Avatar: The Way of Water

Wie immer gilt ein genereller Spoilervorbehalt.[ref]Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie leidet, sollte die Einträge zu aktuellen Filmen somit besser meiden.[/ref]

Angesichts des gigantischen kommerziellen Erfolgs von Avatar: The Way of Water kann man wohl guten Gewissens davon ausgehen, dass alle, die sich auch nur entfernt für den Film interessieren, ihn mittlerweile mindestens einmal gesehen haben. Eine traditionelle Kritik, die den Film vorstellt und ihn bewertet, erübrigt sich somit weitgehend. Entsprechend ist mein Ziel hier denn auch nicht eine klassische Rezension, sondern eher der Versuch einer allgemeineren Einordnung.

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist ein Artikel aus meiner Feder, der vor 13 Jahren an dieser Stelle, sprich: im Science Fiction Jahr 2010, erschienen ist und James Camerons erstem Avatar-Film gewidmet war. Zu Beginn dieses Textes ist folgender Satz zu lesen:

Avatar dürfte für die kommenden Jahre den Referenzwert für SF-Blockbuster darstellen, und da scheint es mir angebracht, diesen Film ein bisschen theoretisch abzuklopfen und mit einigen gängigen Konzepten der SF-Forschung zu konfrontieren.

Was immer man auch von meinem darauffolgenden Abklopfen halten mag, mit der Einschätzung, dass Camerons Film zur Messlatte für die nachfolgende SF-Produktion werden sollte, lag ich gehörig daneben. Denn fast noch erstaunlicher als der Erfolg des Films ist die Tatsache, dass er so gut wie keine Spuren hinterlassen hat. Das war damals nicht ohne Weiteres absehbar; vielmehr schien es für einen Moment, als fände Avatar bei ganz unterschiedlichen Gruppen Anklang und würde nicht nur zu einem kommerziellen, sondern auch zu einem kulturellen Phänomen. So war unmittelbar nach Erscheinen des Films unter anderem zu lesen, dass er in China wegen seines potenziell umstürzlerischen Potenzials von Dissidenten geschaut und der Obrigkeit kritisch beäugt würde. Auch verschiedene Umweltaktivisten beriefen sich eine Zeit lang auf den Film. Diese und ähnliche Erscheinungen waren aber nur von kurzer Dauer; mittelfristig folgte darauf – nichts.

Das Science Fiction Jahr 2023Zur Erinnerung: Mit einem Gesamteinspielergebnis von fast drei Milliarden US-Dollar gilt Avatar nach wie vor als kommerziell erfolgreichster Film aller Zeiten. Diese schwindelerregenden Zahlen stehen in krassem Gegensatz zu seiner popkulturellen Bedeutung. Wenn man sich die heutige Medienlandschaft und auch das weitere SF-Umfeld anschaut, scheint es fast so, als habe Camerons Film nie stattgefunden. Seien es Zitate in anderen Filmen, Internet-Memes, Fan Fiction oder Cosplayer im Na’vi-Look – das alles gab und gibt es nicht, oder wenn, dann nur in sehr bescheidenem Umfang.

Die nachhaltigste Wirkung, das sei hier nur in aller Kürze erwähnt, hat Avatar hinter den Kulissen entfaltet. Ohne den durch den Film initiierten, inzwischen längst abgeflauten 3-D-Boom hätte die Kinobranche nie so rasch von analoger auf digitale Projektion gewechselt, wie es zu Beginn der 2010er-Jahre geschah.

Dass ein so erfolgreicher Film derart in Vergessenheit gerät, hängt wohl unter anderem damit zusammen, dass Avatar trotz aller technischen Höchstleistungen im Grunde ein altmodischer Film war. Oder zumindest ein Film, der entgegen meiner ursprünglichen Einschätzung in mehrfacher Hinsicht keine neue Epoche einläutete, sondern eine vergangene abschloss. Avatar hat sehr viel mehr mit dem Actionkino der 1980er- und 1990er-Jahre gemein, einer Ära, die Cameron maßgeblich mitgeprägt hat, als mit dem Muster, das sich in den vergangenen zwanzig Jahren in Hollywood durchgesetzt hat.

Der magische Begriff, der heute das Denken der US-Filmindustrie bestimmt, lautet Franchise. Für die Hollywood-Majors sind einzelne Filme, insbesondere wenn sie auf Original-Drehbüchern basieren, uninteressant geworden. In einen nicht erprobten Stoff 150 oder 200 Millionen Dollar zu investieren, ist schlicht zu riskant. Die diversen Comic- und Games-Verfilmungen, Sequels, Prequels und Reboots, die seit der Jahrtausendwende die Leinwände dominieren, sind alle Ausdruck dieser Logik. Und da die Studios längst Teil großer Medienkonglomerate sind, werden die Stoffe – oder, wie man im Branchen-Jargon sagt, das IP – immer auch crossmedial ausgewertet; in Games, Comics, Romanen, Serien etc.

Ohne Worte

In dieser medialen Landschaft erscheint Avatar als alleinstehender, nicht als Franchise konzipierter Film, der nicht an ein bestehendes erzählerisches Universum anknüpft, rückblickend schon fast wie ein Anachronismus. Camerons Drehbuch klaut zwar fleißig bei existierenden Stoffen, und natürlich gab es auch ein Avatar-Game und Avatar-Action-Figuren, im Grunde folgte der Film aber einem überholten Modell.

Dass sein Film ein wenig aus der Zeit gefallen war, wurde irgendwann wohl auch Cameron klar, denn mit Avatar: The Way of Water beschreitet er den umgekehrten Weg und übernimmt schon fast mechanisch all jene Elemente, mit denen Marvel und Konsorten in den vergangenen zwei Jahrzehnten erfolgreich waren. Dass der Film die erste von insgesamt vier geplanten Fortsetzungen darstellt, ist dabei nur eine, wenn auch wohl die offensichtliche Folge dieser Strategie. Darüber hinaus folgt der Film aber auch inhaltlich fast schon sklavisch dem Gerüst, das insbesondere dem modernen Superheldenfilm zugrunde liegt. Ich werde im Folgenden die wichtigsten Punkte diskutieren, bei denen sich Cameron kräftig Inspiration bei der Konkurrenz holte.

Familie als zentraler Wert. Heldentum, das war in Hollywood – und auch jenseits davon – lange gleichbedeutend mit dem Kampf für etwas Größeres. Sei es das Vaterland, Gerechtigkeit oder Freiheit, der traditionelle Held – und die männliche Form ist hier nur sehr bedingt generisch zu verstehen – handelte im höheren Auftrag. Zwar gab es immer mal wieder eine Angetraute oder ein anderes Familienmitglied zu retten, doch die diversen Damsels in Distress waren eher Schikanen und Stolpersteine auf dem mühsamen Weg der Hauptfigur und nicht der eigentliche Grund, weshalb diese auszog. Dies hat sich um die Jahrtausendwende grundlegend geändert. Seien es Peter Parker und unzählige andere Superhelden, Dominic Toretto in der Fast-and-Furious-Reihe oder die Skywalker-Sippe in Star Wars – der Schutz der Familie ist zum zentralen erzählerischen Motor geworden. Selbst James Bond, der Inbegriff des heldenhaften Einzelgängers, wurde in No Time to Die eine Tochter verpasst. Der Kampf des Helden gilt nicht mehr einem höheren Wert, sondern dem unmittelbaren Umfeld, was in der Serie The Last of Us darin gipfelt, dass der Protagonist das Überleben seiner – gewählten – Tochter über den Erhalt der Menschheit stellt.

Familie Sulley

Family!

The Way of Water übernimmt dieses Muster mit Nachdruck. In Avatar führte Jake Sully noch einen Aufstand gegen die böse Besatzungsmacht an, seine Loyalität galt den Na’vi als Ganzes. Davon ist in der Fortsetzung nichts mehr zu spüren. Als Neytiri darauf besteht, dass sie ihr Volk nicht verlassen will, reicht ein Satz Jakes, um sie zum Schweigen zu bringen: »This is about our family.«

Um ganz sicherzugehen, doppelt das Drehbuch noch nach und verpasst Jakes Gegenspieler Quaritch mit der Figur von Spider ebenfalls einen Sohn. Dass Spider seinen Vater nur als Bösewicht aus Erzählungen kennt und die blaue Gestalt, die ihm gegenübertritt, mit seinem biologischen Erzeuger nichts zu tun hat, ist Nebensache. Wahre Vater-Sohn-Liebe transzendiert in der Logik Hollywoods solche Kleinigkeiten.

Trauma. Eng mit der Fokussierung auf die Familie verbunden ist ein anderer Trend: War der klassische Held eine ungebrochene Figur, gehört heute ein handfestes Trauma – meist der Tod eines Nahestehenden – fast schon zur heldischen Grundausstattung. Auch in dieser Hinsicht hat das Superhelden-Genre das Modell geliefert. Der Tod eines Familienangehörigen war zwar schon immer wichtiger Teil der Origin Story von Superman, Batman und Co., dieses Ereignis hatte aber zumindest im Film lange keine traumatischen Qualitäten, beeinflusste die Gestaltung der Figur bestenfalls peripher. Spätestens mit Christopher Nolans Batman-Trilogie, die diesbezüglich stark von den Graphic Novels der 1980er-Jahre beeinflusst ist, haben wir es heute aber fast ausschließlich mit gebrochenen Helden zu tun, die mit sich und ihrem Platz in der Welt hadern. Auch hier sei noch einmal auf James Bond verwiesen, einer Figur, die sich lange just durch die Abwesenheit eines nennenswerten Innenlebens auszeichnete, in der Daniel-Craig-Ära aber von Film zu Film mit mehr seelischen Schrammen versehen wurde.

Der Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Avatar-Film ist, wenn es um Traumata geht, besonders frappant. Eigentlich bringt Jake zu Beginn des ersten Teils alle Voraussetzungen für einen zünftigen seelischen Knacks mit, schließlich ist er ein Paraplegiker, der gerade seinen Zwillingsbruder verloren hat. Ersteres motiviert ihn zwar dazu, am Avatar-Experiment teilzunehmen, belastet ihn aber ansonsten nicht sonderlich. Der Tod seines Bruders scheint ihn noch weniger zu berühren und hat denn auch keinerlei Relevanz für die Handlung. Als ginge es darum, diese verpasste Chance einer backstory wound wettzumachen, türmt Cameron in The Way of Water die Traumata regelrecht aufeinander. Neben Spider, von dessen schwierigem Verhältnis zu seinem Vater bereits die Rede war, ist in diesem Zusammenhang vor allem Kiri zu nennen, die in so etwas wie dem Pandora-Äquivalent einer jungfräulichen Geburt gezeugt wurde. Ein Umstand, der ihr schwer zu schaffen macht. Und als wäre das noch nicht genug, wird uns mit Payakan schließlich noch ein traumatisierter Walfisch – Pardon, ein Tulkun – präsentiert.

Komplexes Erzählen. Die Art und Weise, wie populäre Filme und Serien ihre Geschichten erzählen, hat sich in den vergangenen 25 Jahren grundlegend gewandelt. Die klassische Hollywood-Dramaturgie zeichnet sich durch effiziente Schlichtheit aus: Der Held verfolgt ein Ziel und muss, um dieses zu erreichen, zahlreiche Hindernisse überwinden – meist mit siegreichem Ausgang. Ende der 1990er-Jahre kommen dann allmählich komplexe Erzählformen in Mode; damit bezeichnet die Filmwissenschaft insbesondere bei Serien verästelte Plots mit unerwarteten Wendungen und einer Vielzahl von Figuren. Also Geschichten, bei denen sich am Ende herausstellt, dass alles ganz anders war, als es zu Beginn den Anschein hatte.

Diese Form des Erzählens ergänzt den Franchising-Trend in idealer Weise. Je mehr Figuren es gibt und je verwickelter sich die Handlung präsentiert, umso mehr Prequels, Sequels und Tie-ins sind möglich. Einmal mehr stellen die Marvel-Filme das Vorbild dar, dem alle nacheifern.

Ist der Plot von Avatar an Schlichtheit kaum zu überbieten, bemüht sich The Way of Water sichtlich um Komplexität. Wobei: Im Grunde ist das, was Cameron hier inszeniert, lediglich Pseudokomplexität. Damit meine ich, dass der Film zwar eine Vielzahl von Figuren einführt, darunter mehrere mit besonderen Fähigkeiten und/oder einer rätselhaften Vorgeschichte, erzählerisch führt das aber zu erstaunlich wenig. Ja, Kiri hat offensichtlich besondere Fähigkeiten und Spider ein Problem mit seiner Herkunft. Beides ist für den Plot, der unweigerlich auf einen Showdown zwischen Jake und Quaritch hinausläuft, aber unerheblich. Man könnte den Film problemlos um eine Dreiviertelstunde kürzen, ohne dass etwas Wesentliches fehlen würde, denn ein Großteil dessen, was der Film entfaltet, ist Beiwerk ohne erzählerischen Eigenwert. Dass Cameron dennoch diesen Aufwand betreibt, dürfte einen simplen Grund haben: Die diversen Plot-Ornamente werden dereinst als Ansatzpunkte für die weiteren Fortsetzungen dienen, sind mit anderen Worten nur Andockstellen im angestrebten Franchise-Gebilde.

Auferstehung. Vielleicht ist es ein Zustand, den jedes Franchise früher oder später erreichen muss, vielleicht ist es auch nur ein Zufall, aber die beiden derzeit erfolgreichsten Franchises – das Marvel Cinematic Universe (MCU) und Star Wars – sind beide an einem Punkt angelangt, an dem bei Bedarf alles rückgängig gemacht werden kann. Dank erzählerischer Gimmicks wie der Force, Zeitreisen oder dem Multiversum kann Rey, kaum hat sie Kylo Ren besiegt, diesen wieder zum Leben erwecken, sind weder Luke noch Leia je wirklich tot und kann in Avengers: Endgame selbst Thanos’ Dezimierung des Universums aufgehoben werden. Dass die langfristigen Konsequenzen dieser erzählerischen Haltung fatal sind, dass eine Geschichte, bei der nichts mehr auf dem Spiel steht, weil alles, was geschieht, auch anders sein könnte, schlicht uninteressant wird, sei hier nur am Rande erwähnt. Auffällig ist auf jeden Fall, dass dieses Phänomen beim MCU und Star Wars erst nach einer langen Reihe von Filmen auftritt und insgesamt eher wie eine Abnutzungserscheinung wirkt, sich im Falle von Avatar dagegen bereits im zweiten Film bemerkbar macht. So wird Quaritch gleich zu Beginn in einem sehr unbeholfenen Akt von rückwirkender Kontinuität – oder neudeutsch Retconning – wiederbelebt. Warum dies nötig ist, warum man Jake nicht einfach einen anderen Widersacher verpasst hat, wird nie recht klar. Noch folgenreicher dürfte aber die Szene sein, in der Kiri in einer durch den Baum der Geister herbeigeführten religiösen Vision auf ihre Mutter trifft. Der Baum der Geister, respektive Eywa, die mystische Kraft, die alles auf Pandora durchfließt, hat hier eine ganz ähnliche Funktion wie die Force in Star Wars, und mir scheint die Prognose nicht sonderlich verwegen, dass dank ihr in späteren Filmen verstorbene Figuren nach Bedarf wieder zum Leben erweckt werden können.

Kiri und Mutter

Eine besonders schlimme Szene: Kiri trifft auf ihre verstorbene Mutter

Falls es noch nicht klar geworden sein sollte – Avatar: The Way of Water ist in meinen Augen ein ziemlich schlechter Film. Schuld daran sind in erster Linie die fünf angeführten Punkte. Würde man das über dreistündige Ungetüm radikal zusammenschneiden, erhielte man wahrscheinlich einen recht ansehnlichen Actionkracher. In seinem krampfhaften Bemühen, die Rezepte der Konkurrenz zu imitieren, hat Cameron aber einen Film geschaffen, der trotz allem technischen und erzählerischen Aufwand über weite Strecken leblos und nicht selten langweilig wirkt. Die phänomenalen Zuschauerzahlen legen aber nahe, dass ich mit dieser Meinung in der Minderheit bin, und so ist zu befürchten, dass die Fortsetzungen im gleichen Stil weiterfahren werden. Wobei: Da ich schon beim ersten Avatar mit meiner Prognose falschlag, besteht noch immer Hoffnung. Vielleicht irre ich mich ja erneut und Avatar 3 wird ein richtig guter Film.

Erschienen im Science Fiction Jahr 2023

Erschienen: «The Routledge Handbook of Star Trek»

Die Menschheit teilt sich bekanntlich in zwei Gruppen – in Star-Trek– und Star-Wars-Liebhaber. Ich selber gehöre klar zur ersten Gruppe. Obwohl ich die meisten Star-Wars-Filme gesehen habe, hat mich dieses Franchise nie wirklich begeistern können. Captain Picard und Co. liegen mir da eindeutig näher. Allerdings bin ich weit davon entfernt, ein Star-Trek-Experte zu sein. Am besten kenne ich mich mit The Next Generation aus, die Original Series kenne ich nur bruchstückhaft, und alles, was nach Voyager erschienen ist, ist mir völlig unbekannt. Auch bei den Filmen tun sich bei mir grosse Lücken auf.

The Routledge Handbook of Star Trek

Das Buch

Im Zusammenhang mit meiner Forschung zu filmischen Utopien hatte ich allerdings mehrfach mit Star Trek zu tun. Wenn ich mit Kolleg:innen oder Bekannten über meine wissenschaftliche Arbeit spreche, wird die Serie regelmässig als Beispiel für eine Utopie genannt. Tatsächlich bin ich aber der Ansicht, dass Star Trek nur sehr bedingt als Utopie gelten kann.

Die Antwort auf die Frage, ob Star Trek zu den Utopien gezählt werden kann, hängt in erster Linie davon ab, wie man Utopie definiert. So ist Sebastian Stoppe, der eine Dissertation zum Thema geschrieben hat, der Ansicht, dass die Serie sehr wohl eine Utopie darstelle.[ref]Siehe dazu meine Rezension im Quarber Merkur.[/ref] Zweifellos ist in der Welt der Serie vieles besser als in der unsrigen: Dank Replikatoren erfreuen sich ihre Bewohner:innen einer Überflusswirtschaft. Im Grunde muss niemand Hunger leiden, (fast) alles kann synthetisiert werden, und obwohl die Welt nicht konfliktfrei ist, herrscht innerhalb des Gebiets der Federation doch weitgehend Frieden. In einem sehr allgemeinen Sinn kann Star Trek deshalb zweifellos als utopisch bezeichnet werden. In meiner Forschung gehe ich allerdings von einem deutlich enger gefassten Utopiebegriff aus, für den einerseits die Ausführlichkeit des Gesellschaftsentwurfs und andererseits die Kritik an der jeweiligen Gegenwart zentral sind. Indem die Utopie einen detaillierten Gegenentwurf zur misslichen Gegenwart präsentiert, übt sie immer auch Kritik an dieser. Diese beiden Aspekte sind bei Star Trek bestenfalls im Ansatz gegeben. Nicht nur erfahren wir kaum etwas darüber, wie die Federation organisiert ist, die Kritik an den aktuellen Verhältnissen bleibt meist sehr allgemein.

Im Grunde ist Star Trek eine sehr unpolitische Utopie, denn die Lösung der gesellschaftlichen Probleme liegt nicht in politischen oder wirtschaftlichen Veränderungen, sondern beruht in erster Linie auf dem Wunder der Replikatorentechnologie. Nicht nur das – in verschiedenen Folgen, insbesondere in The Original Series, zeigt sich Star Trek sogar ausgesprochen utopiefeindlich. Als die Crew der Enterprise in This Side of Paradise (TOS S01E25) durch die Sporen einer mysteriösen Pflanze völlige Zufriedenheit erlangen, setzt Kirk beispielsweise alles daran, um diesem Zustand ein Ende zu setzen. Seine Begründung: «We weren’t meant for that, non of us. Man stagnates if he has no ambition, no desire to be more than he is.» – Die Utopie ist, mit anderen Worten, ein unnatürlicher Zustand.

Ich habe diese Überlegungen bereits schon an verschiedenen Stellen – unter anderem in meiner Habil – kurz skizziert, aber nie ausführlich dargelegt. Umso grösser war meine Freude, als die Herausgeber:innen des Routledge Handbook of Star Trek mich für einen Beitrag zu den utopischen Qualitäten von Star Trek anfragten. Nun liegt das gewichtige Werk vor, und ich bin sehr stolz, dass ich es als Star-Trek-Dilettant in diese illustre Runde geschafft habe.

The Other Side of Paradise

Ein glücklicher Spock in der TOS-Folge The Other Side of Paradise

Erwähnte Werke

Stoppe, Sebastian: Unterwegs zu neuen Welten. Star Trek als politische Utopie. Darmstadt: büchner 2014.

Spiegel, Simon: Bilder einer besseren Welt. Die Utopie im nichtfiktionalen Film. Marburg: Schüren 2019.

Spiegel, Simon: «Utopia». In: Mittermeier, Sabrina/Rabitsch, Stefan/Garcia-Siino, Leimar (Hg.): The Routledge Handbook of Star Trek. London/New York: Routledge 2022, 467–475.

Vortrag «Kathryn and her sisters»

Das Kino Rex veranstaltet regelmässig Vorlesungsreihen zur Filmgeschichte. Die aktuelle Reihe Femme totale widmet sich Frauen in der Filmgeschichte. In diesem Rahmen hielt ich diese Woche einen Vortrag zu Frauen im Actionkino, wobei ich einen besonderen Fokus auf das Oeuvre von Kathryn Bigelow legte.

 

 

Radio RaBe hat mich zudem zum Thema interviewt, das Gespräch gibt es hier.

Erschienen: Utopias in Nonfiction Film

Es war ein langer und teilweise sehr mühsamer Weg, aber es ist vollbracht: Utopias in Nonfiction Film, die englische Übersetzung von Bilder einer besseren Welt ist nun bei Palgrave Macmillan erschienen.

Inhaltlich entspricht die englische Fassung weitgehend der deutschen; da angelsächsische Verlage aber dicke Bücher mit viel Theorie nicht mögen, musste ich insbesondere im Theorieteil einige Kürzungen vornehmen. Obwohl einige Passagen rausgeflogen sind, auf die ich eigentlich sehr stolz bin, glaube ich, dass die Kürzungen letztlich zu einem besseren Buch geführt haben. Aber dies sollen meine geschätzten Leser:innen entscheiden.

Eine Leseprobe gibt es hier, alles Details zum Buch hier.

Vortrag «Sound Design im Science-Fiction-Film»

Letzte Woche fanden in Halle die 14. Filmmusiktage Sachsen-Anhalt statt. Thema war dieses Jahr «Zukunftsmusik – Film und Musik für die Welt von morgen», weshalb man mich als Referenten eingeladen. Musik ist zwar definitiv nicht mein Fachgebiet, zu den Klängen der SF kann ich aber dennoch ein paar Dinge sagen.

Obwohl der Kongress in Präsenz stattfand, konnte ich leider nicht vor Ort sein, aber ich glaube, dass die Einspielung per Zoom ganz gut funktioniert hat.

Artikel zu Spoilern auf »Geschichte der Gegenwart«

Das Thema Spoiler beschäftigt mich schon seit geraumer Zeit. Im Filmbulletin hatte ich während zwei Jahren eine feste Kolumne, die sich mit Spoilern beschäftigte,[ref]Alle Artikel, die in diesem Rahmen erschienen sind, gibt es auf meiner Website[/ref] und derzeit bereite ich eine wissenschaftliche Tagung zum vor.

Als ich vom Online-Magazin Geschichte der Gegenwart angefragt wurde, etwas zum Thema zu schreiben, habe ich natürlich sofort zugesagt.

Zum Artikel.

Zu »Dune« – im Allgemeinen wie im Speziellen

Die lange erwartete, mehrfach verschobene Verfilmung von Frank Herberts Science-Fiction-Epos Dune durch Denis Villeneuve hat nun endlich die Kinos erreicht. Für die Republik habe ich in einem längeren Artikel die Geschichte der bisherigen – alle mehr oder weniger gescheiterten – Dune-Verfilmungen aufgearbeitet und mir natürlich auch Villeneuves Version angeschaut.

Den Artikel gibt es hier.

 

Josh Brolin und Timothée Chalamet

Josh Brolin und Timothée Chalamet

Erschienen: Interview mit Ivan Engler

In der Zeitschrift für Fantastikforschung veröffentlichen wir in jeder Ausgabe ein Interview mit einem/r »Phantastik-PraktikerIn«, also einem Menschen, der sich in irgendeiner Form kreativ mit einem phantastischen Genre beschäftigt. Diese Interviews sind als Gegengewicht zu den übrigen akademisch ausgerichteten Beiträgen in der Zeitschrift gedacht sowie als Erinnerung daran, dass wir ohne die Künstlerinnen und Künstler gar nichts hätten, was wir analysieren könnten.

Cargo

Cargo

In der Vergangenheit haben wir ausschliesslich Schreibende interviewt, was nicht sonderlich erstaunlich ist, da es gerade im deutschsprachigen Raum nicht allzu viele »phantastische Filmemacherinnen« oder »phantastische bildende Künstler« gibt. Das jüngste Interview weicht von diesem Muster ab: Ich hatte das grosse Vergnügen, den Winterthurer Filmemacher Ivan Engler, seines Zeichens Regisseur von Cargo, dem ersten und nach wie vor einzigen Schweizer Science-Fiction-Langspielfilm, zu interviewen. Ivan, den ich seit Jahren kenne, war sehr offen und sprach ausführlich über seinen Werdegang und sein nächstes Projekt.

Das vollständige Interview gibt es hier.

Ivan Engler

Ivan Engler

Mit der DEFA in die Zukunft

In den Siebzigerjahren versuchte sich das staatliche Filmschaffen der DDR an der Produktion von Zukunftsfilmen. Erinnerung an ein vergessenes Kapitel ostdeutscher Filmgeschichte.

«Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.» – Bereits die erste Zeile der Nationalhymne der DDR markiert es deutlich: Dieser Staat hält sich nicht lange mit der katastrophalen deutschen Vergangenheit auf, sondern blickt zuversichtlich nach vorne, auf das lichte Morgen, das am Horizont bereits sichtbar wird. So ist es denn auch nur folgerichtig, dass die DEFA, die staatliche Filmproduktionsfirma der DDR, während eines Jahrzehnts eine Abteilung unterhielt, deren Aufgabe die Produktion von «Zukunftsfilmen» war.

Defa-futurum, die auf Weisung des Stellvertreters des Ministers für Kultur am 1. Juni 1971 ihre Arbeit aufnahm, war eine sogenannte künstlerische Arbeitsgruppe (AG). Die AGs stellten innerhalb der DEFA Pools von Regisseur*innen, Dramaturg*innen und technischem Personal dar, die für die Herstellung der Filme verantwortlich zeichneten. Leiter und treibende Kraft hinter defa-futurum war der Dokumentarfilmregisseur Joachim Hellwig. Hellwig, der heute nur noch intimen Kenner*innen des DDR-Kinos ein Begriff sein dürfte, war zu diesem Zeitpunkt ein etablierter Filmemacher mit hervorragenden Kontakten zur Spitze der SED, der in seinen Arbeiten stramm der Parteilinie folgte. In Filmen wie Ein Tagebuch für Anne Frank (1958) oder So macht man Kanzler (1961), die noch vor der Gründung von defa-futurum entstanden, war er stets darum bemüht, die BRD als direkte Weiterführung des NS-Regimes zu diskreditieren und die DDR auf diese Weise zum «besseren Deutschland» zu stilisieren. Dieser propagandistische Zug sollte zwar auch bei defa-futurum zum Tragen kommen, doch vorderhand hatte Hellwig mit seiner AG etwas Anderes vor. Was er mit dem Zukunftsfilm bezweckte, legte er ausführlich in einer gemeinsam mit dem Dramaturgen Claus Ritter verfassten Dissertation dar, die 1975 an der Karl-Marx-Universität Leipzig angenommen wurde. Dieses Werk mit dem wenig eingängigen Titel Erkenntnisse und Probleme, Methoden und Ergebnisse bei der künstlerischen Gestaltung sozialistischer Zukunftsvorstellungen im Film unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen der AG defa-futurum ist ein ungewöhnliches, aber sehr aufschlussreiches Dokument. Auf über 300 Seiten und in einer oft herrlich umständlichen Mischung aus Beamtendeutsch und geisteswissenschaftlichem Jargon entwickeln die Autoren das Konzept des sozialistischen Zukunftsfilms; sie liefern also die theoretische Grundlage dessen, was Hellwig mit defa-futurum filmisch umsetzen wollte.

Der populäre Fernsehmoderator Chris Wallasch führt durch Liebe 2002

Unerwünschte Utopien

Hellwig und Ritter kannten sich mit utopischer Literatur und Science-Fiction bestens aus. Insbesondere Ritter, von Haus aus Germanist, war ein Experte auf diesem Gebiet und veröffentlichte in den folgenden Jahren drei Monografien zur deutschen Science-Fiction. Was er und Hellwig in ihrer Dissertation beschreiben, ist im Grunde ein filmisches Gegenstück zur literarischen Utopie. Dass sie ihr Kind nicht beim Namen nennen, hat allerdings gute Gründe: Karl Marx und Friedrich Engels lehnten die Utopie, verstanden als detaillierte Beschreibung alternativer Gesellschaftsentwürfe, entschieden ab, denn ähnlich wie die Evolutionstheorie könne ihr Wissenschaftlicher Sozialismus, als seriöses wissenschaftliches Unterfangen, lediglich die Gesetzmässigkeiten des Geschichtsverlaufs darlegen, nicht aber dessen Ergebnis. Jeder Versuch, die (kommunistische) Zukunft zu beschreiben, sei unwissenschaftliche Fantasterei und somit strikt abzulehnen. Für defa-futurum kam hinzu, dass Utopien für ein totalitäres Regime wie das der DDR ohnehin ein Problem darstellen, denn eine Utopie fungiert immer als kritischer Gegenentwurf zur Realität, die somit defizitär erscheint. Offiziell waren aber im real existierenden Sozialismus die wesentlichen gesellschaftlichen Probleme bereits gelöst, die Utopie mithin schon realisiert. Kritische Gegenentwürfe waren somit nicht mehr nötig.

Der Zukunftsfilm sollte auch nicht mit Science Fiction westlichen Zuschnitts verwechselt werden, die Hellwig und Ritter als vulgäre reaktionäre Propaganda abtaten. Diese negative Einschätzung wird bereits in einer der frühesten defa-futurum-Produktionen, dem 1972 erschienenen Die Welt der Gespenster, sichtbar. Der sechsminütige Film besteht im Wesentlichen aus Aufnahmen von Titelbildern westdeutscher Science-Fiction-Hefte. Diese Publikationen, allen voran die noch heute fortgesetzte Perry-Rhodan-Reihe, stellen für Hellwig den Inbegriff degenerierter und kriegstreiberischer West-Science-Fiction dar.

Die Cover von Perry Rhodan und Co. in Die Welt der Gespenster

Der Zukunftsfilm als Gegenwartsfilm

Der forsche Voice-over-Kommentar macht es deutlich: Die grellbunten Monster, Roboter und muskelbepackten Weltraumhelden auf den Covers seien Ausdruck einer falschen – kapitalistischen – Vorstellung der Zukunft, die es abzulehnen gelte. Entsprechend auch das Schluss-Statement im Kommentar: «Diese Welt der Gespenster – sie ist nicht die unsere! Die Zukunft wird so, wie wir sie wollen!»

Der Zukunftsfilm, der den beiden Autoren vorschwebte, sollte nicht von Ausserirdischen und Weltraumschlachten handeln, sein Ziel sei «die Stimulierung von Zukunftsverantwortung». Denn die Zukunft gehe aus der Gegenwart hervor, liege in deren Verantwortung. Zugleich seien Zukunft und Gegenwart auch in umgekehrter Richtung miteinander verbunden: Vorstellungen der Zukunft wirken darauf zurück, wie wir unsere Gegenwart gestalten. Aufgabe des Zukunftsfilms müsse es deshalb sein, das in erster Linie jugendliche Publikum für die – sozialistische – Zukunft zu begeistern. Letztlich sei der Zukunftsfilm, so Hellwig und Ritter in einer ihrer wenigen prägnanten Formulierungen, schlicht eine besondere Form des Gegenwartsfilms.

Die Ausgangslage für den Zukunftsfilm ist also denkbar heikel: Die Zukunft soll mobilisierend auf die Gegenwart einwirken, darf aber nicht die herrschenden Verhältnisse in Frage stellen, ja im Grunde nicht einmal gezeigt werden. Dem Zukunftsfilm bleibt somit nur ein schmaler Grat, auf dem er seine Wirkung entfalten kann. Was sich schon theoretisch eher kompliziert ausnimmt, wird in der konkreten Umsetzung endgültig zur Merkwürdigkeit. Die wenigen Filme, in denen Hellwig sein Konzept einigermassen konsequent umzusetzen versuchte, sind denn auch alle auf mehr oder weniger interessante Weise gescheitert.

Die Liebe in 30 Jahren

Stellenweise geradezu surreal wirkt der 1972 erschienene Liebe 2002. Der knapp 40-minütige Film beginnt mit Bildern einer stilisierten Zukunft, in der weibliche Figuren zuerst einen pantomimischen Tanz aufführen und dann von einem automatisierten Paarvermittlungssystem mit Männern zusammengeführt werden. Es folgen allem Anschein nach gestellte Interviews, in denen Reisende auf dem Flugplatz Berlin-Schönefeld gefragt werden, wie sie sich die Liebe in der Zukunft vorstellen.

Liebe 2002

Nach einem im Freien inszenierten Liebesduett aus La Traviata folgt wieder eine längere Szene mit dem Paarvermittlungscomputer, bevor Jugendliche in einer zeitgenössischen Diskothek dazu befragt werden, wie sie sich die Liebe in 30 Jahren vorstellen. Wie die verschiedenen Sequenzen zusammenhängen und worauf der Film hinauswill, wird nie wirklich einsichtig. Besonders irritierend ist das Zukunftsballett, das Hellwig mit professionellen Tänzer*innen inszenierte. Ziel von Liebe 2002 sei, so Hellwig und Ritter in ihrer Dissertation, «die Jugend der DDR auf den ethischen und moralischen Anspruch einer sinnvollen Geschlechterbeziehung einzustimmen». Was immer mit dieser reichlich nebulösen Formulierung gemeint sein mag – aus dem Film selbst erschliesst sich diese Absicht kaum. Aus den Ausführungen in der Dissertation geht zudem hervor, dass die computerisierte Welt der Zukunft eine kapitalistische sei, eine Schreckensvision, die es abzulehnen gelte. Der Film macht das allerdings nie deutlich. Zumal diese Zukunft nie glaubhaft erscheint, es aufgrund der offensichtlichen Stilisierung wohl auch nicht soll. Wenn das Gezeigte aber nicht plausibel wirkt, die negative Zukunft ohnehin nie Wirklichkeit werden kann, ist es mit der abschreckenden Wirkung nicht weit her. Bei heutigen Zuschauer*innen dürfte zudem für Verwirrung sorgen, dass die Kostüme und Perücken der Tänzer*innen offensichtlich von Stanley Kubricks ein Jahr zuvor erschienenem A Clockwork Orange inspiriert sind. Allerdings lief Kubricks Film in der DDR nie im Kino, das Publikum von Liebe 2002 dürfte die Anspielung somit kaum erkannt haben.

A Clockwork Orange

Offensichtlicher Einfluss: A Clockwork Orange

In den Interviews mit den Jugendlichen zum Schluss kommt schliesslich zur Sprache, worauf nicht nur Liebe 2002, sondern der Zukunftsfilm insgesamt abzielt: Die Liebe sei ohnehin schon wunderbar, und von einer Welt, in der eine Maschine den Geliebten oder die Geliebte auswählt, halten die Befragten wenig. So, wie es ist, ist es schon recht gut, die Zukunft kann gar nicht viel besser werden, sondern ist lediglich eine konsequente Weiterführung der Gegenwart. In Liebe 2002 lässt sich ein regelrechtes Schrumpfen der Zukunft beobachten, die am Ende als wenig mehr erscheint als ein Anhängsel der Gegenwart. Der Zukunftsfilm wird damit in der Tat zum Gegenwartsfilm.

Marxistische Zukunftsforschung

Indem sie die Zukunft ins Zentrum rücken, vermeiden Hellwig und Ritter nicht nur den heiklen Begriff der Utopie, sie knüpfen damit auch an damals aktuelle Diskussionen zur Prognostik an. Die sozialistische Prognostik war als Gegenentwurf zur nach dem Zweiten Weltkrieg primär in den USA entstandenen Futurologie gedacht und verstand sich wie diese als Versuch, künftige wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen mittels mathematischer Modelle und Computersimulationen zu antizipieren. Anders als die westliche Futurologie fusste die Prognostik aber auf der Marxʼschen Geschichtsphilosophie. Offiziell war dies zwar ein Vorteil – schliesslich galt Marxʼ historischer Materialismus als bewiesen –, in der Praxis erwiesen sich die Ansätze aber rasch als inkompatibel. Ähnlich wie die Utopie basiert auch Zukunftsforschung auf dem Entwickeln von alternativen Szenarien und verschiedenen möglichen Varianten. Dies verträgt sich freilich schlecht mit einer Ideologie, die in Anspruch nimmt, nicht nur die Gesetze des historischen Prozesses zu kennen, sondern auch dessen zwangsläufigen Endpunkt, den Kommunismus. Die Zukunft, welche die Prognostik voraussehen konnte – oder vielmehr sollte –, stand von Anfang an fest.

Diagramm

Hellwigs und Ritters Modell des kreativen Prozesses

Als defa-futurum ihre Arbeit aufnahm, war die Prognostik für die Parteiführung bereits schon wieder passé, Hellwig und Ritter nehmen die entsprechenden Konzepte aber sehr ernst und entwickelten in ihrer Dissertation davon ausgehend ein quasi-wissenschaftliches Modell des kreativen Prozesses, bei dem ein Stoff für einen Film, ausgehend von einer sogenannten Problemprämisse, über mehrere genau definierte Stufen hinweg kollaborativ entwickelt wird. Zentral ist hierbei wie bei der Prognostik das Feedback-Prinzip, das auf allen Stufen für Optimierungen sorgen soll.

Aus heutiger Sicht wirkt die Grafik, mit der die Autoren ihren Ansatz illustrieren, schon fast wie eine unfreiwillige Parodie. Insbesondere Hellwig war es damit aber wohl ernst: Alle paar Monate trafen sich Mitarbeiter*innen der AG mit externen Wissenschaftler* innen zur Werkstatt Zukunft, um anhand von im Voraus festgelegten Themen Ideen für Filmprojekte zu entwickeln.

Die Werkstatt-Treffen fanden bis Ende der Siebzigerjahre regelmässig statt und wurden jeweils sorgfältig vorbereitet und protokolliert, sie trugen aber kaum Früchte. Ursprünglich hatte sich Hellwig ambitionierte Ziele gesetzt: Defa-futurum sollte alle anderthalb Jahre einen grossen Spielfilm sowie zahlreiche – in Hellwigs Terminologie – «Nichtspielfilme» produzieren. Diese Vorgabe erreichte die AG nicht einmal ansatzweise. Mit Im Staub der Sterne (1976) und Das Ding im Schloss (1979) – beide unter der Regie des Regie-Veteranen Gottfried Kolditz – brachte defa-futurum lediglich zwei Spielfilme zustande, die zudem beide nicht Hellwigs Auffassung des Zukunftsfilms entsprachen, und von den zahlreichen meist kürzeren Nichtspielfilmen folgte gerade einmal eine Handvoll dem in der Dissertation entwickelten Konzept.

Im Staub der Sterne

Entführung in die Zukunft

Dazu gehören auch die drei Werkstatt-Zukunft-Filme, die, wie es der Titel bereits erahnen lässt, an Hellwigs Werkstatt Zukunft anknüpfen. Die jeweils halbstündigen Filme haben alle eine ähnliche Ausgangslage: Mehrere Figuren, die verschiedene Typen repräsentieren, werden auf humoristische Weise in die titelgebende Werkstatt Zukunft «entführt», wo sie unter Anleitung eines Supercomputers über einen bestimmten Aspekt der Zukunft diskutieren.

Eine Probandin erzählt in Werkstatt Zukunft I ihre Vorstellungen der Zukunft

Wie bereits in Liebe 2002 mischt Hellwig auch hier Spiel- und offensichtlich gestellte Szenen mit authentisch wirkenden Interviews, verzichtet aber auf so stilisierte Momente wie die futuristischen Tanzszenen. Stattdessen wagt er mehrfach Ausblicke in die Zukunft, etwa in Werkstatt Zukunft I, in dem der Supercomputer Wünsche der Werkstatt-Teilnehmer*innen gleich ins Bild setzt: So sehen wir automatisierte Fabriken, eine Art FKK-Kindergarten im Obergeschoss eines Mehrfamilienhauses und einen automatischen Lieferdienst für Fertiggerichte, der auch gleich berechnet, wie viele Kalorien man mit der Mahlzeit zu sich nimmt.

Anders als Liebe 2002 zeigen die Werkstatt-Zukunft-Filme mögliche Entwicklungen, die entsprechenden Szenen sind aber sehr kurz und insgesamt doch ziemlich harmlos gehalten. Hellwig mag sich in seiner Dissertation auf avancierte theoretische Konzepte berufen, den grundlegenden Beschränkungen, die ihm die Staatsdoktrin auferlegte, entkam er aber nie. Wenn der Zukunftsfilm etwas nicht zeigen durfte, so die absurde Pointe von Hellwigs Vorhaben, dann ist es die Zukunft.

Zukunftsfilme ohne Zukunft

Die Produktionen der defa-futurum richteten sich ausdrücklich an Jugendliche. Diese sollten – und damit wären wir wieder beim propagandistischen Aspekt – für den Aufbau der sozialistischen Zukunft begeistert werden. Um sein Zielpublikum möglichst direkt anzusprechen, bediente sich Hellwig bei Liebe 2002 einer ungewohnten Distributionsform: Der Film wurde nicht in Kinos, sondern in Diskotheken gezeigt. Dabei waren ausgiebige Diskussionen im Anschluss an die Filmvorführung Teil des Konzepts. Ganz im Sinne des für die Prognostik so wichtigen Feedback-Konzepts sollten auf diese Weise Rückmeldungen zum Film in die Entwicklung neuer Stoffe einfliessen.

In ihrer Dissertation und anderen offiziellen Stellungnahmen heben Hellwig und Ritter hervor, dass auf die Vorführungen oft stundenlange Diskussionen folgten. Ob dies tatsächlich stimmt, lässt sich heute nicht mehr überprüfen. Fest steht aber, dass defa-futurum ab Ende der Siebziger zusehends mit Legitimationsproblemen zu kämpfen hatte. Das Ding im Schloss, 1979 erschienen, wurde ein Riesenflop, und Hellwig, der von ehemaligen Mitarbeiter*innen als herrischer Typ beschrieben wird, stand zusehends unter Beschuss. 1981 wurde defa-futurum schliesslich aufgelöst und Hellwig der AG kinobox zugeteilt. Der Zukunftsfilm war damit Vergangenheit.

Erschienen im Filmbulletin 1/2021. 

Die im Artikel erwähnten Filme sind alle auf YouTube verfügbar.

Mehr zu defa-futurum gibt es in meiner Studie Bilder einer besseren Welt (als Open Access verfügbar).

… and Beyond the Infinite

Die schwedische Produktion Aniara – nach dem gleichnamigen epischen Gedicht von Harry Martinson – ist einer der interessantesten Science-Fiction-Film der vergangenen Jahre. Zwar nicht ganz perfekt, aber mit sehr vielen sehr sehenswerten Momenten. Der Film reiht sich in die Tradition «langsamer Weltraumfilme» ein, zu denen unter anderem auch 2001: A Space Odyssey, Solaris oder Sunshine gehören (und der Beschreibung nach wohl auch Ad Astra, den ich aber noch nicht gesehen habe). Unter diesen Filmen ist Aniara aber zweifellos der kälteste und gnadenloseste. Ich sprach an der von der türkischen Cappadocia-Universität ausgerichteten virtuellen Tagung Living in the End Times: Utopian and Dystopian Representations of Pandemics in Fiction, Film and Culture, die vom 13. bis 15. Januar 2021 stattfand, über den Film.

Leider habe ich erst im Nachhinein bemerkt, dass das Mikrophon meiner Kopfhörer in Kombination mit dem Rollkragen meines Pullovers für ein permanentes Hintergrundkratzen sorgt. Ich bitte, die Störgeräusche zu entschuldigen.