Otto F. Walter: Die Verwilderung

Otto F. Walters Roman Die Verwilderung steht schon lange bei uns im Regal.[ref]Das Buch scheint derzeit nur antiquarisch erhältlich.[/ref] Ich bin nicht sicher, wie es dahin gekommen ist. Eventuell ist es das Exemplar meines Bruders Adrian; ich kann mich gut erinnern, dass er das Buch vor vielen Jahren für die Schule gelesen hat und damals ganz begeistert davon war.[ref]Ich selbst musste in der Schule dagegen Walters Roman Der Stumme (1959) lesen, den ich als eher mühsam in Erinnerung habe.[/ref]

Die VerwilderungWie dem auch sei. Auf der Suche nach Lesestoff habe ich mich kürzlich eher zufällig für die Verwilderung entschieden und war dann sehr überrascht, wie gut der Roman zu den Themen passt, mit denen ich mich in den vergangenen Jahren wissenschaftlich beschäftigt habe. Wahrscheinlich ist es ein Anzeichen von Déformation professionnelle, dass ich mittlerweile in allem eine Utopie sehe, aber Walters Roman entspricht in meinem Verständnis erstaunlich genau dem, was in der Utopieforschung als kritische Utopie bezeichnet wird.

Was folgt, ist keine Rezension, sondern der Versuch, plausibel zu machen, warum Die Verwilderung als kritische Utopie gelesen werden kann.

Kritische Utopien

Tom Moylan hat den Begriff der kritischen Utopie in seiner erstmals 1986 erschienenen Studie Demand the Impossible geprägt.[ref]Siehe zu Moylans Buch auch diesen früheren Beitrag.[/ref] Er bezeichnet damit einen Typus von Roman, der zwar eindeutig in der utopischen Tradition steht, diese aber auf entscheidende Weise modifiziert. Ganz knapp zusammengefasst lässt sich die Geschichte der Utopie in folgende Phasen aufteilen: Am Beginn stehen die klassischen Raumutopien in der Folge von Thomas Morus’ 1516 erschienener Utopia. Diese Form des Genres beschreibt eine bessere Gesellschaft, die angeblich irgendwo in der Gegenwart des Lesers existiert. Ein Grundprinzip der entworfenen Gesellschaft ist jeweils, dass sich der Einzelne unterordnet. Weil der utopische Bürger kraft seiner Vernunft erkennt, dass er in der besten aller möglichen Gesellschaften lebt, akzeptiert er deren Regeln vorbehaltlos. Dies ändert sich auch nicht, als sich die Utopie Ende des 18. Jahrhunderts in die Zukunft verlagert. Die Utopie existiert nun nicht bereits in der Gegenwart, sondern ist in dieser angelegt bzw. geht aus ihr hervor. Es ist damit an den Bewohnern dieser Gegenwart, die Utopie wahr werden zu lassen. Im Zuge der industriellen Revolution werden auch technische Neuerungen immer wichtiger und die Utopie wandelt sich allmählich zur Science Fiction (SF).

Das Cover von «Demand the Impossible»Was sich bis Ende des 19. Jahrhunderts dagegen nur selten ändert, ist der aus heutiger Sicht totalitäre Charakter der utopischen Entwürfe – der Einzelne hat sich zum Wohl aller unterzuordnen. Dieser Aspekt wird dann seinerseits zum Ausgangspunkt der im frühen 20. Jahrhundert entstehenden Dystopie. Hier steht nicht mehr das reibungslose Funktionieren der staatlichen Maschinerie im Vordergrund, sondern die Freiheit des Individuums. Die meisten Dystopien sind deshalb auch als Rebellionsplots angelegt, in denen ein unangepasster Protagonist gegen die herrschende Ordnung aufbegehrt.

Die kritische Utopie geht noch einmal einen Schritt weiter. Sie nimmt die Einsicht der Dystopie auf, dass es nicht die eine alle glücklich machende staatliche Ordnung geben kann, dass das Individuum seinen Freiraum behalten muss, hält aber zugleich an der utopischen Überzeugung fest, dass grundlegende Verbesserungen möglich sind. Moylan formuliert es in einer oft zitierten Passage folgendermassen:

A central concern in the critical utopia is the awareness of the limitations of the utopian tradition, so that these texts reject utopia as blueprint while preserving it as a dream. Furthermore, the novels dwell on the conflict between the originary world and the utopian society opposed to it so that the process of social change is more directly articulated. Finally, the novels focus on the continuing presence of difference and imperfection within the utopian society itself and thus render more recognizable and dynamic alternatives (Moylan 2014: 10).

Mit anderen Worten: Kritische Utopie entwerfen keine starre Ordnung, sondern offene, sich wandelnde Gesellschaften, die stets kritisch reflektiert werden. Die Utopie ist kein strikter Plan mehr, sondern ein Prozess. Ein Prozess, der bis zu einem gewissen Grad zum Scheitern verurteilt ist, da eine endgültige, optimale Gesellschaftsform nicht möglich ist.

Moylan entwickelt sein Konzept, das in der Utopieforschung allgemein akzeptiert ist, anhand von vier in den 1970er-Jahren erschienen US-amerikanischen Science-Fiction-Romanen, die alle stark vom Feminismus sowie radikalen zeitgenössischen Strömungen beeinflusst sind. Es handelt sich dabei um The Dispossessed (1974) von Ursula K. Le Guin, The Female Man (1975) von Joanna Russ, Woman on the Edge of Time (1976) von Marge Piercy sowie Triton (1976) von Samuel R. Delany. Nicht zufällig wurden drei der Bücher von Frauen verfasst und das vierte von einem homosexuellen Schwarzen. Mit der kritischen Utopie melden sich Stimmen zu Wort, die bis dahin kaum zu hören waren.

Die Verwilderung

Otto F. Walter

Otto F. Walter

Walters 1977 erschienener Roman erzählt die Geschichte Robs, der genug vom bürgerlichen Leben hat und sich in einer verlassenen Baugrube ausserhalb von Jammers – so der Name der fiktionalen Version von Walters Geburtsort Olten – einrichtet. Sein Beispiel zieht andere an, und schon bald hat sich eine kleine Gemeinschaft von Aussteigern um ihn versammelt, die sich schliesslich zur »Produktions-Kooperative S« zusammenschliessen. Deren oberste Regel lautet: »Kein Mitglied hat das Recht, einen Menschen als seinen Besitz zu betrachten oder zu behandeln« (182).

Soweit der Hauptplot, der bereits utopische Qualitäten aufweist. Was Die Verwilderung aber vor allem interessant macht, ist, dass das Buch als Montageroman angelegt ist. Der Handlungsstrang um die Kooperative S wechselt sich mit einer Reihe anderer Text-Elemente ab. Da wären beispielsweise die mit Skizzenbuch betitelten Passagen, in denen der Autor selbst – oder zumindest eine Autorenfigur – spricht und dabei die Fiktion durchbricht. Oder kurze Szenen aus einem nahe der Baugrube gelegenen Wohnblock, der die Tristesse des normalen Spiessbürgerlebens zeigt.

Immer wieder schiebt Walter zudem Sachtexte und theoretische Reflexionen ein – vor allem über Ursprung und Wesen des Patriarchats – sowie authentische Meldungen von Entlassungen und Arbeitskampf in der Schweiz Mitte der 1970er-Jahre.[ref]Ein Quellennachweis am Ende des Buches schlüsselt die Herkunft der verschiedenen Text-Elemente auf.[/ref] Dienen diese Passagen dazu, die Fiktion in der (miesen) Wirklichkeit zu verankern und zugleich reflektierend zu brechen, eröffnen die mit Ballade von der Herbeiführung erträglicher Lebensbedingungen für alle betitelten Abschnitte definitiv einen utopischen Horizont. Denn in ihnen wird erzählt, wie in nicht allzu ferner Zukunft – »Noch vor dem Jahr 2000« (13) – in der Schweiz eine Initiative zur Abstimmung kommt, die fordert, dass »alle auf wirtschaftlichen Nutzen ausgerichteten Unternehmen in der Schweiz, deren Umsatz 10 Millionen jährlich übersteigt, […] in die Selbstverwaltung durch alle Angestellten, Arbeiterinnen und Arbeiter der einzelnen Firmen« (68 f.) überführt werden sollen.

Zur allgemeinen Überraschung wird diese Initiative von der Bevölkerung angenommen. Das Ergebnis ist dabei nicht das von ihren Gegnern prophezeite Chaos, sondern allgemeines Glück.

Das Grundgefühl, befreit zu sein von einem kaum mehr wahrgenommenen Druck, machte die Leute heiter, und gelassen, ja gelöst begannen sie zu erfahren, dass sie selbst in ihren Schlafzimmern und Küchen wieder lachen und einander gut sein konnten. Staunend erlebten sie an sich selbst und ihren Kindern, dass sie anfingen, miteinander grossmütig umzugehen und zusammen Musik zu machen und zu tanzen (219).

Parallelen

Alle für die kritische Utopie konstitutiven Elemente sind damit vorhanden: Die Verwilderung entwirft die Utopie einer kooperativ geführten Wirtschaft, wobei sich allerdings früh abzeichnet, dass dieses Projekt scheitern wird; weder die Kooperative S noch die selbstverwaltete Wirtschaft haben Bestand.

Die Verwilderung erzählt aber nicht nur von einer scheiternden Utopie, sondern stellt diese auch selbst immer wieder in Frage. Dies geschieht zum einen in den theoretischen Einschüben, zum anderen durch eine Figur namens Blumer, einem enttäuschten Alt-68er – und Alter Ego des Autors –, der zwar Sympathien für die Idee einer Kooperative hegt, dieser aufgrund seiner eigenen Erfahrungen aber auch sehr skeptisch gegenübersteht.

Das Cover von «The Dispossessed»Ein Punkt, den Moylan ebenfalls hervorhebt, ist, dass kritische Utopien auch formale Konventionen aufbrechen und sich innovativer erzählerischer Strategien bedienen. Dies ist im Falle von Walters Roman ebenfalls gegeben.

Bei den vier Romanen, die Moylan untersucht, handelt es sich nicht nur um SF-Romane, sie stehen zudem explizit mit der utopischen Tradition im Dialog. So trägt The Dispossessed, der zumindest, wenn man dem Veröffentlichungsdatum folgt, am Anfang des Genres steht, den Untertitel »An Ambiguous Utopia«. Le Guin hat sich zudem immer wieder mit der Utopie auseinandergesetzt.[ref]Unter anderem in der grandiosen Kurzgeschichte »The Ones Who Walk Away From Omelas« (1973) sowie im nach The Dispossessed entstandenen programmatischen Essay »A Non-Euclidean View of California as a Cold Place to Be« (1982).[/ref]

Die Verwilderung kann trotz den kurzen Ausblicke in die Zukunft kaum zur SF gezählt werden. Und obwohl der Roman in der wenigen Sekundärliteratur, die ich finden konnte, teilweise als Utopie bezeichnet wird, bezieht er sich nie direkt auf die utopische Tradition. Walters Referenzsystem ist ein ganz anderes als jenes von Le Guin, Russ, Piercy und Delany. Statt auf Astounding, Bellamy oder Wells bezieht er sich – für einen deutschsprachigen 68er wenig erstaunlich – unter anderem auf Horkheimer, Marcuse und Fromm.

Fazit

Es geht mir hier nicht darum, alle Punkte, die Moylan erwähnt, abzuhaken und so zu »beweisen«, dass Walter eigentlich eine kritische Utopie verfasst hat. Ich finde es aber verblüffend, dass Die Verwilderung so viele strukturelle Gemeinsamkeiten mit Moylans Konzept aufweist. Trotz sehr unterschiedlichen Umständen ist der Schweizer Walter praktisch zeitgleich zu einem sehr ähnlichen Ergebnis gekommen wie die von Moylan untersuchten US-amerikanischen Autoren.

Zitierte Werke

Delany, Samuel R.Triton. New York: Bantam Books 1976.

Le Guin, Ursula K.: The Dispossessed. An Ambiguous Utopia. New York: HarperCollins 2000 (11974).

–: »A Non-Euclidean View of California as a Cold Place To Be«. In: Dies.: Dancing at the Edge of the World. Thoughts on Words, Women, Places. New York: Grove Press 1989 (11982), 80–100.

–: »The Ones Who Walk Away from Omelas«. In: Adams, John Joseph (Hg.): Brave New Worlds. San Francisco: Night Shade Books (11973), 33–38.

Moylan, Tom: Demand the Impossible. Science Fiction and the Utopian Imagination. Hg. v. Raffaella Baccolini. Oxford/Bern/Berlin: Peter Lang 2014 (11986).

Piercy, Marge: Woman on the Edge of Time. New York: Knopf 1976.

Russ, Joanna: The Female Man. New York: Bantam 1975.

Walter, Otto F.: Die Verwilderung. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 1977 (11973).

Libra (Patty Newman, USA 1978)

An der diesjährigen Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung an der Freien Universität Berlin hielt ich einen Vortrag zum Kurzfilm Libra. Libra ist eine praktisch unbekannte Produktion aus dem Jahr 1978, auf die mich Ralf Bülow vor einigen Jahren aufmerksam gemacht hat. Darin wird ein Zukunft entworfen, in der die Welt vor lauter Regulierungen und Gesetze zugrunde geht. Hoffnung bietet einzig die Raumstation Libra, auf der statt dem Staat der freie Markt herrscht.

Ich habe immer wieder hin- und her überlegt, ob und wie ich Libra in meinem Buch behandeln soll. Aber letztlich passte er nicht recht in das Konzept rein, zudem konnte ich kaum Material dazu finden. In Berlin habe ich nun die Ergebnisse meiner Spurensuche präsentiert.

Obwohl keine Literatur zu Libra existiert und ich auch kaum Quellen finden konnte, die darauf hindeuten, dass der Film breit rezipiert wurde, hat ihn jemand auf YouTube gestellt.

Errol Morris: The Ashtray


The AshrayErrol Morris dürfte jedem, der sich mit Dokumentarfilm beschäftigt, ein Begriff sein. Sein 1988 erschienener Film The Thin Blue Line kann wohl ohne Übertreibung als Meilenstein der Gattung bezeichnet werden, der wesentlich dazu beigetragen hat, das Re-Enactment als ernstzunehmendes Stilmittel zu rehabilitieren. Morris beschäftigt sich in seinen Filmen in der Regel mit ur-amerikanischen Themen. Sein neustes Buch ist deshalb eine ziemliche Überraschung: In The Ashtray (Or the Man Who Denied Reality) zieht Morris gegen seinen früheren Professor Thomas Kuhn zu Felde.[ref]Das Buch geht auf eine Reihe von Blog-Einträgen zurück, die Morris ursprünglich für die New York Times verfasst hat. Siehe hier, hier, hier, hier und hier.[/ref]

Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen

Wenn ich unter allen Büchern, die ich gelesen habe, das auswählen müsste, das mein (wissenschaftliches) Denken am nachhaltigsten geprägt hat, würde meine Wahl zweifellos auf Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen fallen. Kuhns Buch ist ein Klassiker der Wissenschaftstheorie und taucht regelmässig in Listen der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts auf. – Worum geht es? Die Geschichte der (Natur-)Wissenschaft wird oft als Erfolgsgeschichte dargestellt, als eine sukzessive Anhäufung von Wissen und damit einhergehend der stetigen Verfeinerung wissenschaftlicher Modelle. Mit dieser Vorstellung räumt Kuhn auf. In seiner Darstellung ist Wissenschaft keine allmähliche Annäherung an eine objektive Wahrheit, kein linearer Prozess, der auf ein Ziel hin zuläuft, sondern eine bis zu einem gewissen Grad zufällige Angelegenheit, die von Krisen und Umbrüchen – eben Revolutionen – geprägt ist.

Kuhn unterscheidet zwischen Revolutionen und Phasen normaler Wissenschaft. Letztere sind dadurch gekennzeichnet, dass ein Set von allgemein akzeptierten Verfahren, Erkenntnissen und Zielen existiert, derer sich Wissenschaftlicher bedienen bzw. die sie anstreben. Man weiss, was man erreichen will, auf welchen Wege man dies zu tun hat und anhand welcher Kriterien die Ergebnisse bewertet werden. Diese Gesamtheit bezeichnet Kuhn als Paradigma. In Phasen normaler Wissenschaft herrscht Gewissheit, dass sich Probleme innerhalb des bestehenden Paradigmas lösen lassen. Wissenschaftliche Arbeit besteht nach Kuhn deshalb normalerweise vor allem aus Rätsel-Lösen („puzzle solving“) innerhalb des etablierten Paradigmas, also gewissermassen dem Auspolstern des bestehenden Gerüsts, und nicht aus dem Entwickeln umstürzender Thesen.

Kuhns Buch in der klassischen Suhrkamp-Ausgabe

Früher oder später gelangt das Paradigma aber an seine Grenzen; es treten Anomalien auf. Ist die Zahl der Anomalien zu gross, gerät das Paradigma in eine Krise und eine Phase revolutionärer Wissenschaft setzt ein, in deren Verlauf neue Modelle entwickelt werden, welche die Anomalien zwar erklären können, dem bestehenden Paradigma aber fundamental widersprechen. Ab einem gewissen Punkt etabliert sich ein neues Paradigma, das von nun an die Basis normaler Wissenschaft darstellt.

Ein entscheidender – und umstrittener – Punkt in diesem Modell ist, dass der Übergang vom alten zum neuen Paradigma kein geordneter rationaler Prozess ist. Entscheidend ist nach Kuhn nicht, dass das neue Paradigma objektiv besser ist bzw. dass die Vertreter des neuen Ansatzes ihre Kollegen mit Argumenten überzeugen können. Letzteres sei oft gar nicht möglich. Denn zum einen kann das neue Paradigma zu Beginn zwar mit den – oder zumindest manchen – Anomalien umgehen, es ist aber zwangsläufig nicht so umfassend wie das alte, kann also (noch) nicht allen bis dahin bekannten Phänomenen gerecht werden.

Die Umwertung aller Werte

Fast noch wichtiger ist, dass eine Revolution nach Kuhn zu einer Umwälzung der bestehenden Nomenklatur und der angelegten Massstäbe führt; Begriffe erhalten eine neue Bedeutung, die Rahmenbedingungen und Beurteilungskriterien verändern sich grundlegend. Das alte und das neue Paradigma sind in letzter Konsequenz nicht vergleichbar, stellen unterschiedliche Welten dar, sie sind in Kuhns Worten inkommensurabel. Die Anhänger des alten Paradigmas können das neue schlechterdings nicht verstehen, da sie in einer anderen Welt leben.

Kuhns Buch war ungeheuer einflussreich, wurde und wird aber auch kritisiert. Dazu gleich mehr. Zuerst aber etwas zu meiner Begegnung mit Struktur. Ich las das Buch kurz nach Beendigung meines Grundstudiums, und die Lektüre war für mich ungemein erhellend. Denn was tat ich in meinem Studium denn anderes, als gewisse Verfahren und Bewertungsmassstäbe einzuüben? Einzig und allein deshalb, weil sie aus dem Mund meiner Dozenten kamen, also dem etablierten Paradigma entsprachen. Und waren meine Seminararbeiten, in denen ich kleinste Detailfragen anhand dieser eingeübten Verfahren zu klären versuchte, nicht just das, was Kuhn als normale Wissenschaft bezeichnet?

Zugleich erschien mir Kuhns Buch auch als Warnung vor Überheblichkeit und Selbstzufriedenheit. Die aristotelische Physik war nicht einfach Unsinn, sondern sehr wohl imstande, gewisse Phänomene zu erklären. Ebenso das ptolemäische Weltbild. Mit anderen Worten: Weder waren Menschen früherer Epochen, die glaubten, dass die Sonne um die Erde kreist, naive Idioten, noch können wir heute sicher sein, dass nicht auch unser Verständnis der Welt dereinst durch ein komplett anderes ersetzt wird.

Ptolemaeus, Claudius, Cosmographia Weltkarten, Faksimile aus dem Kodex Lat. V F. 32

Stark oder schwach?

Im Vorwort seines Buchs erwähnt Kuhn, wie wichtig ein Jahr am Center for Advanced Studies in the Behavioral Sciences in Stanford war für ihn. Hier traf der ausgebildete Physiker Kuhn auf Sozialwissenschaftler und war überrascht, dass in diesen Disziplinen selbst bei grundlegenden methodologischen Fragen keine Einigkeit herrschte. Diese Erfahrung war wesentlich für die Formulierung des Paradigma-Begriffs.

Für einen Geisteswissenschaftler ist das, was Kuhn hier beschreibt, Alltag. Die Vorstellung, dass ein Phänomen mit ganz unterschiedlichen Begriffen und Herangehensweisen adäquat erfasst werden kann, ist uns nicht fremd. Vielmehr sind wir konkurrierende, teilweise fundamental gegensätzliche Ansätze – eine Pluralität von Paradigmen – gewohnt. Das mag auch ein Grund sein, weshalb Kuhns Buch in den Geistes- und Sozialwissenschaften so populär wurde – es entspricht unserer Erfahrung.

In meinen Augen hat Kuhns Buch einen grossen Schwachpunkt: Es ist nicht klar, ob es sich bei seinem Grundgedanken um eine starke oder eine schwache These handelt. Kann von einer Revolution nur dann gesprochen werden, wenn tatsächlich völlig neue Verfahren und Massstäbe eingeführt werden, oder geht es auch um kleinere Verschiebungen? Kuhn ist diesbezüglich sehr schwammig, und beide Interpretationen – die schwache wie die starke – haben ihre Probleme. Wie verschiedene Kritiker festgestellt haben, gibt es letztlich nur sehr wenige Beispiele, bei denen der Paradigmenwechsel so vollständig ist wie von Kuhn beschrieben. Kuhn arbeitet in Struktur mit drei Hauptbeispielen: die Wende vom geozentrischen hin zum heliozentrischen Weltbild, die Ablösung der Phlogistontheorie durch Lavoisiers Sauerstoffchemie sowie Einsteins Relativitätstheorie, die die klassische newtonsche Physik ablöste. In den ersten beiden Fällen lässt sich argumentieren, dass mit den neuen Paradigmen überhaupt erst die moderne Wissenschaft entsteht. Der Wechsel von newtonscher zu einsteinischer Physik wiederum geht zwar mit einem neuen Verständnis der Welt einher, völlig inkommensurabel sind die beiden Modelle aber nicht. Physik, wie sie heute in der Schule gelehrt wird, folgt noch immer in weiten Teilen Newton, ohne dass sich daraus fundamentale Widersprüche mit der Relativitätstheorie ergeben würden.

Versteht man Kuhns Ansatz als starke These, stellen wissenschaftliche Revolutionen seltene Ausnahmen dar, die sich zudem fast ausschliesslich in vormodernen Zeiten beobachten lassen. Weder die Beschreibung der DNA durch Watson und Crick und das daraufhin entstandene Feld der modernen Genetik noch die Neuerungen auf dem Gebiet der Informatik wären dann wissenschaftliche Revolutionen. Damit drängt sich die Frage auf, ob Kuhns Paradigmen-Modell für moderne Forschung überhaupt noch relevant ist oder nicht eine vergangene Phase beschreibt.

Legt man Kuhn dagegen weniger eng aus und nimmt seine mitunter kategorischen Aussagen eher als rhetorische Zuspitzungen, erscheinen wissenschaftliche Revolutionen schnell als nicht sonderlich spektakuläre Verschiebungen des wissenschaftlichen Konsens, die nicht mehr allzu weit von einem traditionellen Verständnis sukzessiven Fortschritts entfernt sind.

Egal, wie man Kuhn versteht, scheint mir die Einsicht elementar, dass sich eine wissenschaftliche Disziplin immer bis zu einem gewissen Grad selbst vorgibt, was überhaupt wie erforscht werden kann – und was nicht.

Was hat das aber alles mit Errol Morris zu tun?

Der Aschenbecher

Morris studierte in den frühen 1970er-Jahren bei Kuhn, wurde von diesem nach einer hitzigen Debatte über eine Hausarbeit, die Kuhns Missfallen erregte, aber zuerst mit einem Aschenbecher beworfen – daher der Titel des Buchs – und dann aus der Universität befördert.

Morris bezeichnet den Rauswurf heute als Glücksfall, doch wenn The Asthray etwas deutlich macht, dann, dass der Zusammenstoss mit Kuhn tiefe Wunden bei ihm hinterlassen hat. Der Regisseur macht aus seinem Herzen denn auch keine Mördergrube und schreibt explizit: »Many may see this book as a vendetta. Indeed it is.«

Thomas Kuhn

Obwohl Kuhn ein obsessiver Kettenraucher war, konnte ich kein Bild finden, auf dem er raucht

Kuhn war nach allgemeiner Einschätzung kein einfacher Zeitgenosse, doch Morris lässt wirklich kein gutes Haar an seinem früheren Professor. Kuhn erscheint in The Ashtray unter anderem als Dogmatiker, als intolerant, als Diktator und als gefährlicher Scharlatan.

Für Morris hatte Kuhn nicht bloss einen miesen Charakter, er ist in seinen Augen Vertreter einer schädlichen Ideologie, ein Prediger eines totalen Relativismus, der die Existenz der Realität leugnet – siehe den Untertitel von The Ashtray –, ohne dabei selbst an diese Position zu glauben.

What’s the difference between being convinced by Einstein that special relativity is true and E = mc2 and being convinced by Hitler that the Protocols of the Elders of Zion is true and Jews should be eradicated from the face of the earth (91).

Dieses Zitat fasst Morris’ Bedenken gut zusammen. Seiner Auffassung nach sind für Kuhn alle Aussagen gleichwertig, gibt es keine Möglichkeit, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden.

Die angeführte Stelle illustriert auch, wo Morris falsch liegt. Man kann durchaus geteilter Meinung sein, ob es Inkommensurabilität zumindest in ihrer starken Form tatsächlich gibt. Was Morris in seinen zahlreichen Attacken aber weitgehend ausblendet, ist, dass Kuhn nicht irgendwelche Behauptungen untersucht, sondern Modelle der (wissenschaftlichen) Welterklärung. Die Relativitätstheorie ist ein erklärungsmächtiges Modell, das empirisch überprüfbare Aussagen ermöglicht, und damit etwas grundlegend anderes als Hitlers Antisemitismus.[ref]Relativ früh erwähnt Morris auch Trumps Behauptung, an seiner Amtseinsetzung seien mehr Menschen anwesend gewesen als bei jener Obamas. Für Morris ein Beispiel für die Gefährlichkeit von Kuhns Ansatz, denn dieser erlaube es nicht, diese Falschaussage als solche zu entlarven. Hier liegt Morris aber eindeutig falsch. Eine offensichtlich unwahre Behauptung wie jene Trumps ist keine Aussage auf der Basis eines wissenschatflichen Modells, sondern schlicht eine Lüge. Es gibt kein Paradigma, innerhalb dessen diese Behauptung wahr wäre (Trumps egomane Sicht auf die Welt ist kein Paradigma).[/ref]

Errol Morris

Scheint trotz Rauswurf aus Princeton ganz zufrieden: Errol Morris

Nach Morris streitet Kuhn rundweg ab, dass eine Realität überhaupt existiert.[ref]Morris wärmt in diesem Zusammenhang diverse Klischees über die angebliche zersetzende Wirkung postmoderner Ansätze auf; folgt man dieser Argumentation hat die postmoderne Philosophie Trump, Brexit und Klimaleugner zu verantworten.[/ref] Ich habe Kuhn nie so verstanden. Skeptizismus ja, kompletter Relativismus nein.[ref]Morris’ Darstellung von Kuhns Ansatz entspricht eher dem, was Paul Feyerabend in Wider den Methodenzwang beschreibt. Aber Feyerabend taucht bei Morris ebensowenig auf wie Ludwik Fleck, der in seinem 1935 erschienenen Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache viele von Kuhns Einsichten vorwegnahm.[/ref] Schon alleine deshalb nicht, weil ein Paradimga nicht einfach eine Geschichte ist, die sich jemand ausdenkt, sondern ein Modell, das in der Lage ist, gewisse empirische Phänomene zu erklären.

Die Suche nach der Wahrheit

In The Thin Blue Line stellt Morris den angeblichen Tathergang eines Mordes nach und weist auf diese Weise nach, dass sich das Verbrechen unmöglich so abgespielt haben kann, wie von den verschiedenen Zeugen behauptet. In der Folge wurde der Prozess neu aufgerollt und der unschuldig zum Tode verurteilte Randall Dale Adams frei gesprochen. Fragen von Wahrheit und Lüge stehen im Zentrum von Morris’ Schaffen.

The Thin Blue Line

The Thin Blue Line

Es ist somit nicht völlig überraschend, dass The Ashtray immer wieder zur Behauptung zurückkehrt, dass es sehr wohl möglich sei – dass es möglich sein muss –, zwischen „wahr“ und „falsch“ zu unterscheiden. Morris ist zweifellos nicht dumm und hat sich offensichtlich intensiv mit dem Thema beschäftigt. Umso seltsamer wirkt dieser naive Realismus. Denn eine abschliessende Bewertung, ob eine Aussage zur Realität „wahr“ oder „falsch“ ist, würde einen objektiven Standpunkt ausserhalb der Welt bedingen. Dass wir einen solchen nicht einnehmen können, gehört aber spätestens seit Kant zum erkenntnistheoretischen Einmaleins (was zu einem früheren Blogeintrag passt).[ref]Morris führt den Philosophen Saul Kripke als Kronzeugen gegen Kuhn an. Ich bin in Philosophie zu wenig bewandert, als dass ich ausführlich auf diese Passagen eingehen könnte, ich hatte beim Lesen von Morris’ Ausführungen aber stets den Eindruck, dass Kripkes Überlegungen auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt sind als jene Kuhns und sich die beiden Ansätze nur begrenzt vergleichen lassen. Wohl ein Fall von Inkommensurabilität. Siehe dazu auch David Kordahls Rezension.[/ref]

Morris’ Buch ist keine typische geisteswissenschaftliche Monografie, sondern ein grossformatiges, sorgfältig gestaltetes Hardcover mit zahlreichen Abbildungen. Der Autor folgt nicht strikt einer Argumentationslinie, sondern begibt sich immer wieder Nebenstränge – von Don Quijote über Jorge Luis Borges bis zur Wahrheit über Hippasos von Metapont. Ausserdem schiebt Morris regelmässig Interviews mit mehr oder weniger bekannten Experten ein.

Einige dieser Interviews sind sehr aufschlussreich. Mir ist nicht klar, inwieweit Morris selbst dies bewusst ist, aber Noam Chomsky beispielsweise scheint mir in dem kurzen Gespräch, das in The Ashtray enthalten ist, Kuhns Skeptizismus weitgehend zu stützen.

Fazit: Ein seltsames Buch, das sein Ziel weitgehend verfehlt. Kuhn mag als Mensch unausstehlich gewesen sein, die in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen formulierte Einsicht scheint mir aber bei allen Einschränkungen grundlegend. Im Grunde sollte sich jeder, der je eine Universität betritt, mal mit diesen Fragen beschäftigen. Zugleich können wir aber froh sein, dass Kuhn Morris seinerzeit so schäbig behandelt hat. Andernfalls wäre dieser vielleicht nie Regisseur geworden.

Zitierte Werke

Feyerabend, Paul K.: Wider den Methodenzwang.Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1999.

Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1980 (11935).

Morris, Errol: The Ashtray. (Or the Man Who Denied Reality).The University of Chicago Press: Chicago/London 2018.

Forum zu «Blade Runner» in der neuen ZFF

Von Blade Runner und Blade Runner 2049 war an dieser Stelle schon mehrfach die Rede (unter anderem hier und hier). Die neue Ausgabe der Zeitschrift für Fantastikforschung (ZFF) widmet sich nun ebenfalls den Filmen von Ridley Scott respektive Denis Villeneuve.

Die ZFF erscheint seit diesem Jahr nicht nur als kostenlose OpenAccess-Publikation, wir haben auch am Inhalt geschraubt. In der neuen Rubrik «Forum» melden sich jeweils eine Handvoll Autorinnen und Autoren mit kurzen Beiträgen zu einem vorgegebenen Thema zu Wort. Geisteswissenschaftliche Forschung reagiert normalerweise langsam, bis zu einem wichtigen Ereignis oder einem neuen Phänomen ein ein Artikel in einer Zeitschrift – und erst recht einem Sammelband – erscheint, können schnell ein paar Jahre ins Land ziehen. Die Idee hinter der neuen Rubrik ist es, dem ein Stück weit entgegenzuwirken. Im Forum sollen aktuelle Entwicklungen verhältnismässig schnell aufgegriffen und aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden. Im Idealfall werden neue Diskussionen lanciert oder bestehende weitergeführt. Entsprechend sind die Beiträge eher kurz gehalten und dürfen auch gerne zugespitzt sein und auf sonst üblichen umfangreichen Literaturverweise verzichten.

Das aktuelle Blade Runner-Forum ist hier verfügbar, im Folgenden die Liste der einzelnen Beiträge:

  • Tobias Haupts: «Science Fiction 1982 | 2017»
  • Barbara Flückiger: «Farbe, Licht, Raum in Blade Runner 2049»
  • Simon Spiegel: «Blade Runner Retroffited»
  • Sherryl Vint: «Vitalität und Fortpflanzung in Blade Runner 2049»
  • Lars Schmeink: «Blade Runner 2049 – Zwischen Nostalgie und Auslöschung»

Origami-Einhorn