Erschienen: «Zeitreisen in Zelluloid»

Das Buch

Hätte man mich als Zehnjähriger nach meinem Lieblingsfilm gefragt, hätte meine Antwort sehr wahrscheinlich Back to the Future gelautet. Ein paar Jahre später hätte ich dann wohl Terminator 2: Judgment Day als einen meiner Favoriten angegeben. Zeitreise-Erzählungen haben mich also seit jeher fasziniert. Und daran hat sich wenig geändert. Oder vielmehr: Im Laufe meiner filmwissenschaftlichen Karriere hat sich die Faszination verschoben. Interessierten mich früher primär die durch das Grossvater-Paradox entstehenden logischen Verrenkungen – was würde geschehen, wenn sich Martys Eltern am Enchantment Under the Sea Dance nicht küssten? –, beschäftigte ich mich mit der Zeit [sic!] mehr und mehr mit der erzähltheoretischen Seite von Zeitreise-Geschichten. Obwohl Zeitreisen darin keinen Schwerpunkt bilden, ging ich bereits in meiner Dissertation Die Konstitution des Wunderbaren auf den Aspekt ein, der mich heute am meisten an diesem Filmtypus interessiert:

Mit der Zeitreise wird für die Figuren möglich, was eigentlich erzählenden Medien vorbehalten ist: das freie Verfügen über die Zeit. Das beliebige Hin- und Herspringen in der Chronologie ist ein Vorrecht der Fiktion, doch mit Hilfe einer Zeitmaschine kann jede Figur ihr eigenes Schicksal verändern. Ereignisse müssen nicht mehr chronologisch ablaufen, sie werden umkehrbar. (262)

Zeitreise-Erzählungen machen mit anderen Worten immer den Akt des Erzählens selbst zum Thema, sie sind in hohem Masse metafiktional respektive selbstreferenziell. David Wittenberg formuliert es in Time Travel. The Popular Philosophy of Narrative, der hellsichtigsten mir bekannten Studie zum Thema, folgendermassen: «time travel stories are a ‹narratological laboratory› in which structuring conditions of storytelling are depicted as literal plot» (143).

Ich wollte schon seit längerer Zeit etwas zu Zeitreise-Erzählungen schreiben, insbesondere zu den ersten beiden Terminator-Filmen, die ich – nicht nur, aber auch – diesbezüglich für Meisterwerke halte. Vergangenes Jahr hielt ich denn auch drei Vorträge zum Thema, gewissermassen als Aufwärmübungen für einen möglichen Artikel. Fast zufällig wurde Andreas Rauscher auf einen dieser Vorträge aufmerksam, und ehe ich mich’s versah, fragte er mich an, ob ich etwas für einen Band beisteuern wollte, den er gemeinsam mit Jörg Helbig herausgab.

Besagter Band ist nun mit dem Titel Zeitreisen in Zelluloid erschienen, und ich kann ganz unbescheiden sagen, dass ich auf meinen Beitrag mit dem bewusst kryptischen Titel «Die immobile Vierfaltigkeit. Zu The Terminator und Terminator 2: Judgement Day» ziemlich stolz bin. Es handelt sich in erster Linie um eine narratologische Analyse von Camerons Filmen, aber natürlich konnte ich es nicht lassen, bei dieser Gelegenheit auch Back to the Future zu erwähnen und noch einen kleinen Abstecher in die Literaturgeschichte zu H. G. Wells und Robert A. Heinlein zu machen, dessen Erzählung «By His Bootstraps» von 1941 den Ur-(Gross-)Vater aller Zeitreise-Paradox-Erzählungen darstellt.

Sheldon erklärt Back to the Future

Erwähnte Werke

Spiegel, Simon: Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films. Marburg: Schüren 2007.

Wittenberg, David: Time Travel. The Popular Philosophy of Narrative . New York: Fordham University Press 2013.

Spiegel, Simon: «Die immobile Vierfaltigkeit. Zu The Terminator und Terminator 2: Judgement Day». In: Helbig, Jörg/Rauscher, Andreas (Hg.): Zeitreisen in Zelluloid. Das Motiv der Zeitreise im Film Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier. 2022, 205–216.

Die Faszination von Zeitreisen

Etwas verspätet aber dennoch: Die geschätzte Brigitte Häring spricht mit mir in der Sendung Kontext auf Radio SRF 2 Kultur über Zeitreisen im Allgemeinen sowie über Back to the Future im Speziellen. Dazwischen geht es um John Wrays Roman The Lost Time Accidents (dt. Das Geheimnis der verlorenene Zeit).

Mary, Doc Brown und der DeLorean

„The way I see it, if you’re gonna build a time machine into a car, why not do it with some style?“ – Der DeLorean DMC-12.

 

Die offizielle Website zur Radiosendung.

Things to Come

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Ein zeitgenössisches Plakat – zuoberst thront Wells’ Name.

In der neuen Ausgabe des Quarber Merkurs, Franz Rottensteiners Urgestein der deutschsprachigen Phantastik-Publizistik, ist neben zwei Rezensionen ein längerer Artikel von mir zu William Cameron Menzies’ Things to Come enthalten.[ref]Bei den besprochenen Werken handelt es sich um das Metzler-Handbuch Phantastik sowie im Wolfgang Ruges Studie Roboter im Film. Die Rezensionen sind hier und hier erhältlich.[/ref] Things to Come gehört zu den Werken, an denen man nicht vorbei kommt, wenn man sich für filmische Utopien interessiert. Vielerorts ist zu lesen, dass dieser Film am ehesten als filmisches Gegenstück einer literarischen Utopie gelten kann. Für den Spielfilm dürfte dieser Befund wahrscheinlich sogar korrekt sein – Frank Capras Lost Horizon wäre ein anderer Kandidat –, was aber im Grunde nur zeigt, wie schlecht (positive) Utopie und Spielfilm zusammenpassen. Denn das, was die literarische Utopie ausmacht – die detaillierte Beschreibung der utopischen Ordnung –, ist in Things to Come weitgehend abwesend. Zwar zeigt uns der Film eine wunderbare Stadt der Zukunft, in der – fast – alle zufrieden sind, darüber, wie diese Gesellschaft organisiert ist, schweigt sich der Film aber aus.

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Wells am Set von Things to Come

Things to Come gehört zur Kategorie der grandios gescheiterten Filme. Produzent Alexander Kordas Ziel war eine sowohl inhaltlich aus auch formal anspruchsvolle Prestige-Produktion. Herausgekommen ist ein seltsamer Murks, in dem sich einzelne visuell beeindruckende Momente mit langen Monologen hölzerner Schauspieler abwechseln. Als Spielfilm definitiv gescheitert, aber als Analysenobjekt – nicht zuletzt aufgrund seiner Probleme – hoch interessant.

Die zentrale Figur des Projekts war H. G. Wells. Er sollte garantieren, dass ein ernsthafter, wichtiger Film entstehen würde, und er war wohl auch in nicht geringem Masse für dessen Probleme verantwortlich. Wells spielte sowohl in der Geschichte der Utopie als auch in derjenigen der Science Fiction eine zentrale Rolle. Obwohl es zahlreiche literarische Vorläufer gab, spricht doch einiges dafür, die Geburt der SF als eigenständiges Genre mit dem Erscheinen von The Time Machine (1895) anzusetzen.[ref]Gemeint ist hier, dass es vorher zwar durchaus Werke gab, die man heute der SF zurechnen würde, dass diese aber in anderen Genrezusammenhängen entstanden sind. Frankenstein ist eine Gothic Novel, Jules Verne steht in der Tradition phantastischer Reiseberichte etc. Wells hingen kann durchaus als Begründer einer neuen Genretradition gesehen werden, auch wenn diese erst rund 30 Jahre später in den USA zu ihrem Namen kam.[/ref] Zugleich trug Wells’ massgeblich zur Modernisierung der utopischen Literatur bei. A Modern Utopia von 1905 bringt dem Genre eine entscheidende Änderung: Wells schreibt bereits im Vorwort, dass eine moderne Utopie im Gegensatz zu ihren klassischen Vorgängern nicht statisch sein dürfe. Vielmehr muss eine zeitgemässige Form der Utopie offen und nicht auf einen fixierten Endzustand hin konzipiert sein.

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Die Stadt der Zukunft

In der zweiten Hälfte seiner Karriere trat Wells immer mehr als Politaktivist in Erscheinung. In zahlreichen Veröffentlichungen – Romanen und Sachbüchern – propagierte er seine Vision eines sozialistischen Weltstaats. Zu diesen Büchern gehört auch das 1933 erschiene The Shape of Things to Come,  eine fiktionale Chronik der Zukunft, welche die Geschichte der Menschheit von 1933 bis 2106 beschreibt. Am Ende ist der Weltstaat Realität und die Probleme der Menschheit gelöst. Dieses ziemlich dröge Buch, das die Geschehnisse primär protokolliert, also ohne eigentliche Protagonisten und dramatischen Bogen auskommt, war die Basis für den Film. Wells sollte aber nicht nur die Vorlage liefern, sondern auch das Drehbuch verfassen. Zudem gestand ihm sein Vertrag zu, bei jedem Aspekt der Produktion mitzureden. Ein Recht, von dem Wells – der davon überzeugt war, das Medium Film verstanden zu haben – ausgiebig Gebrauch machte. Die Tatsache, dass Regisseur Menzies von Haus aus Ausstatter war und weitaus mehr Erfahrung im Entwerfen dramatischer Szenerien als im Führen von Schauspieler besass, machte die Sache nicht besser.

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In Wells’ Zukunft gibt es wenig zu lachen.

Das wirklich Merkwürdige an Things to Come ist aber, dass der Film zwar zahlreiche Szenen enthält, in denen ernste Herren – in Wells’ Zukunft spielen Frauen keine grosse Rolle – ausführlich die Ansichten des Autors verbreiten, dass wir aber dennoch kaum etwas über die Organisation dieser Welt erfahren. In dieser Hinsicht erweist sich diese filmische Utopie als äusserst utopieuntypisch. Stattdessen inszeniert der Film im letzten Teil, als der Weltstaat Wirklichkeit ist, einen merkwürdigen Showdown um den Start einer Mondrakete – genauer: eines Mondprojektils –, wobei diese nur als Vorwand für einen langen Schlussmonolog der Hauptfigur erscheint.

Alles Weitere zum Film im aktuellen Quarber Merkur. Beizeiten werde ich den Artikel dann auch online stellen. Zum Schluss als kleines Schmankerl noch eine Passage aus dem Tagebuch von Arthur C. Clarke. Clarke arbeitete bekanntlich eng mit Stanley Kubrick zusammen, um das Drehbuch von 2001: A Space Odyssey zu entwickeln. Kubrick sah zu dieser Zeit alles, was er an filmischer SF auftreiben konnte, und sein Co-Autor empfahl ihm, sich doch auch mal Things to Come zu Gemüte zu führen. Kubrick Reaktion gibt Clarke folgendermassen wieder:

Stanley calls after screening H. G. Wells’ Things to Come, and says he’ll never see another movie I recommend« (Clarke 1972: 35).

Ich kann Kubricks Reaktion durchaus nachvollziehen. Man würde allerdings meinen, dass sich der Geschmack zweier Autoren, die an einem gemeinsamen Projekt arbeiten, halbwegs decken muss. Aber anscheinend ist dem nicht so …

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Bereit für den Aufbruch ins All

 

Update: Der Artikel ist nun als PDF verfügbar.

Spiegel, Simon: «‹A Film Is No Place For Argument›. William Cameron Menzies’ Things to Come». In: Quarber Merkur. Franz Rottensteiners Literaturzeitschrift für Science Fiction und Phantastik Nr. 115, 2014, 99–116.

Weitere erwähnte Literatur

Clarke, Arthur C.: The Lost Worlds of 2001. The Ultimate Log of the Ultimate Trip. New York 1972.
Wells, H. G.: Tono-Bungay and A Modern Utopia. London 1908[1905]).
Wells, H. G.: The Shape of Things to Come. New York 1979[1933].

Noch einmal «Starship Troopers»

In der FAZ ist ein Artikel zur Embattled-Heavens-Tagung erschienen (online erhältlich). Der Autor Ulf von Rauchhaupt geht darin in einem Absatz auch auf meinen Vortrag ein und schreibt:

Für Simon Spiegel (Zürich) erfüllt der Roman [Starship Troopers] alle Kriterien einer klassischen Utopie, allerdings einer, in der die Utopier das Universum «sehen, wie es ist, und nicht wie wir wollen, dass es ist». Damit könne das Buch als antiutopische Utopie gelesen werden.

So formuliert ist das ein wenig irreführend, denn das Besondere an Heinleins Roman ist nicht die Behauptung, das beschriebene Gesellschaftssystem entspreche dem wahren Wesen des Universums (resp. des Menschen). Diese Argumentation ist mehr oder weniger typisch für utopische Entwürfe. Die meisten Utopien argumentieren – oder vielmehr: behaupten –, dass der von ihnen propagierte Entwurf nicht irgendeiner Laune folgt, sondern eben der menschlichen Natur entspräche.

Ungewöhnlich an der Utopie von Starship Troopers ist einerseits ihr Pragmatismus; immer wieder wird betont, dass das Gesellschaftssystem des Romans keineswegs perfekt sei – aber es ist gut genug. It works. Noch wichtiger ist aber, dass sich der Roman explizit gegen die Vorstellung richtet, Menschen seien zu rationaler Einsicht fähig. Für Morus und dessen Nachfolger ist Erziehung ein zentrales Element des Gesellschaftsentwurfs: Die Utopie braucht vernünftige utopische Bürger, die kraft ihrer Rationalität erkennen, dass das herrschende Gesellschaftssystem das bestmögliche ist. Bei Starship Troopers dagegen gleicht Erziehung eher dem Abrichten eines Tiers (entsprechende Vergleiche fallen mehrmals). Der Mensch wird explizit als «wild animal» bezeichnet, dem korrektes Verhalten eingeprügelt werden muss. Und genau hier zeigt sich der anti-utopische und – in Bezug auf Morus – auch anti-humanistische Charakter des Romans. Das Ziel seiner Kritik sind all die «do gooders and well-meaning old Aunt Nellies», die meinen, Menschen seien zur Einsicht fähig. Am schlimmsten sind hier die verblendeten Naivlinge, die meinen, man könne jugendlichen Straftätern anders begegnen als mit Prügeln, jene «pre-scientific pseudo-professional class who called themselves ‹social workers› or sometimes ‹child psychologists›».

Das zentrale Prinzip von Heinleins utopischem Entwurf ist Gewalt. Am Ende setzt sich der Gewalttätigere durch, und wer sich durchsetzt, der hat auch Recht. Es gilt das Survival of the fittest. Diese Argumentation ist insofern wieder klassisch, als sie auf einer (pseudo-)wissenschaftlichen Begründung beruht: So funktioniert die Natur eben, und ein erfolgreiches Gesellschaftssystem muss dem Rechnung tragen.

Die sozialdarwinistische Fundierung der utopischen Gesellschaft ist keineswegs eine Erfindung Heinleins. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind eugenische Ideen – auch und gerade auf der linken Seite des politischen Spektrums – weit verbreitet.[ref]Die moderne Eugenik entsteht erst Ende des 19. Jahrhunderts. Züchtungsideen finden sich aber bereits in Platons Politeia und tauchen in der Geschichte der Utopie immer wieder auf. In Campanellas Civitas Solis ist die Obrigkeit beispielsweise darum bemüht, besonders beleibte Frauen mit dünnen Männern zu paaren, um so eine möglichst ausgeglichene Nachkommenschaft zu garantieren.[/ref] Bei H. G. Wells etwa sind eugenische Konzepte von zentraler Bedeutung.[ref]Eine Spezialität Heinleins scheint mir die Gleichsetzung von natürlicher Auslese und Gewalt zu sein. Heinlein interpretiert das Survival of the fittest als Survival of the most violent . Hierin zeigt sich ein völliges Missverständnis der darwinschen Evolutionslehre. Die fiteste Spezies ist bei Darwin jene, die am besten an das jeweilige Biotop angepasst ist. Mit Gewalt hat gar nichts zu tun. Dinosaurier sind nicht ausgestorben, weil sie weniger gewalttätig waren als Säugetiere. Ohnehin ist Gewalt ein Konzept, das nur bei bewusst handelnden Akteuren sinnvoll ist. Ein Tier kann ebenso wenig gewalttätig sein wie ein Kleinkind.[/ref] Wells kann man immerhin zugute halten, dass er seine Ideen formulierte, bevor die Nazis Ernst machten mit der Ausmerzung angeblich unwerten Lebens. Heinlein dagegen schrieb seinen Roman zu einem Zeitpunkt, als für jeden hätte offensichtlich sein müssen, wo eugenisches Denken in letzter Konsequenz hinführt.