Utopia (Neuübersetzung von Michael Siefener)

Erschienen im Quarber Merkur 116.

Dass ein Buch auch 500 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch gelesen wird, kommt selten genug vor. Der spätere Lordkanzler und Märtyrer Thomas Morus muss also etwas richtig gemacht haben, als er seine Utopia schrieb. 1516 erstmals in lateinischer Sprache erschienen, hat das Buch ein ganzes Genre begründet und wird auch heute noch eifrig diskutiert. Das Feuilleton spricht seit geraumer Zeit vom vermeintlichen Ende resp. der Wiederentdeckung der Utopie und in der Wissenschaft ist die Gattung so populär wie kaum je zuvor. Warum also nicht den Urtext, das Werk, mit dem alles begann, in neuer Übersetzung herausbringen?

UtopiaJa, warum eigentlich nicht? Ein Argument, das gegen ein solches Unterfangen sprechen würde, wäre, dass an zuverlässigen deutschen Übersetzungen eigentlich kein Mangel herrscht. Mehr als ein halbes Dutzend verschiedene Übertragungen sind derzeit lieferbar, weitere sind frei im Netz erhältlich; die wohl populärste, jene von Klaus J. Heinisch in seinem Sammelband Der utopische Staat, hat schon über 25 Auflagen hinter sich.

Die Fassung von Michael Siefener, der Phantastik-Interessierten sowohl als Übersetzer wie auch als Autor bekannt sein dürfte, schafft den Spagat zwischen zeitgemäßer Sprache und dem altertümlichen Duktus des Originals recht gut und liest sich insgesamt etwas flüssiger als die nicht mehr ganz taufrische Heinisch-Fassung; allerdings ist die Wortwahl stellenweise etwas zu modern ausgefallen. Beispielsweise übersetzt Siefener eine Passage, in der es darum geht, dass die weisen Ratschläge eines Philosophen bei Hofe kaum geschätzt würden, folgendermaßen: »Was könnten solche seltsamen Informationen nützen, und wie könnte man sie denjenigen einbläuen, die bereits vom Gegenteil überzeugt sind?« (65). Ganz abgesehen davon, dass man Informationen eigentlich nicht einbläuen kann, scheint die Wortwahl hier weder inhaltlich noch stilistisch wirklich treffend. Heinisch übersetzt das lateinische »sermo tam insolens« schlicht mit »so ungewohnte Worte«, in englischen Übersetzungen ist auch das spezifischere »totally unfamiliar line of thought« oder »alien line of argument« zu lesen, was in diesem Kontext passender scheint.

In einer Vorbemerkung weist Siefener darauf hin, dass ihm als primäre Vorlage nicht das lateinische Original diente, sondern die erste englische Übersetzung von Ralph Robinson aus dem Jahre 1551 resp. 1556. Bei Puristen dürft dies ebenso ein Naserümpfen provozieren wie die Anmerkung, dass der Übersetzer im Zweifelsfall auf die Erstausgabe von 1516 zurückgriff. Von dieser ist bekannt, dass sie zahlreiche Druckfehler enthielt, als Referenzausgabe gilt heute allgemein die dritte Auflage vom März 1518. Nun ist die Publikation des Marix-Verlags kaum für ein wissenschaftliches Publikum gedacht, entsprechend könnte man solche Feinheiten ignorieren. Was angesichts des wohl intendierten Publikums aber umso mehr irritiert, ist der vollständige Verzicht auf Begleitmaterial.

Thomas Morus.

Thomas Morus.

Die Utopia ist ein äußerst komplexes Werk. Morus hat es für einen kleinen Kreis von Humanisten, also für die intellektuelle Elite seiner Zeit, geschrieben, und so ist es nicht weiter erstaunlich, dass heutige Leser ohne entsprechende Hilfe ihre eigentliche Bedeutung kaum erfassen dürften. Denn entgegen dem, was landläufig unter ›Utopie‹ verstanden wird, entwirft der Autor keineswegs seinen persönlichen Idealstaat. Die auf der sagenhaften Insel Utopia herrschende Staatsordnung ist vielmehr ein Gegenbild zur als negativ empfundenen Gegenwart. Dieses Gegenbild hat stellenweise durchaus Vorbildcharakter, kippt aber oft auch ins satirische Gegenteil um. Um das zu erkennen, wäre aber irgendeine Form von Einführung nötig. Es muss ja kein historisch-kritischer Apparat sein, aber einen Kommentar, einen biographischen Abriss, ein Glossar oder zumindest Hinweise auf Sekundärliteratur würde man bei einem solchen Werk normalerweise schon erwarten. Die mit weniger als zwei Seiten sehr knapp ausgefallene »Vorbemerkung des Übersetzers« reicht auf jeden Fall nicht als Heranführung an den Text.

Utopia ist gespickt mit Wortspielen, manche hat Siefener im Text in Klammern aufgelöst, »dort, wo die Wissenschaft über die Bedeutung noch heute streitet, wurde sie weggelassen« (8). Dieses Vorgehen ist doch eher befremdlich und wird zudem nicht konsequent umgesetzt. Beispielsweise wird die Bedeutung der Namen ›Utopia‹ und ›Hythlodaeus‹ nirgends erklärt. Denn ›Utopia‹ kann sowohl als ›ou-topos‹ (Nicht-Ort) wie auch als ›eu-topos‹ (guter Ort) verstanden werden. Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass diese Doppeldeutigkeit beabsichtigt ist. Ähnlich ambivalent ist der Name der Figur, die von der Insel Utopia berichtet: Hythloadaeus kann als ›Feind des Geschwätzes‹ oder aber als ›Possenreißer‹ übersetzt werden. Zwar ist sich die Forschung hier in der Tat uneins, ein entsprechender Hinweis wäre aber auf jeden Fall hilfreich.

Bedauerlich ist auch, dass die Begleittexte der ersten vier Ausgaben, die so genannten Parerga, komplett wegfallen, da diese »eher einen Rahmen um den Text bilden, als dass sie ihn erhellen würden« (8). Diese Einschätzung überrascht ebenfalls, denn die verschiedenen Briefe und Gedichte, die von befreundeten Humanisten stammen, sind durchaus erhellend. Sie zeigen nämlich deutlich, dass der von Morus intendierte Leserkreis dessen satirische Absicht sehr genau verstand. Indem er den erfundenen Raphael Hythlodaeus in einem Gespräch mit zwei Figuren namens Thomas Morus und Peter Giles in dessen Haus in Antwerpen von der Insel Utopia berichten lässt, betreibt der Autor ein kunstvolles Spiel mit Wirklichkeit und Täuschung. Im Gegensatz zu Hythlodaeus ist Giles eine reale Person, die in Antwerpen tatsächlich mit Morus zusammenkam. In ihren Briefen spielen Giles, Erasmus von Rotterdam und andere dieses Spiel munter weiter; sie loben den nicht realen Hythlodaeus, erkundigen sich nach der Lage der Insel Utopia und geben mit zahlreichen ironischen Wendungen zu verstehen, dass das Buch eben auch seine spielerische Seite hat.

Es muss fairerweise angefügt werden, dass Siefener hier einer leider gängigen Praxis folgt. Keine deutsche Fassung gibt die Parerga vollumfänglich wieder. Eine Neuübersetzung, welche diesen Missstand beheben würde, wäre in der Tat eine sinnvolle Sache gewesen. Ob es eine Fassung ohne Parerga braucht, die zudem auf jede Erläuterung verzichtet, ist dagegen eher zu bezweifeln.

Morus, Thomas: Utopia. Neu übersetzt von Michael Siefener. Marix Verlag. Wiesbaden 2013, 256 Seiten, gebunden. 10 €. Erhältlich bei Amazon.

Der Auftakt zum Utopia-Jubiläum

2016 stehen diverse Jubiläen an: 100 Jahre Dada Zürich, der 400. Todestag von William Shakespeare, 500 Jahre bayerisches Reinheitsgebot sowie das 500-jährige Jubiläum der Erstausgabe von Utopia. Im Dezember 1516 erschien beim Drucker Dirk Martens im niederländischen Löwen Thomas Morus’ De optimo rei publicae deque nova insula Utopia, wie das Werk mit vollem Titel heisst (ein frei verfügbares Digitalisat dieser Erstausgabe konnte ich bislang nicht finden; die dritte in Basel erschienenen Version, die allgemein als Referenzausgabe gilt, ist dagegen als PDF erhältlich).

Utopia (1518)

Das Titelblatt der Utopia-Ausgabe von 1518.

Dass ein Buch auch ein halbes Jahrtausend nach seinem Erscheinen noch diskutiert wird, kommt selten genug vor. Im Falle der Utopia scheint das Interesse mit jedem Jahrhundert zuzunehmen. Die Fülle an Publikationen zu Morus’ Meisterwerk ist längst nicht mehr zu überblicken und nimmt laufend zu; dass im Jubiläumsjahr zahlreiche Tagungen zum Thema anstehen, versteht sich von selbst (auch ich selber bin für eine mitverantwortlich, aber dazu später mehr, wenn die Sache konkreter wird).

Doch auch ausserhalb des akademischen Zirkus scheint das Thema Utopie so aktuell wie noch nie. Im Zeitalter von Terrorismus, Banken- und Flüchtlingskrise sowie Klimaerwärmung, werden allerorten neue Utopien gefordert resp. die dystopischen Zustände der Gegenwart beklagt (siehe dazu auch diesen Blogeintrag). Kaum ein Zeitungsfeuilleton, das sich in den vergangenen Jahren nicht zum Thema geäussert hätte, und dieses Jahr dürften es noch mehr werden. Es steht heuer also einiges an. Ich habe denn auch vor, dieses Jahr regelmässiger zum Thema bloggen. Mal schauen, ob ich diesem Vorsatz Folge leisten kann, oder ob er sich als utopisch erweisen

Wer hat die Utopia geschrieben?

Wer ist der Autor der Utopia? – Die Antwort auf diese Frage scheint nicht wirklich strittig. Verfasser des 1516 erstmals in lateinischer Sprache erschienenen Textes, der ein ganzes Genre begründet hat und heute, fast 500 Jahre nach der Erstauflage, nur wenig von seiner Aktualität verloren hat, ist natürlich Thomas Morus, seines Zeichens einer der herausragenden Vertreter des Renaissance-Humanismus, Busenfreund von Erasmus von Rotterdam, englischer Lordkanzler unter Heinrich VIII., Märtyrer und schliesslich Heiliger der rttholischen Kirche.

Die Karte der Erstausgabe von 1516.

Die Karte der Erstausgabe von 1516.

Soweit die allgemein akzeptierte Antwort, doch bei genauerer Betrachtung erweist sich die Sache als ein wenig komplizierter. Morus schickte das Manuskript im September 1516 an Erasmus, der sich gemeinsam mit dem Antwerpener Stadtschreiber Peter Giles – der als Figur in der Utopia auftritt – um den Druck kümmern sollte. Zugleich bat er Erasmus, dass dieser andere Humanisten um Begleitschreiben angehen möchte. Die Erstausgabe, die in Löwen erschien, erhielt dann auch diverses Zusatzmaterial: Neben verschiedenen Begleitbriefen u.a. eine Karte der Insel Utopia, ein Gedicht in utopischer Sprache inklusive lateinischer Übersetzung und einem utopischen Alphabet sowie Randglossen, welche den Text kommentieren. An diesen Zusätzen, den sogenannten Parerga, war Morus entweder gar nicht oder bestenfalls indirekt beteiligt. In den folgenden Ausgaben – alleine bis 1519 erschienen vier weitere – änderte sich die Zusammensetzung der Parerga jedes Mal wieder. So fehlten in der Pariser Ausgabe von 1517 sowohl die Karte wie auch das utopische Gedicht, während die Basler Ausgabe vom März 1518 mit einer neuen Karte von Ambrosius Holbein aufwartete. Ähnlich bei den Begleitbriefen: Enthielten die ersten beiden Ausgaben noch einen Brief und ein Gedicht des Humanisten Johannes Paludanus, fielen diese in der Folge weg.1

Die Karte von 1518.

Die Karte von 1518.

Mit anderen Worten: Das Buch, das 1516 erschien, ist nicht das alleinige Werk von Thomas Morus. Diese Erkenntnis ist an sich noch nicht sonderlich umstürzend. Dass ein Buch auf dem Weg vom Autor zum Publikum Änderungen erfährt, ist nicht ungewöhnlich – weder damals noch heute. Man denke nur an so banale Dinge wie die Gestaltung des Covers oder die Frage, ob ein Buch z.B. in einem Genreverlag erscheint oder bei einem auf Hochliteratur spezialisierten Haus. Bereits derartige Äusserlichkeiten, die oft nicht in der Hand des Autors liegen, können die Rezeption nachhaltig beeinflussen.

In Utopia berichtet ein Ich-Erzähler namens Thomas Morus, wie ihm ein Freund – eben besagter Peter Giles – bei einem Besuch in Antwerpen einen Mann namens Raphael Hythlodaeus vorstellt. Dieser Hythlodaeus hat Amerigo Vespucci auf dessen drei letzten Fahrten in die Neue Welt begleitet; bei dieser Gelegenheit ist er auf die Insel Utopia gestossen. Das Buch setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Im ersten diskutieren Hythlodaeus und Morus darüber, ob sich Gelehrte wie Hythlodaeus als Berater in den Dienst von Fürsten begeben sollten. Hythlodaeus lehnt das entschieden ab und übt zudem scharfe Kritik an den politischen Verhältnissen in England. Der zweite Teil besteht dann vor allem aus seiner Beschreibung der Insel Utopia, deren politische und soziale Organisation er in vielerlei Hinsicht für vorbildlich hält.

Utopisches Gedicht und Alphabet der Erstausgabe.

Utopisches Gedicht und Alphabet der Erstausgabe.

Der grosse Streitpunkt bei der Interpretation der Utopia ist seit jeher, ‹wie ernst das Buch gemeint ist›. Die Palette der Antworten, die bereits gegeben wurden, deckt das ganze Spektrum ab: Vom reinen Jux bis zum proto-kommunistischen Aktionsprogramm wurde so ziemlich alles in den Text hinein gelesen. Unabhängig davon, dass beide Varianten in ihrer Extremform falsch sein dürften, wird somit etwas deutlich: Die Intention des Autors und damit verbunden auch die Frage, wer eigentlich für den Text verantwortlich ist, spielt bei dessen Interpretation eine nicht zu unterschätzende Rolle. Und da die  Utopia vielerorts als Urtext und Genreprototyp der Utopie verstanden wird, ist auch die Konzeption des Genres insgesamt von dieser Frage betroffen. Zur Diskussion steht damit auch, inwieweit sich die Parerga auf die Rezeption der Utopia auswirken und ob sie der ursprünglichen Intention von Morus – soweit diese überhaupt rekonstruierbar ist – entsprechen oder dieser entgegen stehen.

Nun hat die moderne Literaturwissenschaft generell ein schwieriges Verhältnis zur – tatsächlichen oder vermeintlichen – Intention des Autors. Allgemein gilt der Grundsatz, dass man als Interpret vom Text und nicht vom Verfasser ausgehen sollten; denn was Letzterer wollte, lässt sich oft nicht genau eruieren und muss zudem keineswegs ausschlaggebend sein. Ein Text kann durchaus eine Wirkung entfalten, die vom Autor gar nicht beabsichtigt war. Dies ist auch im Falle der Utopia nicht anders. Tatsächlich macht eine genaue Lektüre des Textes dessen Absicht aber sehr wohl deutlich – nicht zuletzt dank den Parerga.

Morus betreibt in seinem Text ein äusserst kunstvolles Verwirrspiel um Fiktion und Nichtfiktion. Er nimmt zwei reale Personen – sich selbst und Peter Gilles – sowie ein reales Ereignis – Morus war tatsächlich in Antwerpen –, um die fiktive Figur Hythlodeaus einzuführen, die dann von der nicht realen Insel Utopia berichtet. Indem er Hythlodeaus zum Befürworter der utopischen Ordnung macht, den Ich-Erzähler Thomas Morus aber als skeptischen Zuhörer zeichnet, wird deutlich, dass Utopia mitnichten als Entwurf eines in allen Punkten anzustrebenden Idealstaates zu verstehen ist.

Morus war ein grosser Bewunderer des antiken Satirikers Lucian; unter anderem hat er mehrere Werke Lucians übersetzt. Und in dieser Tradition steht auch die Utopia; Morus wollte mit seinem Buch nicht ein politisches Programm entwerfen, sondern ein Gegenbild zur Realität, in der er lebte. Ein Gegenbild, das stellenweise Vorbildcharakter hat, das aber auch viele satirische Elemente enthält. Besonders deutlich wird die satirische Absicht, wenn Hythlodaeus beschreibt, dass die Utopier an Geld nicht interessiert seien und daraus Nachttöpfe und Ketten für ihre Gefangenen fertigten. Die zahlreichen sprechenden Namen strotzen ebenfalls vor Ironie. Dass ‹Utopia› als ‹ou-topos› – griechisch für ‹Nicht-Ort› – verstanden werden kann, ist dabei nur das offensichtlichste Wortspiel. Unter anderem trägt die Hauptstadt Utopias, durch die der Fluss «Anydrus» (Wasserlos) fließt, den Namen «Amaurotum» (Nebel- oder Schattenstadt, was wohl auf London anspielt) und wird von einem Fürsten mit dem Titel «Ademos» (Ohnevolk) regiert.

Derartige Wortspiele setzten gute Griechischkenntnisse voraus, was beim ursprünglichen Zielpublikum, dem Humanistenkreis um Morus und Erasmus, auch gegeben war. Dass diese die satirische Intention des Werks erkannten, zeigen die Parerga. In den verschiedenen Briefen – aber auch in den Randbemerkungen, die wahrscheinlich von Giles spannen –, wird das ironische Versteckspiel, das Morus begonnen hat, fröhlich fortgesetzt. So bittet Morus Giles in einem Brief darum, von Hythlodaeus die genaue Lage der sagenhaften Insel in Erfahrung zu bringen, denn er – Morus – habe vergessen, diesen danach zu fragen. Giles wiederum schreibt dann in einem Brief an Hieronymus van Busleyden, er wisse ebenfalls nicht, wo Utopia liege, da jemand gerade in dem Moment gehustet habe, als Hythlodaeus dazu genaue Angaben machte.

Die Funktion der Parerga ist somit nicht zuletzt, auf den humoristischen Grundton des Textes aufmerksam zu machen. Unabhängig davon, wie weit Morus selbst für die verschiedenen Druckfassungen verantwortlich war, scheinen seine Mitstreiter also genau verstanden zu haben, worauf er mit seinem Text hinaus wollte.2 Dass dieses Verfahren längst nicht von allen erkannt wird, liegt in der Natur der Sache. Angeblich soll es bereits zu Morus’ Lebzeiten Leser gegeben haben, die Hythlodaeus’ Bericht für bare Münzen nahmen. Je grösser der Leserkreis wurde, desto häufiger dürften derartige Missverständnisse geworden sein. Mit dafür verantwortlich war wohl auch, dass die Parerga, welche den Leser entsprechend lenken sollten,  in den Folgeauflagen und den Übersetzungen oft weggelassen wurden. Manche frühe Übersetzung verzichtete sogar auf das ganze erste Buch und konzentrierte sich auf die vermeintliche Hauptsache, die Beschreibung der Insel Utopia. Dass die Interpretation in der Folge grundsätzlich anders ausfiel, kann nicht erstaunen.

Seit kurzem in meinem Besitz: Die Yale-Ausgabe.

Seit kurzem in meinem Besitz: Die Yale-Ausgabe.

Obwohl sich die Forschung heute weitgehend einig ist, dass Utopia nicht eins zu eins als politische Programmschrift gelesen werden darf, dass jede Interpretation die satirischen und ironischen Volten berücksichtigen muss, hat sich die Editionspraxis nur unwesentlich verbessert. Ein Konsens, welche Ausgabe massgeblich ist, existiert nach wie vor nicht. Heute existieren zwei Referenzfassungen der Utopia: Die ‹klassische›, die 1965 im Rahmen der Complete Works bei Yale University Press erschienen ist (und die ich seit neuestem mein Eigen nenne), sowie eine neuere, die von Cambridge University Press veröffentlicht wurde. Beide enthalten die Parerga und Glossen in lateinischer und englischer Sprache. Sieht man von diesen beiden relativ teuren und primär für Spezialisten gedachten Ausgaben ab, ist die Situation wenig erfreulich; die gängigen Taschenbuchausgaben und Übersetzungen verzichten fast alle auf die Parerga – das gilt auch für die wohl gebräuchlichste deutsche Fassung, die von Klaus J. Heinisch in dem Sammelband Der utopische Staat herausgegeben wurde, in dem auch Tommaso Campanellas Civitas Solis sowie Francis Bacons Nova Atlantis enthalten sind.3

Wie bereits angedeutet geht es hier nicht nur um philologische Fliegenbeinzählerei. Trotz ihres stattlichen Alters ist die Utopia kein obskurer Text, sondern wird noch immer rezipiert und dient vielerorts dazu, die Utopie als Genre zu definieren. Ihre Interpretation ist somit für alle, die sich mit Utopien beschäftigen, von grundlegender Bedeutung. Ein vollständige deutsche Ausgabe wäre deshalb auf jeden Fall wünschenswert.

Literatur

Cave, Terence Christopher (Hg.): Thomas More’ s «Utopia» in Early Modern Europe: Paratexts and Contexts. Manchester 2008.

Heinisch, Klaus J. (Hg.): Der utopische Staat. Utopia. Sonnenstaat. Neu-Atlantis. Reinbek bei Hamburg 2001.

More, Thomas: The Yale Edition of the Complete Works of St. Thomas More. Bd. 4: Utopia. Hg. von Edward Surtz und J. H. Hexter. New Haven/ London 1965.

Utopia. Latin Text and English Translation. Übers. von Robert M. Adams. Hg. von George M. Logan, Robert M. Adams, Clarence H. Miller et al. Cambridge/New York 2006.

Morus, Thomas: Utopia. In der Übertragung von Hermann Kothe. Hg. von Horst Günther. Frankfurt/Leipzig 1992.

Schölderle, Thomas: «Die Genese Utopias. Muss die Entstehungsgeschichte von Thomas Morus’ Utopia neu geschrieben werden?». In: Zeitschrift für Fantastikforschung. 5.1/9, 2015, 26–61.

  1. Für alle, die es ganz genau wissen wollen, gibt es in dem von Terence Christopher Cave herausgegebenen Band Thomas More’s «Utopia» in Early Modern Europe: Paratexts and Contexts eine detaillierte Aufstellung der Parerga in den verschiedenen Ausgaben.[]
  2. Die mancherorts vertrene These, Morus sei gar nicht der Autor der Utopia resp. Erasmus und Giles hätten ihm sein Buch quasi entwendet, ist somit wenig stichhaltig. Siehe dazu auch Thomas Schölderles Artikel in der letzten Ausgabe der Zeitschrift für Fantastikforschung.[]
  3. Eine löbliche Ausgabe ist die unter einer Creative-Commons-Lizenz veröffentlichte, frei im Netz erhältliche Open Utopia. Thomas Schölderle hat mich zudem auf die von Horst Günther herausgegebene Ausgabe, die beim Insel-Verlag erschienen ist, aufmerksam gemacht, die grosse Teile der Parerga enthält. Eine deutsche Übersetzung, welche auch die Glossen umfasst, ist mir nicht bekannt.[]

ZFF #9

Dieser Tage sollt die neue Ausgabe der Zeitschrift für Fantastikforschung bei den Abonnenten eintrudeln. Es ist das erste Heft, an dem ich als Mit-Redaktor beteiligt war, und enthält natürlich wieder zahlreiche lesenswerte Artikel.

Neue Begegnungen

Markus Orths

Ein Interview mit Markus Orths eröffnet die neue Rubrik «Begegnungen».

Neben der veränderten Redaktion wartet ZFF Nummer 9 auch mit einer inhaltlichen Neuerung auf, die mir besonders am Herzen liegt. Erstmals gibt es in dieser Ausgabe die Sparte «Begegnungen». Hier soll die Brücke zu den Menschen geschlagen werden, ohne die wir arbeitslos wären – den Schöpfern der Werke, denen wir uns widmen. Wir drucken allerdings nicht bloss ein Interview ab, vielmehr möchten wir uns einem aktuellen Werk jeweils von zwei Seiten her nähern: Durch einen wissenschaftlichen Artikel sowie in einem Gespräch mit dem/r jeweiligen Autor/in (selbstverständlich sind hier grundsätzlich auch Gespräche mit Schöpfern nicht-literarischer Werke denkbar). Den Auftakt macht Ebenfalls-Neu-Redaktorin Laura Zinn mit Markus Orths’ Roman Alpha & Omega.

Die Rubriken «Review-Essay» und «Internationale Perspektiven zur Fantastik» sind zwar nicht neu, in dieser Ausgabe ist aber Letztere mit zwei Artikeln besonders prominent vertreten. Matthias Teicher gibt in seinem Artikel einen Überblick über das (den?) Finnish Weird und Co-Redaktor Jacek Rzeszotnik widmet sich der polnischen Nachkriegsfantastik. Während mir die finnische Literatur insgesamt völlig unbekannt ist, kenne ich aus dem Bereich der polnischen Phantastik zumindest das Werk Stanisław Lems recht gut; wie nicht anders zu erwarten, zeigt Jacek aber, dass sich die polnische Phantastik durchaus nicht auf Lem beschränkt.

Wieder einmal Todorov

Tzvetan Todorov mit Schubladen

Treibt die Forschung schon lange um: Tzvetan Todorov.

Eröffnet wird das Heft durch zwei Artikel, zu denen ich eine besondere Beziehung habe. Im einen Fall ist das nicht weiter erstaunlich, denn er stammt aus meiner Feder. Die Idee zu «Wovon wir sprechen, wenn wir von Phantastik sprechen» hatte ich schon vor geraumer Zeit; tatsächlich hat das Stöbern in alten E-Mails ergeben, dass ich GFF-Chef und Mit-Redaktor Lars Schmeink gegenüber bereits Ende 2010 davon sprach; gut Ding will eben Weile haben … In dem Artikel widme ich mich einmal mehr der alten Streitfrage der Phantastik-Definition. Allerdings schlage ich keine neue Nomenklatur vor, vielmehr geht es mir um eine meta-theoretische Reflexion darüber, warum die Frage, was Phantastik denn nun wirklich ist, so unterschiedliche Ergebnisse zeitigt. Im Kern – und für aufmerksame Leser dieses Blogs nicht unbedingt erstaunlich – dreht sich alles um genretheoretische Fragen. Polemisch formuliert: Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Phantastikforschung kümmert sich nicht um die Erkenntnisse der Genretheorie, was sich direkt auf die jeweiligen Definitionen auswirkt.

Teil meiner Argumentation ist eine ausführliche Auseinandersetzung mit Tzvetan Todorovs Phantastiktheorie, da in dieser im Grunde bereits alle wesentlichen Probleme zutage treten. Es ist nur wenig übertrieben zu sagen, dass sich in der Phantastikforschung seit Todorov in genretheoretischer Hinsicht fast nichts getan hat.

Nach meiner Diss und dem Büchlein Theoretisch phantastisch ist das nun bereits das dritte Mal, dass ich mich an Todorov abarbeite, und ich bin vorsichtig optimistisch, dass  das Thema damit zumindest für mich vorerst gegessen ist.

Update: Der Artikel ist mittlerweile online verfügbar.

Die Wahrheit über Utopia

[zff]_99814-9_1-2015.inddWährend der Phantastik-Artikel eher eine Frucht meiner bisherigen wissenschaftlichen Beschäftigung darstellt, ist der zweite Artikel, Thomas Schölderles «Die Genese Utopias», direkt mit meinem aktuellen Forschungsprojekt verbunden. Schölderles Dissertation Utopia und Utopie ist einer der zentralen Bausteine, auf dem meine aktuelle Arbeit aufbaut; umso mehr freut es mich, dass er unsere Zeitschrift mit einem Artikel bedacht hat. Schölderle reagiert darin auf eine These des Anglisten Jürgen Meyer, der in seiner Habilitation Textvarianz und Schriftkritik argumentiert, dass die veröffentliche Version von Thomas Morus’ Utopia zahlreiche Änderungen enthielt, die gegen den Willen das Autors vorgenommen wurden. Insbesondere die Begleittexte und eine angeblich nicht von Morus autorisierte Gräzisierung diverser Namen hätten dazu geführt, dass das veröffentliche Buch nicht mehr Morus’ Absichten entsprach. Wäre an dieser Behauptung etwas dran, hätte das weitreichende Folgen, da insbesondere die dem eigentlichen Buch vorangestellten Begleittexte normalerweise als Hinweis für dessen satirische Absicht gelesen werden. Wenn diese und die zahlreichen griechischen Wortspiele – u.a. der Titel «Utopia» selbst – nicht mehr von Morus stammen, stehen die bisher gängigen Interpretation insgesamt zur Debatte. Alle, die Schölderles Arbeiten kennen, dürfte es kaum überraschen, dass er Meyers These detailliert zerpflückt. Obwohl der Artikel streng genommen eine Erwiderung auf Meyer ist, eignet er sich hervorragend als Einführung in den komplexen Aufbau des morusschen Urtextes.

Selbstverständlich dürfen auch in dieser Ausgabe die wissenschaftlichen Rezensionen nicht fehlen; 13 Stück sind es dieses Mal, und sie reichen von dem von Rob Latham herausgegebenen Oxford Handbook of Science Fiction über den Sammelband Harry Potter Intermedial bis Jon Towlsons Subversive Horror Cinema.

Einmal mehr also reichhaltiges Material für alle Phantastikforscher.

Das Inhaltsverzeichnis zum Download.