viel zu den eigentlichen Analysen sagen. Grundsätzlich scheinen diese aber sehr konzise. Wie ich in der Rezension schreibe, ist es interessant, dass mit The Dispossessed das zweifellos erfolgreichste der vier besprochenen Bücher die härteste Kritik einstecken muss. Inwieweit diese begründet ist, darüber kann man wohl streiten.

Die Neuauflage kommt mit über hundert Seiten neuem Material daher. Davon ist nicht alles gleich aufschlussreich. Die Idee, dass Kollegen Moylans etwas zu seinem Buch schreiben, ist zwar nett, nicht alle der Beiträge tragen aber wirklich zu neuen Erkenntnissen bei. Vermisst habe ich einen Blick nach vorne: Was ist in den folgenden Jahrzehnten aus der kritischen Utopie geworden, wo steht die Gattung heute? Dazu findet man leider wenig. Man kann dies damit erklären, dass sich Moylan in seinen  späteren Büchern genau diesen Fragen widmet, ein paar Ausblicke wären aber dennoch angebracht gewesen. Denn dass die Idee der kritischen Utopie weiterentwickelt wurde, scheint mir offensichtlich. Kim Stanley Robinsons Mars-Romane etwa stehen eindeutig in dieser Tradition.

Trotz dieser Kritik ist das Fazit eindeutig positiv. Ein Klassiker, der diesen Titel zurecht trägt; ein Buch, das jeder, der sich mit der Utopie beschäftigt, gelesen haben sollte.

Ausgabe 311 der SFRA Review mit der besagten Rezension ist auf der Website der Zeitschrift erhältlich.

Literatur

Moylan, Tom: Demand the Impossible. Science Fiction and the Utopian Imagination. Hg. von Raffaella Baccolini. Oxford/Bern/Berlin 2014 (11986).
Moylan, Tom: Scraps of the Untainted Sky: Science Fiction, Utopia, Dystopia. Boulder 2000.