It has become easier to imagine the end of the world than the end of capitalism.
Dieses Zitat von Fredric Jameson scheint derzeit den allgemeinen Ton an Tagungen zu SF und Utopie zu setzen.1 Die Diagnose ist düster: Die Welt ist in einem schrecklichen Zustand und ein entfesselter Kapitalismus verhindert nicht nur, dass es besser wird, sondern hat alle Bereiche des Lebens – inklusive dem, was überhaupt noch denkbar ist – derart umfassend durchdrungen, dass wir schlicht nicht mehr in der Lage sind, uns eine andere Welt vorzustellen. Eine noch eher harmlose Folge dieser Misere ist der schon seit längerer Zeit zu beobachtende Boom an Dystopien und post-apokalyptischen Szenarien – primär, aber nicht nur im Kino. Es fehlt – so der allgemeine Tenor – an positiven Utopien, die uns hoffnungsvoll in die Zukunft blicken lassen.
Auch am 20. internationalen Bremer Symposium zum Film, an dem ich diesen Freitag eine Keynote halten durfte, grundierte diese resignative Einstellung viele Beiträge. Exemplarisch hierfür waren die beiden Keynotes von Vivian Sobchack und Sherryl Vint, zwei Koryphäen der amerikanischen US-Forschung, die zwar unterschiedlichen Generationen angehören, aber beide stark von Jameson beeinflusst sind und sich in der Einschätzung einig waren, dass die SF resp. die Utopie nicht mehr ist, was sie mal war.
Wie ich bereits vor einiger Zeit in meinem Beitrag zur SF/F-Now-Konferenz geschrieben habe, bereitet mir diese pessimistische Sicht Mühe. Das mag zu einem gewissen Teil eine Temperament-Frage sein. Ich bin bei aller Skepsis betreffend der Gegenwart ein Optimist, was die langfristige Perspektive betrifft. Vielleicht ist das ein Ausdruck von Naivität, aber im Grunde kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie man ohne eine positive Sicht auf die Zukunft vernünftig leben kann.
Kommt hinzu, dass ich die Gegenwart bei allen Mängeln, die es zweifellos gibt, nicht als grundsätzlich negativ empfinde. Natürlich liegt weltweit manches im Argen, und im Vergleich zu dem, was viele Menschen täglich erleiden müssen, lebe ich auf einer Insel der Glückseligen. Für mich stellt sich aber die Frage, ob es je wirklich besser war und ob die Zuversicht früherer Generationen nicht zu einem beträchtlichen Teil auf seligem Nichtwissen beruhte. Wahrscheinlich blickte man in den 1950er und 1960er Jahren tatsächlich optimistischer in Zukunft, aber inwieweit war das u.a. eine Folge davon, dass man gerade eine schreckliche Zeit hinter sich hatte? War es damals denn wirklich so viel besser als heute? Seien es Rechte von Frauen oder von Minderheiten, der Kalte Krieg, mangelndes ökologisches Bewusstsein, gesellschaftliche Enge etc. etc. – ich bin auf jeden Fall froh, dass ich heute und nicht vor 50 Jahren lebe. Zweifellos wird noch immer Raubbau an der Natur betrieben, gibt es Kriege und Unrecht, aber ist nicht bereits die blosse Tatsache ein grosser Fortschritt, dass es mittlerweile unzählige NGOs gibt, die gegen solche Missstände ankämpfen, dass Umweltschutz-Richtlinien zur Selbstverständlichkeit geworden sind, dass für diese Probleme überhaupt ein Bewusstsein existiert? Ich möchte hier keineswegs unkritisch den Status quo verteidigen, aber es scheint mir keineswegs ausgemacht, dass es der Menschheit heute insgesamt schlechter geht als vor 20, 50 oder 100 Jahren.
Und was ist mit den Utopien, den angeblich fehlenden positiven Entwürfen? Es gibt heute auf jeden Fall mehr Dystopien als zu früheren Zeiten. Aber allzu viele SF-Filme, die eine rundum positive Zukunft entwerfen, gab es auch vor 20 oder 40 Jahren nicht (andernfalls wäre mein Forschungsprojekt überflüssig). Je länger ich mit der Utopie beschäftige, desto mehr scheint mir zudem, dass dieses Genre oft falsch verstanden wird. Denn in ihrem Kern ist die Utopie zuerst und vor allem eine Kritik an der Gegenwart. Sie ist ein Gegenbild, das aktuelle Missstände aufgreift und diesen eine Alternative entgegenhält. Zweifellos gibt es utopische Entwürfe, die ernst gemeint sind, die tatsächlich Idealbilder ihrer Autoren darstellen. Diese Form der Utopie ist aber nicht die einzige, und ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob sie über die Geschichte des Genres hinweg gesehen die dominante bildet. Zumindest der morussche Urtext ist eindeutig nicht als Anleitung für eine neue Gesellschaftsordnung gedacht. Und dies dürfte insgesamt wohl für die meisten der intelligenteren Utopien gelten. H. G. Wells etwa, der zahlreiche utopische Entwürfe verfasst hat, schreibt in seinem diesbezüglich programmatischen Pamphlet The Open Conspiracy explizit, dass er nicht darauf aus sei, einen definitiven Endzustand zu skizzieren. Vielmehr gehe es darum – und hier steht Wells den ihm ansonsten verhassten Marxisten erstaunlich nahe –, einen Prozess anzustossen, dessen Ausgang nicht absehbar ist. William Morris wiederum beschreibt in News from Nowhere zwar durchaus eine Welt, die in vielen Dingen seine Vorlieben widerspiegelt. Aber auch ihm dürfte klar gewesen sein, dass sein anarchistischer Wunschtraum in dieser Form kaum realisierbar ist.
Wie ich schon früher geschrieben habe, kann man das Fehlen rundum positiver Utopien zudem als quasi natürliche Folge der Evolution und Ausdifferenzierung des Genres verstehen. Gewisse Formen verbrauchen sich und werden durch neue Varianten ersetzt. Auf die klassische Utopie folgen die Dystopie, die kritische Utopie und schliesslich hoch reflektierte und mehrfach gebrochene Formen wie etwa die Romane Kim Stanley Robinsons. So verstanden kann man das Fehlen positiver Utopien auch als einen Reife- und Lern-Prozess verstehen. An die Stelle von naiven Totalentwürfen, welche auf der Basis einer Tabula rasa alles neu aufbauen wollen, treten Varianten, welche der Komplexität der Gegenwart Rechnung tragen.
Zum Schluss noch ein ketzerischer Gedanke: Wenn die klassische Utopie primär eine Kritik der jeweiligen Gegenwart darstellt, könnte das Fehlen positiver Entwürfe ja ein Anzeichen dafür sein, dass wir mit dem aktuellen System trotz allem gar nicht so unzufrieden sind. – Für Jameson wäre diese Sicht wohl bloss ein weiterer Beleg für unsere Unfähigkeit, eine Alternative zum Kapitalismus zu denken.
Literatur
Wells, H. G.: The Open Conspiracy. Blue Prints For a World Revolution. London 1928.
Morris, William: «News from Nowhere» (1890). In: Ders.: News from Nowhere and Other Writings. Hg. von Clive Wilmer. London 1998, 41–228.