ZFF #9

Dieser Tage sollt die neue Ausgabe der Zeitschrift für Fantastikforschung bei den Abonnenten eintrudeln. Es ist das erste Heft, an dem ich als Mit-Redaktor beteiligt war, und enthält natürlich wieder zahlreiche lesenswerte Artikel.

Neue Begegnungen

Markus Orths

Ein Interview mit Markus Orths eröffnet die neue Rubrik «Begegnungen».

Neben der veränderten Redaktion wartet ZFF Nummer 9 auch mit einer inhaltlichen Neuerung auf, die mir besonders am Herzen liegt. Erstmals gibt es in dieser Ausgabe die Sparte «Begegnungen». Hier soll die Brücke zu den Menschen geschlagen werden, ohne die wir arbeitslos wären – den Schöpfern der Werke, denen wir uns widmen. Wir drucken allerdings nicht bloss ein Interview ab, vielmehr möchten wir uns einem aktuellen Werk jeweils von zwei Seiten her nähern: Durch einen wissenschaftlichen Artikel sowie in einem Gespräch mit dem/r jeweiligen Autor/in (selbstverständlich sind hier grundsätzlich auch Gespräche mit Schöpfern nicht-literarischer Werke denkbar). Den Auftakt macht Ebenfalls-Neu-Redaktorin Laura Zinn mit Markus Orths’ Roman Alpha & Omega.

Die Rubriken «Review-Essay» und «Internationale Perspektiven zur Fantastik» sind zwar nicht neu, in dieser Ausgabe ist aber Letztere mit zwei Artikeln besonders prominent vertreten. Matthias Teicher gibt in seinem Artikel einen Überblick über das (den?) Finnish Weird und Co-Redaktor Jacek Rzeszotnik widmet sich der polnischen Nachkriegsfantastik. Während mir die finnische Literatur insgesamt völlig unbekannt ist, kenne ich aus dem Bereich der polnischen Phantastik zumindest das Werk Stanisław Lems recht gut; wie nicht anders zu erwarten, zeigt Jacek aber, dass sich die polnische Phantastik durchaus nicht auf Lem beschränkt.

Wieder einmal Todorov

Tzvetan Todorov mit Schubladen

Treibt die Forschung schon lange um: Tzvetan Todorov.

Eröffnet wird das Heft durch zwei Artikel, zu denen ich eine besondere Beziehung habe. Im einen Fall ist das nicht weiter erstaunlich, denn er stammt aus meiner Feder. Die Idee zu «Wovon wir sprechen, wenn wir von Phantastik sprechen» hatte ich schon vor geraumer Zeit; tatsächlich hat das Stöbern in alten E-Mails ergeben, dass ich GFF-Chef und Mit-Redaktor Lars Schmeink gegenüber bereits Ende 2010 davon sprach; gut Ding will eben Weile haben … In dem Artikel widme ich mich einmal mehr der alten Streitfrage der Phantastik-Definition. Allerdings schlage ich keine neue Nomenklatur vor, vielmehr geht es mir um eine meta-theoretische Reflexion darüber, warum die Frage, was Phantastik denn nun wirklich ist, so unterschiedliche Ergebnisse zeitigt. Im Kern – und für aufmerksame Leser dieses Blogs nicht unbedingt erstaunlich – dreht sich alles um genretheoretische Fragen. Polemisch formuliert: Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Phantastikforschung kümmert sich nicht um die Erkenntnisse der Genretheorie, was sich direkt auf die jeweiligen Definitionen auswirkt.

Teil meiner Argumentation ist eine ausführliche Auseinandersetzung mit Tzvetan Todorovs Phantastiktheorie, da in dieser im Grunde bereits alle wesentlichen Probleme zutage treten. Es ist nur wenig übertrieben zu sagen, dass sich in der Phantastikforschung seit Todorov in genretheoretischer Hinsicht fast nichts getan hat.

Nach meiner Diss und dem Büchlein Theoretisch phantastisch ist das nun bereits das dritte Mal, dass ich mich an Todorov abarbeite, und ich bin vorsichtig optimistisch, dass  das Thema damit zumindest für mich vorerst gegessen ist.

Update: Der Artikel ist mittlerweile online verfügbar.

Die Wahrheit über Utopia

[zff]_99814-9_1-2015.inddWährend der Phantastik-Artikel eher eine Frucht meiner bisherigen wissenschaftlichen Beschäftigung darstellt, ist der zweite Artikel, Thomas Schölderles «Die Genese Utopias», direkt mit meinem aktuellen Forschungsprojekt verbunden. Schölderles Dissertation Utopia und Utopie ist einer der zentralen Bausteine, auf dem meine aktuelle Arbeit aufbaut; umso mehr freut es mich, dass er unsere Zeitschrift mit einem Artikel bedacht hat. Schölderle reagiert darin auf eine These des Anglisten Jürgen Meyer, der in seiner Habilitation Textvarianz und Schriftkritik argumentiert, dass die veröffentliche Version von Thomas Morus’ Utopia zahlreiche Änderungen enthielt, die gegen den Willen das Autors vorgenommen wurden. Insbesondere die Begleittexte und eine angeblich nicht von Morus autorisierte Gräzisierung diverser Namen hätten dazu geführt, dass das veröffentliche Buch nicht mehr Morus’ Absichten entsprach. Wäre an dieser Behauptung etwas dran, hätte das weitreichende Folgen, da insbesondere die dem eigentlichen Buch vorangestellten Begleittexte normalerweise als Hinweis für dessen satirische Absicht gelesen werden. Wenn diese und die zahlreichen griechischen Wortspiele – u.a. der Titel «Utopia» selbst – nicht mehr von Morus stammen, stehen die bisher gängigen Interpretation insgesamt zur Debatte. Alle, die Schölderles Arbeiten kennen, dürfte es kaum überraschen, dass er Meyers These detailliert zerpflückt. Obwohl der Artikel streng genommen eine Erwiderung auf Meyer ist, eignet er sich hervorragend als Einführung in den komplexen Aufbau des morusschen Urtextes.

Selbstverständlich dürfen auch in dieser Ausgabe die wissenschaftlichen Rezensionen nicht fehlen; 13 Stück sind es dieses Mal, und sie reichen von dem von Rob Latham herausgegebenen Oxford Handbook of Science Fiction über den Sammelband Harry Potter Intermedial bis Jon Towlsons Subversive Horror Cinema.

Einmal mehr also reichhaltiges Material für alle Phantastikforscher.

Das Inhaltsverzeichnis zum Download.

Tomorrowland zum Zweiten

Wie immer gilt ein genereller Spoilervorbehalt.1

Nachtrag zu meinem letzten Eintrag zu Tomorrowland: Dass der Film eine Utopie frei von Politik entwirft, habe ich ja bereits dargelegt. Der Fokus liegt ganz auf der individuellen Kreativität; wenn sich alle Genies austoben dürften, können sie die Welt flicken. – Tatsächlich ist dieser Begriff zentral für den Film. Protagonistin Casey fragt in in einer zentralen Sequenz, in der vorgeführt wird, wie sie und ihre Altersgenossen in der Schule nur mit negativen Szenarien zugeschüttet werden, entnervt: «How do we fix it.»

Obwohl «to fix» auch anders übersetzt werden kann, legt Brad Birds Film immer wieder nahe, dass die Frage einer guten Zukunft letztlich technischer Natur ist. Es herrscht eine Ingenieurslogik vor, die besagt, dass die drängenden Probleme der Gegenwart von schlauen Tüftlern wie Frank und Casey gelöst werden könnten. Diese Einschätzung ist natürlich kreuzfalsch. Eigentlich ist kaum eines der grossen Probleme der Gegenwart – Hunger, Klimaerwärmung, Armut etc. – primär technischer Natur. Der Klimawandel wird natürlich durch fossile Brennstoffe etc. hervorgerufen, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, bräuchte es aber keine bahnbrechenden Technologien, sondern in erster Linie eine sinnvollere Nutzung der bestehenden.

Das Maximum an Futurismus? – Der junge Frank mit seinem selbst gebastelten Raketenrucksack.

Das Maximum an Futurismus? – Der junge Frank mit seinem selbst gebastelten Raketenrucksack.

Technische Weiterentwicklungen würden sicher nicht schaden, aber solange der neue Supermotor oder das Wunderkraftwerk nicht günstiger ist als bestehende Technologien, werden sie nicht viel verändern. So prosaisch und langweilig das auch klingen mag, am Ende läuft vieles auf wirtschaftliche Überlegungen hinaus. Auch die Tatsache, dass viele Menschen nicht genug zu essen kriegen, liesse sich mit einer Wundererfindung kaum lösen. Respektive: Selbst wenn diese Wundererfindung – Superdünger, Essen, das sich selbst regeneriert, etc. – existierte, hätten die Hungernden sehr wahrscheinlich dennoch nichts davon, weil sie sie sich nicht leisten könnten. Genug zu essen auf der Erde gäbe es ohnehin schon heute; das Problem ist – und das gilt letztlich für fast alle Bereiche – die Verteilung. Die Ursachen für das Elend der Welt sind politischer resp. wirtschaftlicher Natur; solange es wirtschaftlich attraktiv ist, dass Menschen hungern, Regenwälder abgeholzt und Kohlekraftwerke gebaut werden, werden diese Dinge auch weiterhin geschehen. Technische Neurungen werden daran wenig ändern.2

Wirklich frappant ist aber, dass Tomorrowland für einen Film, der Freude für die Welt von morgen wecken soll, erstaunlich wenig futuristische Elemente enthält. Frank hat in seinem Anwesen einige lustige Gadgets untergebracht, Tomorrowland selbst verharrt dagegen weitgehend in einem überholten 1960er-Futurismusm, wo Raketenrucksack und Einschienenbahn das Höchste der Gefühle darstellen. Was Tomorrowland feiert, ist denn auch gar nicht die Zukunft, sondern die Erinnerung an eine längst vergangene Zukunft.

Dass die Verbindung von fehlenden Optimismus und dem Niedergang der NASA, die in Tomorrowland nahe gelegt wird, unsinnig ist, habe ich bereits ausgeführt. Matt Novak argumentiert auf dem Paleofuture-Blog ähnlich:

In fact, most people of the 1960s thought space travel was a waste of time and money. Baby Boomers who were kids in the 1960s remember support for the space program as universal because they were kids at the time. And they weren’t polling 10 year olds about the space program in 1964.

Novaks Beobachtung scheint mir korrekt. Der Weltraum-Zukunftsoptimismus von Tomorrowland ist ein zutiefst kindlicher. Was der Film zelebriert, ist gar nicht der Blick nach vorne, sondern die wehmütige Rückschau. Es geht in Birds Film nicht um Zukunftsoptimismus, sondern um Nostalgie.

Das traditionelle Disney-Logo …

Das traditionelle Disney-Logo …

… und die neue Version von <em class="Film">Tomorrowland</em>.

… und die neue Version von Tomorrowland.

Nun ist es ja nicht weiter erstaunlich, dass ein Disney-Film auf Nostalgie setzt. Das feierliche Inszenieren einer niedlichen Vergangenheit, die niemals war, ist gewissermassen die Kernkompetenz des Mäuse-Konzerns. All die Märchenschlösser, Feen, Kutschen und süssen Zwergenhüttchen, aber auch die Einfamilienhäuschen in Suburbia mit weissem Lattenzaun und rotem Briefkasten, die wir mit Disney assoziieren, sind hoch artifiziell; Imaginationen einer besseren Zeit, die es nie gab. Dass früher oder später auch das, was einmal die Zukunft war, mit diesem Nostalgie-Zuckerguss überzogen wird, kann nicht erstaunen. Dass man sich bei Disney dieser Entwicklung sehr bewusst ist, zeigt sich an Details wie dem Disney-Logo zu Beginn des Films: Statt der traditionellen Magic-Kingdom-Silhouette setzt man auf eine Tomorrowland-Skyline, die mit dem traditionellen Look wunderbar harmoniert.

Nostalgie ist der SF keineswegs fremd. In meiner Dissertation habe ich vielmehr argumentiert, dass das, was in Fankreisen oft als Sense of Wonder bezeichnet wird, jenes erhabene Gefühl des Ergriffenseins, das SF im besten Fall auslösen kann, ein durch und durch nostalgisches Phänomen ist. Im Schlusskapitel habe ich dazu Folgendes geschrieben:

Der Sense of Wonder ist keine Empfindung, die alleine der SF vorbehalten wäre, wahrscheinlich steht er als Grunderfahrung am Beginn jeglicher Liebe zur Kunst – vielleicht sogar der Liebe überhaupt. Und wahrscheinlich erwächst aus ihm ebenso romantisierende Nostalgie wie jene bornierte Rückwärtsgewandtheit, die überzeugt ist, dass früher grundsätzlich alles besser war. Wenn dem so ist und wenn die SF, wie ich in dieser Studie versucht habe darzulegen, dank ihres Wesens und Funktionierens besonders dazu geeignet ist, den Sense of Wonder zu erzeugen, dann scheint SF kein Modus des visionären Vorwärtsschauens zu sein, sondern vielmehr des wehmütigen Blicks zurück, zurück in jene Zeit, als die Zukunft noch jung war und alles möglich schien (Die Konstitution des Wunderbaren333 f.).

Auf die Gefahr hin, mich selbst zu loben: Als Beschreibung dessen, was in Tomorrowland geschieht, scheint mir das überaus treffend. Der Film selbst liegt diesen Schluss übrigens selbst nahe: Nicht umsonst spielt eine wichtige Szene des Films in einem SF-Fanshop, der Blast from the Past heisst (betrieben wird er übrigens von einem Hugo Gernsback  …).

Angefüllt mit SF-Nostalgie: Blast from the Past.

Angefüllt mit SF-Nostalgie: Blast from the Past.

Die Verbindung von SF und Nostalgie ist somit durchaus nicht ungewöhnlich, wie aber verhält es sich mit der Utopie? Dass zumindest die Dystopie oft die heile Vergangenheit der Gegenwart gegenüberstellt, habe ich schon mehrfach argumentiert. Ganz knapp zusammengefasst meine Überlegung: Die Dystopie nimmt negative Tendenzen der Gegenwart und projiziert sie in riesenhaft überhöht in die Zukunft. Die Botschaft: Noch besteht die Möglichkeit, den Niedergang aufzuhalten, wir müssen bloss zurück zu … Die meiste Dystopien haben zumindest implizit eine nostalgische Schlagseite. 3

Was das Verhältnis von Utopie und Nostalgie betrifft, bin ich mir noch unsicher. Ich muss mir dazu wohl noch ein paar Gedanken machen,  spontan scheinen mir aber die meisten Utopien dezidiert unnostalgisch. Der Reiz der klassischen Utopie liegt gerade in der Tabula rasa: Reinen Tisch machen und alles neu entwerfen. Nostalgie steht dieser Haltung diametral entgegen. Das müsste man aber noch im Detail untersuchen; insbesondere im Zusammenhang mit neueren Utopien des 20. und 21. Jahrhunderts, die nicht den totalen – und totalitären – Anspruch der klassischen Entwürfe haben. Auch die Geschichte von Tomorrowland – dem Disney-Themenpark – und die Rolle von Walt Disney müsste man in diesem Zusammenhang genauer anschauen. Dass Disney nicht nur eine konservative, sondern auch eine sehr progressive Seite hatte, dass er seine Themenparks durchaus als utopische Projekte verstand, habe ich schon mehrfach gelesen. Systematisch damit beschäftigt habe ich mich aber noch nicht. Mal schauen, ob ich irgendwann dazu komme …

Update: Der neue Artikel von Charlie Jane Anders auf io9.com bringt einige Aspekte, die ich angesprochen hat, auf den Punkt. Zum Beispiel dieses schöne Zitat: «Nostalgia is closer to being optimism’s enemy than its friend. Nostalgia is a fundamentally regressive, non-constructive sentiment.»

  1. Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie leidet, sollte die Einträge zu aktuellen Filmen somit besser meiden.[]
  2. Allenfalls die Energieversorgung ist ein technisches Problem, wobei – analog zur Klimaerwärmung – bereits heute zahlreiche Möglichkeiten bestünden, den Verbrauch zu senken. Dass dies nicht geschieht hat – einmal mehr – primär politisch-wirtschaftliche Gründe.[]
  3. Siehe dazu: «Bilder einer besseren Welt. Über das ambivalente Verhältnis von Utopie und Dystopie». In: Mamczak, Sascha/Jeschke, Wolfgang (Hgg.): Das Science Fiction Jahr 2008. München 2008, 58–82. [PDF]; «Schöne Aussichten oder: Warum die Zukunft auf jeden Fall schrecklich sein wird». In: Cinema, Nr. 53, 2007, 133–140. [PDF][]