Neue Rezension von «Utopias in Nonfiction Film»

Der Filmwissenschaftler Florian Mundhenke, dessen Studie Zwischen Dokumentar- und Spielfilm für mich eine wichtige Referenz darstellt, hat Utopias in Nonfiction Film für das geisteswissenschaftliche Portal H-Soz-Kult besprochen. Mundhenke ist für dieses Thema ein schon fast idealer Rezensent, da er sich nicht nur intensiv mit hybriden Formen zwischen Fiktion und Nichtfiktion (s. den erwähnten Buchtitel), sondern auch mit Science Fiction und verwandten Formen beschäftigt. Seine Rezension zeugt denn auch von seiner Kompetenz. Zwar bringt er sehr wohl einige Kritikpunkte an, insgesamt fällt das Fazit aber eindeutig positiv aus:

Die Hinführung zum Thema im dichten theoretischen Teil ist vorbildlich gestaltet. […] Das Buch kann allen an der Utopie Interessierten unbedingt empfohlen werden. Die sehr gut lesbare, überaus gelungene englische Übersetzung ermöglicht es den Studien des Autors hoffentlich, auch international anschlussfähig zu werden.

Hier noch der obligate Hinweis, dass die deutsche Version Bilder einer besseren Welt gratis als Open Access verfügbar ist.

Zur vollständigen Rezension.

Mundhenke, Florian: Zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Zur Repräsentation und Rezeption von Hybrid-Formen. Wiesbaden: Springer VS 2017.

Neu erschienen: «Das Science Fiction Jahr 2022»

Das Science Fiction Jahr (nur richtig ohne Durchkoppelung), 1986 erstmals bei Heyne erschienen, mittlerweile beim Hirnkost Verlag, ist innerhalb der deutschsprachigen SF-Szene eine Institution. Während Jahren war das Jahrbuch eine der wenigen Publikationen, in denen man regelmässig anspruchsvolle deutschsprachige Texte zur SF lesen konnte. Mittlerweile hat der Almanach dieses Alleinstellungsmerkmal zwar weitgehend eingebüsst, nach wie vor ist lohnt sich aber die Lektüre des Bandes.

Ich gehöre mittlerweile zu den Halb-Stammautoren und veröffentliche immer mal wieder was im SF-Jahr. So auch heuer. Das Thema ist dieses Mal ziemlich eher exotisch, passt aber gut zum thematischen Schwerpunkt, der sich der Besiedelung des Alls widmet. In meinem Beitrag stelle ich den Kurzfilm Libra vor, von dem hier bereits früher die Rede war. Libra ist eine weitgehend unbekannte Produktion aus dem Jahre 1978, eine seltsame Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm, in dessen Zentrum die titelgebende Raumstation Libra steht. In einer Zukunft, in der die Erde an Überregulierung zu ersticken droht, stellt dieses von privaten Unternehmern finanzierte technische Wunderwerk die letzte Bastion der Freiheit dar.

Der Film von Regisseurin Patty Newman (die vorher und nachher nie mehr einen Film drehte) ist eine ausgesprochene Merkwürdigkeit, die angesichts der jüngsten Weltraum-Extravaganzen der Herren Musk, Bezos und Branson aber auf einen Schlag erstaunliche Aktualität erhalten hat. Mein Artikel ist eine Spurensuche, bei der ich versuche, den Kontext zu rekonstruieren, in dem der Film entstanden ist.

Obwohl kaum Literatur zu Libra existiert, und selbst Quellen, dass der Film überhaupt gesehen wurde, rar sind, ist er seit einiger Zeit auf YouTube verfügbar.

Edit: Der Artikel ist online als PDF verfügbar.

Spiegel, Simon: «Unternehmer im Weltall. Die Vision des Kurzfilms Libra»». In: Wylutzki, Melanie/Kettlitz, Hardy (Hg.): Das Science Fiction Jahr 2022. Berlin: Hirnkost 2022, 79–93.

Erschienen: «The Routledge Handbook of Star Trek»

Die Menschheit teilt sich bekanntlich in zwei Gruppen – in Star-Trek– und Star-Wars-Liebhaber. Ich selber gehöre klar zur ersten Gruppe. Obwohl ich die meisten Star-Wars-Filme gesehen habe, hat mich dieses Franchise nie wirklich begeistern können. Captain Picard und Co. liegen mir da eindeutig näher. Allerdings bin ich weit davon entfernt, ein Star-Trek-Experte zu sein. Am besten kenne ich mich mit The Next Generation aus, die Original Series kenne ich nur bruchstückhaft, und alles, was nach Voyager erschienen ist, ist mir völlig unbekannt. Auch bei den Filmen tun sich bei mir grosse Lücken auf.

The Routledge Handbook of Star Trek

Das Buch

Im Zusammenhang mit meiner Forschung zu filmischen Utopien hatte ich allerdings mehrfach mit Star Trek zu tun. Wenn ich mit Kolleg:innen oder Bekannten über meine wissenschaftliche Arbeit spreche, wird die Serie regelmässig als Beispiel für eine Utopie genannt. Tatsächlich bin ich aber der Ansicht, dass Star Trek nur sehr bedingt als Utopie gelten kann.

Die Antwort auf die Frage, ob Star Trek zu den Utopien gezählt werden kann, hängt in erster Linie davon ab, wie man Utopie definiert. So ist Sebastian Stoppe, der eine Dissertation zum Thema geschrieben hat, der Ansicht, dass die Serie sehr wohl eine Utopie darstelle.[ref]Siehe dazu meine Rezension im Quarber Merkur.[/ref] Zweifellos ist in der Welt der Serie vieles besser als in der unsrigen: Dank Replikatoren erfreuen sich ihre Bewohner:innen einer Überflusswirtschaft. Im Grunde muss niemand Hunger leiden, (fast) alles kann synthetisiert werden, und obwohl die Welt nicht konfliktfrei ist, herrscht innerhalb des Gebiets der Federation doch weitgehend Frieden. In einem sehr allgemeinen Sinn kann Star Trek deshalb zweifellos als utopisch bezeichnet werden. In meiner Forschung gehe ich allerdings von einem deutlich enger gefassten Utopiebegriff aus, für den einerseits die Ausführlichkeit des Gesellschaftsentwurfs und andererseits die Kritik an der jeweiligen Gegenwart zentral sind. Indem die Utopie einen detaillierten Gegenentwurf zur misslichen Gegenwart präsentiert, übt sie immer auch Kritik an dieser. Diese beiden Aspekte sind bei Star Trek bestenfalls im Ansatz gegeben. Nicht nur erfahren wir kaum etwas darüber, wie die Federation organisiert ist, die Kritik an den aktuellen Verhältnissen bleibt meist sehr allgemein.

Im Grunde ist Star Trek eine sehr unpolitische Utopie, denn die Lösung der gesellschaftlichen Probleme liegt nicht in politischen oder wirtschaftlichen Veränderungen, sondern beruht in erster Linie auf dem Wunder der Replikatorentechnologie. Nicht nur das – in verschiedenen Folgen, insbesondere in The Original Series, zeigt sich Star Trek sogar ausgesprochen utopiefeindlich. Als die Crew der Enterprise in This Side of Paradise (TOS S01E25) durch die Sporen einer mysteriösen Pflanze völlige Zufriedenheit erlangen, setzt Kirk beispielsweise alles daran, um diesem Zustand ein Ende zu setzen. Seine Begründung: «We weren’t meant for that, non of us. Man stagnates if he has no ambition, no desire to be more than he is.» – Die Utopie ist, mit anderen Worten, ein unnatürlicher Zustand.

Ich habe diese Überlegungen bereits schon an verschiedenen Stellen – unter anderem in meiner Habil – kurz skizziert, aber nie ausführlich dargelegt. Umso grösser war meine Freude, als die Herausgeber:innen des Routledge Handbook of Star Trek mich für einen Beitrag zu den utopischen Qualitäten von Star Trek anfragten. Nun liegt das gewichtige Werk vor, und ich bin sehr stolz, dass ich es als Star-Trek-Dilettant in diese illustre Runde geschafft habe.

The Other Side of Paradise

Ein glücklicher Spock in der TOS-Folge The Other Side of Paradise

Erwähnte Werke

Stoppe, Sebastian: Unterwegs zu neuen Welten. Star Trek als politische Utopie. Darmstadt: büchner 2014.

Spiegel, Simon: Bilder einer besseren Welt. Die Utopie im nichtfiktionalen Film. Marburg: Schüren 2019.

Spiegel, Simon: «Utopia». In: Mittermeier, Sabrina/Rabitsch, Stefan/Garcia-Siino, Leimar (Hg.): The Routledge Handbook of Star Trek. London/New York: Routledge 2022, 467–475.

Erschienen: Utopias in Nonfiction Film

Es war ein langer und teilweise sehr mühsamer Weg, aber es ist vollbracht: Utopias in Nonfiction Film, die englische Übersetzung von Bilder einer besseren Welt ist nun bei Palgrave Macmillan erschienen.

Inhaltlich entspricht die englische Fassung weitgehend der deutschen; da angelsächsische Verlage aber dicke Bücher mit viel Theorie nicht mögen, musste ich insbesondere im Theorieteil einige Kürzungen vornehmen. Obwohl einige Passagen rausgeflogen sind, auf die ich eigentlich sehr stolz bin, glaube ich, dass die Kürzungen letztlich zu einem besseren Buch geführt haben. Aber dies sollen meine geschätzten Leser:innen entscheiden.

Eine Leseprobe gibt es hier, alles Details zum Buch hier.

Erschienen: Interview mit Yanis Varoufakis

Cover von «Another Now»

Another Now

Der Name Yanis Varoufakis dürfte den meisten ein Begriff sein: 2015 kämpfte der markante Glatzkopf als griechischer Finanzminister an vorderster Front gegen die von der EU verschrieben Austeritätspolitik. Seither ist Varoufakis medial zwar deutlich weniger präsent, untätig ist er aber nicht geblieben. Nicht nur hat er mittlerweile seine eigene Partei gegründet, vergangenes Jahr ist zudem Another Now erschienen – Varoufakis’ Versuch, einen Alternative zum Kapitalismus zu entwerfen.

Natürlich war ich neugierig, wie die Utopie – denn eine solche ist Another Now, selbst wenn Varoufakis anderer Meinung ist – eines zeitgenössischen linken Politikers und Wirtschaftswissenschaftlers aussehen würde. Nach der Lektüre war mir klar, dass Varoufakis die utopische Tradition gut kennt. Weitere Recherchen förderten verschiedene Texte und Vorträge zutage, in denen er nicht nur auf die Klassiker der utopischen Literatur, sondern auch auf Science-Fiction-Filme und -Romane bezug nimmt. Schon bald reifte in mir die Idee, Varoufakis für die Zeitschrift für Fantastikforschung zu interviewen.

Zu meiner Überraschung und grossen Freude erwies sich dieses Vorhaben als relativ einfach. Kurz nachdem ich Varoufakis über seine Website angeschrieben hatte, meldete sich seine Assistentin bei mir und vereinbarte einen Termin. Wenige Wochen später war es dann soweit.

Und hier ist nun das Ergebnis.

Yanis Varoufakis

Yanis Varoufakis

Mit der DEFA in die Zukunft

In den Siebzigerjahren versuchte sich das staatliche Filmschaffen der DDR an der Produktion von Zukunftsfilmen. Erinnerung an ein vergessenes Kapitel ostdeutscher Filmgeschichte.

«Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.» – Bereits die erste Zeile der Nationalhymne der DDR markiert es deutlich: Dieser Staat hält sich nicht lange mit der katastrophalen deutschen Vergangenheit auf, sondern blickt zuversichtlich nach vorne, auf das lichte Morgen, das am Horizont bereits sichtbar wird. So ist es denn auch nur folgerichtig, dass die DEFA, die staatliche Filmproduktionsfirma der DDR, während eines Jahrzehnts eine Abteilung unterhielt, deren Aufgabe die Produktion von «Zukunftsfilmen» war.

Defa-futurum, die auf Weisung des Stellvertreters des Ministers für Kultur am 1. Juni 1971 ihre Arbeit aufnahm, war eine sogenannte künstlerische Arbeitsgruppe (AG). Die AGs stellten innerhalb der DEFA Pools von Regisseur*innen, Dramaturg*innen und technischem Personal dar, die für die Herstellung der Filme verantwortlich zeichneten. Leiter und treibende Kraft hinter defa-futurum war der Dokumentarfilmregisseur Joachim Hellwig. Hellwig, der heute nur noch intimen Kenner*innen des DDR-Kinos ein Begriff sein dürfte, war zu diesem Zeitpunkt ein etablierter Filmemacher mit hervorragenden Kontakten zur Spitze der SED, der in seinen Arbeiten stramm der Parteilinie folgte. In Filmen wie Ein Tagebuch für Anne Frank (1958) oder So macht man Kanzler (1961), die noch vor der Gründung von defa-futurum entstanden, war er stets darum bemüht, die BRD als direkte Weiterführung des NS-Regimes zu diskreditieren und die DDR auf diese Weise zum «besseren Deutschland» zu stilisieren. Dieser propagandistische Zug sollte zwar auch bei defa-futurum zum Tragen kommen, doch vorderhand hatte Hellwig mit seiner AG etwas Anderes vor. Was er mit dem Zukunftsfilm bezweckte, legte er ausführlich in einer gemeinsam mit dem Dramaturgen Claus Ritter verfassten Dissertation dar, die 1975 an der Karl-Marx-Universität Leipzig angenommen wurde. Dieses Werk mit dem wenig eingängigen Titel Erkenntnisse und Probleme, Methoden und Ergebnisse bei der künstlerischen Gestaltung sozialistischer Zukunftsvorstellungen im Film unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen der AG defa-futurum ist ein ungewöhnliches, aber sehr aufschlussreiches Dokument. Auf über 300 Seiten und in einer oft herrlich umständlichen Mischung aus Beamtendeutsch und geisteswissenschaftlichem Jargon entwickeln die Autoren das Konzept des sozialistischen Zukunftsfilms; sie liefern also die theoretische Grundlage dessen, was Hellwig mit defa-futurum filmisch umsetzen wollte.

Der populäre Fernsehmoderator Chris Wallasch führt durch Liebe 2002

Unerwünschte Utopien

Hellwig und Ritter kannten sich mit utopischer Literatur und Science-Fiction bestens aus. Insbesondere Ritter, von Haus aus Germanist, war ein Experte auf diesem Gebiet und veröffentlichte in den folgenden Jahren drei Monografien zur deutschen Science-Fiction. Was er und Hellwig in ihrer Dissertation beschreiben, ist im Grunde ein filmisches Gegenstück zur literarischen Utopie. Dass sie ihr Kind nicht beim Namen nennen, hat allerdings gute Gründe: Karl Marx und Friedrich Engels lehnten die Utopie, verstanden als detaillierte Beschreibung alternativer Gesellschaftsentwürfe, entschieden ab, denn ähnlich wie die Evolutionstheorie könne ihr Wissenschaftlicher Sozialismus, als seriöses wissenschaftliches Unterfangen, lediglich die Gesetzmässigkeiten des Geschichtsverlaufs darlegen, nicht aber dessen Ergebnis. Jeder Versuch, die (kommunistische) Zukunft zu beschreiben, sei unwissenschaftliche Fantasterei und somit strikt abzulehnen. Für defa-futurum kam hinzu, dass Utopien für ein totalitäres Regime wie das der DDR ohnehin ein Problem darstellen, denn eine Utopie fungiert immer als kritischer Gegenentwurf zur Realität, die somit defizitär erscheint. Offiziell waren aber im real existierenden Sozialismus die wesentlichen gesellschaftlichen Probleme bereits gelöst, die Utopie mithin schon realisiert. Kritische Gegenentwürfe waren somit nicht mehr nötig.

Der Zukunftsfilm sollte auch nicht mit Science Fiction westlichen Zuschnitts verwechselt werden, die Hellwig und Ritter als vulgäre reaktionäre Propaganda abtaten. Diese negative Einschätzung wird bereits in einer der frühesten defa-futurum-Produktionen, dem 1972 erschienenen Die Welt der Gespenster, sichtbar. Der sechsminütige Film besteht im Wesentlichen aus Aufnahmen von Titelbildern westdeutscher Science-Fiction-Hefte. Diese Publikationen, allen voran die noch heute fortgesetzte Perry-Rhodan-Reihe, stellen für Hellwig den Inbegriff degenerierter und kriegstreiberischer West-Science-Fiction dar.

Die Cover von Perry Rhodan und Co. in Die Welt der Gespenster

Der Zukunftsfilm als Gegenwartsfilm

Der forsche Voice-over-Kommentar macht es deutlich: Die grellbunten Monster, Roboter und muskelbepackten Weltraumhelden auf den Covers seien Ausdruck einer falschen – kapitalistischen – Vorstellung der Zukunft, die es abzulehnen gelte. Entsprechend auch das Schluss-Statement im Kommentar: «Diese Welt der Gespenster – sie ist nicht die unsere! Die Zukunft wird so, wie wir sie wollen!»

Der Zukunftsfilm, der den beiden Autoren vorschwebte, sollte nicht von Ausserirdischen und Weltraumschlachten handeln, sein Ziel sei «die Stimulierung von Zukunftsverantwortung». Denn die Zukunft gehe aus der Gegenwart hervor, liege in deren Verantwortung. Zugleich seien Zukunft und Gegenwart auch in umgekehrter Richtung miteinander verbunden: Vorstellungen der Zukunft wirken darauf zurück, wie wir unsere Gegenwart gestalten. Aufgabe des Zukunftsfilms müsse es deshalb sein, das in erster Linie jugendliche Publikum für die – sozialistische – Zukunft zu begeistern. Letztlich sei der Zukunftsfilm, so Hellwig und Ritter in einer ihrer wenigen prägnanten Formulierungen, schlicht eine besondere Form des Gegenwartsfilms.

Die Ausgangslage für den Zukunftsfilm ist also denkbar heikel: Die Zukunft soll mobilisierend auf die Gegenwart einwirken, darf aber nicht die herrschenden Verhältnisse in Frage stellen, ja im Grunde nicht einmal gezeigt werden. Dem Zukunftsfilm bleibt somit nur ein schmaler Grat, auf dem er seine Wirkung entfalten kann. Was sich schon theoretisch eher kompliziert ausnimmt, wird in der konkreten Umsetzung endgültig zur Merkwürdigkeit. Die wenigen Filme, in denen Hellwig sein Konzept einigermassen konsequent umzusetzen versuchte, sind denn auch alle auf mehr oder weniger interessante Weise gescheitert.

Die Liebe in 30 Jahren

Stellenweise geradezu surreal wirkt der 1972 erschienene Liebe 2002. Der knapp 40-minütige Film beginnt mit Bildern einer stilisierten Zukunft, in der weibliche Figuren zuerst einen pantomimischen Tanz aufführen und dann von einem automatisierten Paarvermittlungssystem mit Männern zusammengeführt werden. Es folgen allem Anschein nach gestellte Interviews, in denen Reisende auf dem Flugplatz Berlin-Schönefeld gefragt werden, wie sie sich die Liebe in der Zukunft vorstellen.

Liebe 2002

Nach einem im Freien inszenierten Liebesduett aus La Traviata folgt wieder eine längere Szene mit dem Paarvermittlungscomputer, bevor Jugendliche in einer zeitgenössischen Diskothek dazu befragt werden, wie sie sich die Liebe in 30 Jahren vorstellen. Wie die verschiedenen Sequenzen zusammenhängen und worauf der Film hinauswill, wird nie wirklich einsichtig. Besonders irritierend ist das Zukunftsballett, das Hellwig mit professionellen Tänzer*innen inszenierte. Ziel von Liebe 2002 sei, so Hellwig und Ritter in ihrer Dissertation, «die Jugend der DDR auf den ethischen und moralischen Anspruch einer sinnvollen Geschlechterbeziehung einzustimmen». Was immer mit dieser reichlich nebulösen Formulierung gemeint sein mag – aus dem Film selbst erschliesst sich diese Absicht kaum. Aus den Ausführungen in der Dissertation geht zudem hervor, dass die computerisierte Welt der Zukunft eine kapitalistische sei, eine Schreckensvision, die es abzulehnen gelte. Der Film macht das allerdings nie deutlich. Zumal diese Zukunft nie glaubhaft erscheint, es aufgrund der offensichtlichen Stilisierung wohl auch nicht soll. Wenn das Gezeigte aber nicht plausibel wirkt, die negative Zukunft ohnehin nie Wirklichkeit werden kann, ist es mit der abschreckenden Wirkung nicht weit her. Bei heutigen Zuschauer*innen dürfte zudem für Verwirrung sorgen, dass die Kostüme und Perücken der Tänzer*innen offensichtlich von Stanley Kubricks ein Jahr zuvor erschienenem A Clockwork Orange inspiriert sind. Allerdings lief Kubricks Film in der DDR nie im Kino, das Publikum von Liebe 2002 dürfte die Anspielung somit kaum erkannt haben.

A Clockwork Orange

Offensichtlicher Einfluss: A Clockwork Orange

In den Interviews mit den Jugendlichen zum Schluss kommt schliesslich zur Sprache, worauf nicht nur Liebe 2002, sondern der Zukunftsfilm insgesamt abzielt: Die Liebe sei ohnehin schon wunderbar, und von einer Welt, in der eine Maschine den Geliebten oder die Geliebte auswählt, halten die Befragten wenig. So, wie es ist, ist es schon recht gut, die Zukunft kann gar nicht viel besser werden, sondern ist lediglich eine konsequente Weiterführung der Gegenwart. In Liebe 2002 lässt sich ein regelrechtes Schrumpfen der Zukunft beobachten, die am Ende als wenig mehr erscheint als ein Anhängsel der Gegenwart. Der Zukunftsfilm wird damit in der Tat zum Gegenwartsfilm.

Marxistische Zukunftsforschung

Indem sie die Zukunft ins Zentrum rücken, vermeiden Hellwig und Ritter nicht nur den heiklen Begriff der Utopie, sie knüpfen damit auch an damals aktuelle Diskussionen zur Prognostik an. Die sozialistische Prognostik war als Gegenentwurf zur nach dem Zweiten Weltkrieg primär in den USA entstandenen Futurologie gedacht und verstand sich wie diese als Versuch, künftige wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen mittels mathematischer Modelle und Computersimulationen zu antizipieren. Anders als die westliche Futurologie fusste die Prognostik aber auf der Marxʼschen Geschichtsphilosophie. Offiziell war dies zwar ein Vorteil – schliesslich galt Marxʼ historischer Materialismus als bewiesen –, in der Praxis erwiesen sich die Ansätze aber rasch als inkompatibel. Ähnlich wie die Utopie basiert auch Zukunftsforschung auf dem Entwickeln von alternativen Szenarien und verschiedenen möglichen Varianten. Dies verträgt sich freilich schlecht mit einer Ideologie, die in Anspruch nimmt, nicht nur die Gesetze des historischen Prozesses zu kennen, sondern auch dessen zwangsläufigen Endpunkt, den Kommunismus. Die Zukunft, welche die Prognostik voraussehen konnte – oder vielmehr sollte –, stand von Anfang an fest.

Diagramm

Hellwigs und Ritters Modell des kreativen Prozesses

Als defa-futurum ihre Arbeit aufnahm, war die Prognostik für die Parteiführung bereits schon wieder passé, Hellwig und Ritter nehmen die entsprechenden Konzepte aber sehr ernst und entwickelten in ihrer Dissertation davon ausgehend ein quasi-wissenschaftliches Modell des kreativen Prozesses, bei dem ein Stoff für einen Film, ausgehend von einer sogenannten Problemprämisse, über mehrere genau definierte Stufen hinweg kollaborativ entwickelt wird. Zentral ist hierbei wie bei der Prognostik das Feedback-Prinzip, das auf allen Stufen für Optimierungen sorgen soll.

Aus heutiger Sicht wirkt die Grafik, mit der die Autoren ihren Ansatz illustrieren, schon fast wie eine unfreiwillige Parodie. Insbesondere Hellwig war es damit aber wohl ernst: Alle paar Monate trafen sich Mitarbeiter*innen der AG mit externen Wissenschaftler* innen zur Werkstatt Zukunft, um anhand von im Voraus festgelegten Themen Ideen für Filmprojekte zu entwickeln.

Die Werkstatt-Treffen fanden bis Ende der Siebzigerjahre regelmässig statt und wurden jeweils sorgfältig vorbereitet und protokolliert, sie trugen aber kaum Früchte. Ursprünglich hatte sich Hellwig ambitionierte Ziele gesetzt: Defa-futurum sollte alle anderthalb Jahre einen grossen Spielfilm sowie zahlreiche – in Hellwigs Terminologie – «Nichtspielfilme» produzieren. Diese Vorgabe erreichte die AG nicht einmal ansatzweise. Mit Im Staub der Sterne (1976) und Das Ding im Schloss (1979) – beide unter der Regie des Regie-Veteranen Gottfried Kolditz – brachte defa-futurum lediglich zwei Spielfilme zustande, die zudem beide nicht Hellwigs Auffassung des Zukunftsfilms entsprachen, und von den zahlreichen meist kürzeren Nichtspielfilmen folgte gerade einmal eine Handvoll dem in der Dissertation entwickelten Konzept.

Im Staub der Sterne

Entführung in die Zukunft

Dazu gehören auch die drei Werkstatt-Zukunft-Filme, die, wie es der Titel bereits erahnen lässt, an Hellwigs Werkstatt Zukunft anknüpfen. Die jeweils halbstündigen Filme haben alle eine ähnliche Ausgangslage: Mehrere Figuren, die verschiedene Typen repräsentieren, werden auf humoristische Weise in die titelgebende Werkstatt Zukunft «entführt», wo sie unter Anleitung eines Supercomputers über einen bestimmten Aspekt der Zukunft diskutieren.

Eine Probandin erzählt in Werkstatt Zukunft I ihre Vorstellungen der Zukunft

Wie bereits in Liebe 2002 mischt Hellwig auch hier Spiel- und offensichtlich gestellte Szenen mit authentisch wirkenden Interviews, verzichtet aber auf so stilisierte Momente wie die futuristischen Tanzszenen. Stattdessen wagt er mehrfach Ausblicke in die Zukunft, etwa in Werkstatt Zukunft I, in dem der Supercomputer Wünsche der Werkstatt-Teilnehmer*innen gleich ins Bild setzt: So sehen wir automatisierte Fabriken, eine Art FKK-Kindergarten im Obergeschoss eines Mehrfamilienhauses und einen automatischen Lieferdienst für Fertiggerichte, der auch gleich berechnet, wie viele Kalorien man mit der Mahlzeit zu sich nimmt.

Anders als Liebe 2002 zeigen die Werkstatt-Zukunft-Filme mögliche Entwicklungen, die entsprechenden Szenen sind aber sehr kurz und insgesamt doch ziemlich harmlos gehalten. Hellwig mag sich in seiner Dissertation auf avancierte theoretische Konzepte berufen, den grundlegenden Beschränkungen, die ihm die Staatsdoktrin auferlegte, entkam er aber nie. Wenn der Zukunftsfilm etwas nicht zeigen durfte, so die absurde Pointe von Hellwigs Vorhaben, dann ist es die Zukunft.

Zukunftsfilme ohne Zukunft

Die Produktionen der defa-futurum richteten sich ausdrücklich an Jugendliche. Diese sollten – und damit wären wir wieder beim propagandistischen Aspekt – für den Aufbau der sozialistischen Zukunft begeistert werden. Um sein Zielpublikum möglichst direkt anzusprechen, bediente sich Hellwig bei Liebe 2002 einer ungewohnten Distributionsform: Der Film wurde nicht in Kinos, sondern in Diskotheken gezeigt. Dabei waren ausgiebige Diskussionen im Anschluss an die Filmvorführung Teil des Konzepts. Ganz im Sinne des für die Prognostik so wichtigen Feedback-Konzepts sollten auf diese Weise Rückmeldungen zum Film in die Entwicklung neuer Stoffe einfliessen.

In ihrer Dissertation und anderen offiziellen Stellungnahmen heben Hellwig und Ritter hervor, dass auf die Vorführungen oft stundenlange Diskussionen folgten. Ob dies tatsächlich stimmt, lässt sich heute nicht mehr überprüfen. Fest steht aber, dass defa-futurum ab Ende der Siebziger zusehends mit Legitimationsproblemen zu kämpfen hatte. Das Ding im Schloss, 1979 erschienen, wurde ein Riesenflop, und Hellwig, der von ehemaligen Mitarbeiter*innen als herrischer Typ beschrieben wird, stand zusehends unter Beschuss. 1981 wurde defa-futurum schliesslich aufgelöst und Hellwig der AG kinobox zugeteilt. Der Zukunftsfilm war damit Vergangenheit.

Erschienen im Filmbulletin 1/2021. 

Die im Artikel erwähnten Filme sind alle auf YouTube verfügbar.

Mehr zu defa-futurum gibt es in meiner Studie Bilder einer besseren Welt (als Open Access verfügbar).

Soeben erschienen: Zwei Publikationen zu Verschwörungstheorien

Wie’s der Zufall will, sind heute gleich zwei Publikationen von bzw. mit mir erschienen, die sich mit dem Zusammenhang von Verschwörungstheorien und phantastischen Erzählformen beschäftigen.

«Im Innern der Weltmaschinerie»

Dieser Artikel ist im von Vera Podskalsky und Deborah Wolf herausgegebenen Beiheft 25 zum Thema «Prekäre Fakten, umstrittene Fiktionen. Fake News, Verschwörungstheorien und ihre kulturelle Aushandlung» der Zeitschrift Philologie im Netz erschienen. Das Heft geht auf die Tagung Mit Fiktionen über Fakten streiten zurück, die vor fast genau einem Jahr an der Universität Freiburg stattfand und an der ich einen Vortrag hielt (der online verfügbar ist). Ich behandle darin die Nähe von Verschwörungstheorien und Utopien, mein zentrales Beispiel ist der Online-Film Zeitgeist: Addendum.

Dieser Artikel entspricht weitgehend den entsprechenden Passagen in meinem Buch Bilder einer besseren Welt.

Ein Ausschnitt aus Dylan Louis Monroes Deep State Mapping Project

Alles hängt mit allem zusammen

ZFF-Forum «Verschwörungstheorien als narratives Phänomen»

Seit die Zeitschrift für Fantastikforschung online als Open-Access-Publikation erscheint, gibt es die Rubrik »Forum«, in der sich jeweils mehrere AutorInnen in kurzen Beiträgen zu einem Thema äussern. Die Idee dahinter ist, dass wir damit schneller auf aktuelle Themen reagieren können, als dies bei wissenschaftlichen Publikationen normalerweise der Fall ist. Wissenschaftliche Artikel haben ja meist eine lange Entstehungszeit – sie müssen durchs Peer Review bzw. werden von den HerausgeberInnen bearbeitet, gehen dann wieder zur Revision zurück etc. So kann es schnell mal zwei, drei Jahre dauern, bis ein Artikel tatsächlich erscheint. Mit dem Forum wollen wir eine Plattform bieten, auf der auch Schnellschüsse möglich sind. Die Artikel sollen kurz und knackig und gerne auch mal polemisch sein.

Wir hatten in der Vergangenheit schon Foren zu Blade Runner und Game of Thrones. Mit beiden bin ich sehr zufrieden, doch ich glaube, bei keinem konnten wir unsere ursprüngliche Idee so gut umsetzen wie im neuen Forum zu Verschwörungstheorien als narrativem Phänomen.

Verschwörungstheorien sind dank Corona, QAnon und Donald Trump in den Medien so präsent wie schon lange nicht mehr. In den Beiträgen im ZFF-Forum geht es allerdings um einen Aspekt, der unserer Ansicht nach meist zu kurz kommt: Die Tatsache, dass es sich bei Verschwörungstheorien um narrative Formen handelt. Ihr Erfolg – so unsere Arbeitsthese – gründet nicht zuletzt in der Tatsache, dass sie sich erzählen lassen.

Das Forum versammelt unterschiedliche Perspektiven und Fachrichtungen. Nach einer Einleitung von mir melden sich folgende Autorinnen und Autoren zu Wort:

  • Andreas Anton (Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene): «Willkommen in der Paranoia-Gesellschaft! Verschwörungstheorien in Zeiten von Corona»
  • Solvejg Nitzke (Technische Universität Dresden):  «Über das Querdenken. Der epistemische Widerstand der Corona-Proteste»
  • Johannes Pause (Universität Luxemburg): «Das Subjekt der Paranoia»
  • Carolin Amlinger (Universtität Basel): «(Nicht) Wissen wollen. Über Science Fiction und Verschwörungserzählungen»

Viel Spass bei der Lektüre!

Spiegel, Simon: «Im Innern der Weltmaschinerie. Zur Nähe von Utopie und Verschwörungstheorie am Beispiel des Online-Films Zeitgeist: Addendum». In: Philologie im Netz. Beiheft 25: Prekäre Fakten, umstrittene Fiktionen, 2020, 230–250, web.fu-berlin.de/phin/beiheft25/b25t10.pdf.
«Forum Verschwörungstheorien als narratives Phänomen». In: Zeitschrift für Fantastikforschung 8.1, 2020. DOI: 10.16995/zff.3415.

Erste Rezension von «Utopia and Reality»

Cover «Utopia and Reality»Der Science-Fiction-Schriftsteller, Podcaster und Blogger David Agranoff ist nach eigenen Angaben eher zufällig über unseren Sammelband Utopia and Reality gestolpert. Oder vielmehr: Er hatte eigentlich ein ganz anderes Buch erwartet. Umso mehr freut es mich, dass er Gefallen an dem Band gefunden und sich sogar die Zeit genommen hat, diesen sehr freundlich zu besprechen.

I admit if I had not misunderstood what this book was about, I probably would not have read it, but this thoughtful well-researched anthology about Utopian films was very good. Happy mistake as it were.

Die ganze Rezension findet sich auf Davids Blog.

Neue Rezension auf «Medienimpulse»

Michael Burger hat Bilder einer besseren Welt für Medienimpulse rezensiert und kommt in seiner ausführlichen Besprechung zu einem überaus freundlichen Fazit:

Abschließend bleibt zu sagen, dass Spiegel mit seiner gut 400 Seiten umfassenden Habilitation eine bemerkenswerte Studie vorlegt, deren unkonventioneller Ansatz und Forschungsschwerpunkt gänzlich neue Perspektiven sowohl für die Filmwissenschaft als auch für die Utopieforschung eröffnet. Durch den Fokus auf den nichtfiktionalen Film und seine Bezugspunkte zu utopischen Konzepten hat der Autor auf ein großes Feld noch unbearbeiteter Forschungsfragen aufmerksam gemacht. Seine Studie stellt letztlich eindrucksvoll unter Beweis, wie erkenntniserweiternd diese Engführung sein kann. Insofern hat Bilder einer besseren Welt sehr wohl Pioniercharakter.

Zur vollständigen Rezension.

Die Utopie ist noch nicht tot

Das Genre der Utopie-Totenrede erfreut sich im deutschsprachigen Feuilleton schon seit geraumer Zeit grosser Beliebtheit. Mein folgender Gastbeitrag im Tages-Anzeiger ist eine indirekte Antwort auf einen Artikel von Beat Metzler.

Die Klage, dass Dystopien überhand- nehmen, ist ein Dauerbrenner des Feuilletons. Alle paar Monate lesen wir, wie allgegenwärtig der Pessimismus in Literatur und Film sei. Dass die Gegenwart angesichts von Klimawandel, Kriegen, Finanz- und Flüchtlingskrisen nicht rosig ist, darin sind sich alle einig. Aber statt aus Utopien Hoffnung zu schöpfen, ergötzen wir uns an Dystopien, die uns stets von neuem versichern, dass die Zukunft noch viel schrecklicher sein wird.

Die Diagnose scheint angesichts des Erfolgs von Produktionen wie der Hunger Games-Reihe oder The Handmaid’s Tale treffend, beruht aber auf falschen Prämissen.

The Handmaid's Tale

Under His Eye – The Handmaid’s Tale

Seit der englische Humanist Thomas Morus 1516 seine Utopia veröffentlicht und damit das Genre begründet hat, machte die Utopie viele Wandlungen durch. Was sich dabei kaum verändert hat, ist ihre zentrale Funktion: Die Utopie zeigt, dass es Alternativen zur misslichen Gegenwart gibt. Ihr Ausgangspunkt ist immer der Befund, dass die Lage desolat ist; die Kritik am Status quo ist dabei oft wichtiger als der utopische Gegenentwurf. Sonderlich optimistisch ist das nicht.

Wirklich ausgestorben ist diese Form nie. Was sich verändert hat, ist das Interesse des Publikums. Edward Bellamys Looking Backward, das ein sozialistisches Boston im Jahr 2000 entwirft, war Ende des 19. Jahrhunderts in den USA ein Millionenbestseller; 130 Jahre später ist das Buch ausserhalb von Spezialistenkreisen unbekannt.

Nicht anders erging es Aldous Huxley mit seinem letzten Roman, dem 1962 erschienenen Island. Auf der Insel Pala lebt eine kleine Population dank Meditation, frei gelebter Sexualität und gezieltem Einsatz der fiktiven Droge Moksha ein Leben in Glück und Harmonie. Huxleys Utopie ist heute praktisch vergessen, geblieben ist dagegen seine drei Jahrzehnte früher entstandene Dystopie Brave New World.

Ähnlich das Bild, wenn wir uns in heimatliche Gefilde begeben. Einer der radikalsten utopischen Entwürfe jüngeren Datums dürfte bolo’bolo des Zürcher Autors P. M. sein. Bei P. M. ist jegliche staatliche Organisation aufgehoben, sind die Menschen in Gemeinschaften von maximal 500 Mitgliedern, den sogenannten bolos, organisiert. Die Regeln des Zusammenlebens gibt sich jedes bolo selbst, vom egalitären bis zum totalitären bolo ist alles möglich. bolo’bolo wird gerne als Kultbuch bezeichnet, ausser einer Handvoll eingefleischter Anarchisten dürfte es aber kaum jemand wirklich gelesen haben.

Ein städtisches bolo

Ein städtisches bolo

Anders, als gerne suggeriert wird, ist die Dystopie keine neue Erscheinung. In der Science-Fiction dominieren schon lange negative Zukunftsentwürfe. Das liegt weniger am chronischen Pessimismus der Autoren, sondern daran, dass Geschichten Konflikte brauchen. Eine Welt, in der alle zufrieden sind, ist eine denkbar schlechte Ausgangslage für eine spannende Erzählung. Dystopien sind nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil sie den Konflikt frei Haus mitliefern. In ihrem Zentrum steht fast immer die Rebellion eines Unangepassten, Action und Nervenkitzel sind damit garantiert.

Dabei sind Dystopien gar nicht so pessimistisch wie oft behauptet, denn an ihrem Ende steht meist der Umsturz der tyrannischen Ordnung, leuchtet ein utopischer Horizont auf. Wie der Liebesroman, der endet, wenn die Liebenden endlich vereint sind, schliesst auch die Dystopie in dem Moment, in dem das Glück greifbar wird.

Ohnehin sagt die Allgegenwart von Dystopien weniger über den Zeitgeist als über die Strategien der Filmindustrie aus. Science-Fiction ist heute kein Billiggenre mehr, sondern bildet eine zentrale Säule in Hollywoods Geschäftsmodell. Wer sich vor 30 Jahren nicht für das Genre interessierte, konnte ihm leicht aus dem Weg gehen und somit auch übersehen, wie häufig Dystopien bereits damals waren. Eine Serie wie The Handmaid’s Tale ist dagegen ein aufwendig produziertes Prestigeprojekt, das auf allen Kanälen beworben und im Feuilleton diskutiert wird. Einmal mehr gilt: Es liegt nicht am Angebot, sondern daran, was wir konsumieren.

Erschienen im Tages-Anzeiger vom 12. Dezember von 2019.