Über kaum etwas schreibt das Feuilleton so gerne wie über das Verschwinden der Utopie bzw. das Überhandnehmen der Utopie. Dass dieses Lamento in meinen Augen nur bedingt berechtigt ist, da die Zukunft in der Science Fiction zu keinem Zeitpunkt ausschliesslich positiv war, habe ich schon verschiedentlich geschrieben.[ref]Unter anderem in diesem Beitrag.[/ref]
Zweifellos korrekt ist aber, dass sich dystopische Stoffe seit geraumer Zeit grosser Beliebtheit erfreuen. Und ebenso richtig ist, dass die Dystopie dazu tendiert, die stets gleichen Elemente zu verwenden. Letzteres ist an sich nicht ungewöhnlich, es gehört vielmehr zum Wesen eines Genres, dass es mit einem Grundstock von Motiven und Plot-Versatzstücken arbeitet und diese jeweils auf mehr oder weniger neue Weise kombiniert.[ref]Siehe dazu auch diesen und diesen Post.[/ref] Nun versteht sich die Dystopie aber dezidiert als kritisches Genre, das negative Entwicklungen dramatisch übersteigert und die Leserinnen und Zuschauer auf diese Weise aufrütteln will. Ist das bei einem Genre, das, etwas überspitzt ausgedrückt, seit Huxley und Orwell bloss die immer gleichen Motive rezykliert und heute zudem in der Form von Mega-Franchises wie die Hunger-Games-Reihe oder Serien wie The Handmaid’s Tale erscheint, aber überhaupt noch möglich? Oder anders formuliert: Ist es nicht Zeichen eines grossen Missverständnisses, wenn, wie oft kolportiert, nach der Wahl Donald Trumps Nineteen Eighty-Four plötzlich wieder in den Bestseller-Listen auftaucht? Denn was kann uns ein mehr als ein halbes Jahrhundert altes Buch, das vor einem gänzlich anderen politischen und kulturellen Hintergrund entstanden ist, wirklich über die Gegenwart sagen?
Annika Gonnermann geht in Absent Rebels, das auf ihrer Dissertation in Anglistik an der Universität Mannheim basiert, von der These aus, dass ein Grossteil der dystopischen Literatur – und damit auch der Utopieforschung – irgendwo tief im 20. Jahrhundert stecken geblieben ist. Der Feind, den es zu bezwingen gilt, ist in den meisten Romanen und Filmen immer noch der (totalitäre) Staat ist, der durch einen politischen Umsturz besiegt werden kann. Dies entspräche aber längst nicht mehr der Realität; die eigentliche Bedrohung geht heute, so Gonnermann, nicht vom Staat, sondern von einem ungebremsten kapitalistischen Wirtschaftssystem aus. Folglich kann die Lösung auch nicht in einer Rebellion gegen das herrschende politische System liegen.
Mit dieser Prämisse rennt Gonnermann bei mir offene Türen ein. Ich konnte es bisher zwar nicht so präzise wie sie benennen, aber ich teile ihr Unbehagen über den Zustand der Dystopie weitgehend. Entsprechend habe ich mich gefreut, dass ich das Buch für die Zeitschrift rezensieren konnte.
Wie ich in meiner Besprechung ausführe, kann Gonnermann ihre These überzeugend belegen. Meine Hauptkritik ist, dass Absent Rebels für meinen Geschmack zu literaturlastig ist und Bewegtbilder völlig ignoriert. Das sagt allerdings vor allem etwas über meine Interessen aus und schmälert Gonnermanns Verdienst in keiner Weise.
Die vollständige Rezension gibt es hier.
Spiegel, Simon: »Rezension von Gonnermann, Annika: Absent Rebels. Criticism and Network Power in 21st Century Dystopian Fiction. Tübingen: Narr Francke Attempto 2021«. In: Zeitschrift für Fantastikforschung 9.1, 1–6. Doi: 10.16995/zff.5691.
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