Dinge, die am Radio kommen

Als Nachschlag zur Berliner Things-to-Come-Tagung, von der hier schon die Rede war, zwei Radiobeiträge des Deutschlandfunks

Zuerst ein Beitrag aus der Sendung Corso; Sigrid Fischer spricht mit mir über Science Fiction im Allgemeinen sowie über Tomorrowland – das Thema meines Vortrags – im Besonderen.

 

Tomorrowland

Tomorrowland: In der Ferne leuchtet die verheissungsvolle Zukunft.

Ausserdem noch eine Sendung, in der verschiedener Redner der Tagung zu Wort kommen (und in der man mich zum Kulturwissenschaftler ernannt hat).

The Liverpool Companion to World Science Fiction Film

Erschienen in der Zeitschrift für Fantasikforschung Nr. 10 2015.

Dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem SF-Kino stark USA-lastig ist, dürfte unbestritten sein, hat aber offensichtliche Gründe. Denn obwohl SF keine genuin amerikanische Erfindung ist, wird sie oft als solche wahrgenommen. Mit dem Film verhält es sich ähnlich. Zumindest die Leinwände der westlichen Welt werden heute von Hollywood dominiert. Dass es daneben auch noch andere Kinoindustrien gibt, deren Produktion teilweise sogar noch umfangreicher ist als die der US-amerikanischen Filmindustrie, wird oft vergessen, da diese meist nur für den heimatlichen Markt produzieren. Im SF-Film kulminieren diese beiden Tendenzen gewissermaßen. Zwar gab und gibt es von Aelita (SU 1924, Regie: Yakov Protazanov) und Metropoli (D 1927, Regie: Fritz Lang) über Fahrenheit 451 (GB 1966, Regie: François Truffaut) und Stalker (SU 1979, Regie: Andrej Tarkowskij) bis Under the Skin (GB/USA/CH 2013, Regie: Jonathan Glazer)1 immer wieder bemerkenswerte europäische SF-Filme, im Gegensatz zu den USA handelt es sich hierbei aber in aller Regel um Einzelwerke. Eigentliche Genretraditionen können sich nur in einem industriellen Kontext herausbilden, die fragmentierte und kleinräumige europäische Filmindustrie bietet hierfür denkbar schlechte Voraussetzungen. Als Ausnahmen ließen sich hier allenfalls England sowie einige osteuropäische Staaten anführen.

The Liverpool Companion to World Science Fiction Film

The Liverpool Companion to World Science Fiction Film

Obwohl Hollywood keineswegs immer an SF interessiert war – vor 1950 war das Genre praktisch inexistent –, spielt diese mittlerweile eine zentrale Rolle in der Blockbuster-Strategie der großen Studios. Außerhalb der USA fehlen meist Geld und Know-how, um mit den Mega-Produktionen mithalten zu können. SF dient somit nicht zuletzt dazu, die Vormachtstellung der amerikanischen Filmindustrie zu zementieren. Freilich gibt es dennoch immer wieder Versuche, außerhalb von Hollywood SF-Filme zu produzieren. Von der Forschung wurden diese bislang aber weitgehend ignoriert. Der Liverpool Companion to World Science Fiction Film schickt sich nun an, diese Lücke zumindest teilweise zu schließen.

Dass die 14 Kapitel des Sammelbands die weltweite SF-Produktion nicht erschöpfend abdecken können, versteht sich von selbst. Das erklärte Ziel von Herausgeberin Sonja Fritzsche ist nicht Vollständigkeit, sondern, «to make visible the incredible variety of science fiction film-making around the world» (5). Vielfältig sind nicht nur die behandelten Filmtraditionen, sondern auch die gewählten Ansätze. So widmen sich Ritch Calvin und Ji Zhang jeweils «ersten» Filmen. Im Falle von Zhang ist das Death Ray on a Coral Island (CN 1980, Regie: Zhang Hongmei), «arguably the first science fiction film produced in post-1949 China» (39), bei Calvin Pumzi (KE 2009, Regie: Wanuri Kahiu), «the first Kenyan science fiction film» (23). Jenseits der Tatsache, dass beide Filme jeweils als «offizielle» erste SF-Filme gelten, haben die Werke freilich wenig gemein. Pumzi, ein mit einem Budget von lediglich 35’000 Dollar gedrehter postapokalyptischer Kurzfilm, der sich mit Wasserknappheit und der Rolle der Frau auseinandersetzt, ist das Werk einer engagierten Künstlerin, produziert in einem Land, in dem weder Film noch SF Tradition haben.2 Death Ray, in dem ein Wissenschaftler eine Superbatterie entwickelt, die westliche Mächte für finstere Zwecke missbrauchen wollen, entstand dagegen während des Golden Age der chinesischen SF, einer kurzen Phase von 1978 bis 1983, in der das Genre vom Regime als Mittel «to popularize scientific knowledge and inspire youths interested in scientific research» (39) offiziell gefördert wurde. In beiden Fällen kommt den Filmen somit eine politische Funktion zu, wenn auch unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen.

Politik spielte auch bei der Stanisław-Lem-Verfilmung Der schweigende Stern (DDR/PL 1960, Regie: Kurt Maetzig), dem ersten osteuropäischen SF-Film, eine entscheidende Rolle, wobei die beteiligten Parteien sehr unterschiedliche Ziele verfolgten. Während man in Moskau die Überlegenheit bei der Eroberung des Alls demonstrieren und die polnischen Produzenten der lemschen Vorlage gerecht werden wollten, war das Ziel der DEFA, «to spread an egalitarian warning to the world that would also encourage more investment in space explorations» (125). Ganz im Sinne dieses pazifistischen Ansatzes ist die Crew in Kurt Maetzigs Film ethnisch und geschlechtsmäßig durchmischt. Wie Evan Torners Analyse zeigt, gelang es den Filmemachern aber insbesondere bei den weiblichen Figuren dennoch nicht, sich von etablierten Stereotypen zu lösen.

Der schweigende Stern.

Der schweigende Stern.

Steht bei den genannten Artikeln jeweils ein Film im Zentrum, sind andere übersichtsartig angelegt. So widmen sich Jessica Lange und Dominic Alessio dem indischen SF-Kino, dessen Tradition bis in die 1950er Jahre zurückreicht. Insbesondere seit der Jahrtausendwende erlebt der indische SF-Film einen Boom; über 30 Filme wurden seither produziert, viele davon mit großem finanziellem und technischem Aufwand. Enthiran (IN 2010, Regie: S. Shankar), auf den die Autoren ausführlicher eingehen, ist sogar die kommerziell erfolgreichste indische Produktion aller Zeiten. Obwohl dieser Film Elemente enthält, die für das indische Kino typisch sind – allen voran musikalische Einlagen –, sind insbesondere die Actionszenen deutlich von Hollywood inspiriert. An den Special Effects – eine besonders überbordende Actionsequenz hat auf YouTube mittlerweile fast vier Millionen Zuschauer gefunden – waren denn auch namhafte US-amerikanische Firmen wie Industrial Light and Magic beteiligt.

An einem Film wie Enthiran tritt eine Tendenz besonders deutlich zutage, die sich in fast allen Artikeln zeigt: Hollywood bleibt als Bezugsgröße stets präsent. Und das gilt sowohl für die Analysen wie auch für die Filmemacher. Sei es im Versuch, mit Hollywood in Sachen exaltierter Action gleichzuziehen wie im Falle von Enthiran oder in der bewussten Abgrenzung gegenüber der US-amerikanischen SF. Derek Johnston macht diese Haltung im britischen Kino aus, das insbesondere in Form der Hammer Studios auf einen, wie man heute sagen würde, transmedialen Ansatz setzte: Durch die Adaption bestehender Radio-, Bühnen- und Fernsehproduktionen kreierte das Studio «a particularly British slant on the genre» (100).

Frankreich als Land, das nicht nur eine reiche Filmtradition besitzt, sondern auch auf eine lange SF-Geschichte zurückblicken kann – zu erwähnen wäre nicht nur Jules Verne, sondern auch der Bereich der Comics –, ist ein besonders aufschlussreiches Beispiel. Wie Daniel Tron in seinem Artikel argumentiert, hat die maßgeblich durch die Nouvelle Vague begründete Tradition des Autorenfilms dazu geführt, dass es im Grunde kein französisches Genrekino gibt. Bekannte französische SF-Filme wie La jetée (FR 1962, Regie: Chris Marker), Alphaville (FR/IT 1965, Regie: Jean-Luc Godard) und Je t’aime, je t’aime (FR 1968, Regie: Alain Resnais) sind deshalb «either first films or remain one-shot experiments in the filmography of each director» (150). Genreaffine Regisseure wie Luc Besson können ihre Filme dagegen nur als internationale Koproduktion realisieren.

Alphaville

Science Fiction ausserhalb der Genretradition: Alphaville von Jean-Luc Godard.

Als erster Versuch, den US-geprägten Kanon des SF-Kinos aufzubrechen, ist der Liverpool Companion zweifellos ein wichtiger Beitrag. Dass das Buch nur einen Anfang darstellt, deklariert Fritzsche bereits in der Einleitung. Damit möchte sie wohl auch Kritik abwehren, bei den behandelten Regionen zu selektiv verfahren zu sein. Völlig entkräften kann sie diesen Vorwurf allerdings nicht. Die Auswahl der untersuchten Länder und Regionen wirkt relativ beliebig und zeigt zudem einen starken westlichen Einschlag. Fast die Hälfte der Beiträge beschäftigt sich mit europäischen Ländern, der afrikanische Kontinent wird dagegen nur mit dem Artikel zu Pumzi bedacht; das im Bereich Genrekino höchst produktive Hongkong wird nicht behandelt, Australien ohnehin nicht, und auch der gesamte arabische Raum ist abwesend.

Für diese Lücken gibt es zweifellos verschiedene Gründe; nicht zuletzt ist es gut möglich, dass die SF in manchen Kulturkreisen nach wie vor nicht Fuß fassen konnte. Solche weißen Flecken zu behandeln, wäre aber ebenfalls interessant gewesen. Überlegungen dazu, warum es keine arabische SF gibt – falls dem so sein sollte –, hätten eine echte Bereicherung dargestellt.

Transmorphers

Billiges Imitat eines schlechten Films: Transmorphers.

Zum Eindruck der Beliebigkeit trägt ausgerechnet einer der interessantesten Beiträge des Bandes mit bei, Paweł Freliks Ausführungen zu «digital audiences». Frelik setzt sich darin mit verschiedenen Phänomenen auseinander, die erst im Zeitalter günstiger digitaler Produktionsmittel entstehen konnten. Da ist zum einen das, was Frelik «science fiction exploitation cinema» (248) nennt, Billigst-Produktionen, die direkt auf DVD vertrieben werden. Neben den «Mockbustern» der Produktionsfirma Asylum wie Transmorphers (US 2007, Regie: Leigh Scott), AVH: Aliens Vs. Hunter (US 2007, Regie: Scott Harper) oder The Day the Earth Stopped (US 2008, Regie: C. Thomas Howell), die im Windschatten großer Produktionen segeln, sind auch wieder auferstandene (trashige) Subgenres wie etwa Giant-mutant-animal-Streifen zu nennen. Diese Filme setzen zwar auf digitale Effekte, haben aber nicht den Anspruch, qualitativ mit Großproduktionen gleichzuziehen; vielmehr setzen sie die Verfahren ein, die ihnen gängige Schnitt- und Effektprogramme von Haus aus zur Verfügung stellen. Das Ergebnis ist in jeder Hinsicht generisch.

Dass die verfügbaren Werkzeuge die Produktion maßgeblich beeinflussen, zeigt auch der Boom von SF-Kurzfilmen, bei denen es nicht selten einzig darum geht, mit visueller Extravaganz zu beeindrucken, während der Plot rudimentär bleibt. Noch einmal ein anderes Gebiet schneidet Frelik schließlich mit Erscheinungen wie Remixes und Fan-Edits an, in denen sich Fans bestehende Filme aneignen und dem Material eine neue Form geben. Wie gesagt: Das sind faszinierende und von der Wissenschaft noch weitgehend unbeackerte Felder, aber obwohl Frelik die Internationalität der SF-Kurzfilmproduktion betont, will sein Beitrag nicht so recht zur Ausrichtung des Bandes passen.

Dass digitale Produktionstechniken und nicht zuletzt die Möglichkeit der Distribution übers Netz gerade für finanzschwache Länder von eminenter Bedeutung sind, wird von verschiedenen Autoren hervorgehoben. Umso unverständlicher ist da, dass Angaben zu zu den online verfügbaren Filmen weitgehend fehlen. In der Bibliografie ist zwar jeweils der Hinweis «Film Short Online» zu lesen, eine URL sucht man aber vergeblich.

Fritzsche, Sonja (Hg.): The Liverpool Companion to World Science Fiction Film. Liverpool: Liverpool University Press, 2014.
277 Seiten, 978-1781380383, € 106. Erhältlich bei Amazon.

  1. Siehe zu Under the Skin auch meine Rezension.[]
  2. Der Film ist auf YouTube verfügbar,[]

Die Zukunft der Arbeit

Dass Roboter eine Bedrohung für die Menschheit darstellen, wissen wir aus zahlreichen SF-Filmen und -Romanen. Doch in der Realität scheint die Gefahr nicht von Terminatoren auszugehen, sondern von vorderhand völlig harmlosen, durchaus nützlichen Maschinen. In jüngster Zeit sind mehrere Studien zur Arbeitswelt von morgen erschienen, und der Tenor ist dabei stets derselbe: Fortschritte in der Robotertechnik und bei intelligenten Systemen werden dazu führen, dass immer mehr Tätigkeiten nicht mehr von Menschen, sondern von zuverlässigeren und vor allem günstigeren Maschinen ausgeführt werden. Ein Beispiel: Eine Studie von Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne der Oxford University kommt zum Schluss, dass 47 Prozent der Stellen in den USA mittelfristig von computerisierten System übernommen werden könnten; eine auf dieser Studie aufbauende Untersuchung kommt für die Schweiz zu ähnlichen Zahlen.

Die Autoren der Oxford-Studie unterscheiden zwischen 702 verschiedenen Berufsgattungen und nehmen Einschätzungen vor, wie wahrscheinlich es ist, dass dereinst Maschinen die jeweiligen Aufgaben übernehmen. Nicht weiter erstaunlich, sind hoch repetitive Jobs, die weder besondere Kreativität noch soziale Kompetenzen voraussetzen, stärker bedroht als solche, bei denen Ideen oder der zwischenmenschliche Kontakt wichtig sind. Zuunterst auf der Liste tauchen Beschäftigungen wie Telefonverkäufer (wobei hier social skills doch eigentlich wichtig wären), Versicherungsangstellte sowie alle möglichen Arten von Servicetechnikern auf. Ganz oben auf der Liste und somit unersetzlich sind zahlreiche Berufe aus dem medizinischen und therapeutischen Bereich. Filmwissenschaftler sind in der Studie zwar nicht erwähnt, aber dennoch halbwegs beruhigend für mich: Für «writers and authors» beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass sie ersetzt werden nur 0.038 (wobei 0 «nicht computerisierbar» und 1 «computerisierbar» bedeutet).

Der Terminator

Die Zukunft des Telefonmarketings?

Für sich genommen wäre diese Prognose nicht sonderlich alarmierend, schliesslich ist im Laufe der Geschichte so mancher Berufszweig verschwunden. Es gibt zumindest in unseren Breitengraden keine Weber und Spinner mehr, Züge fahren ohne Heizer und auch der Bedarf an Kutschern und Sattlern ist heute noch mehr sehr gross wie einst. Der grosse Unterschied der kommenden industriellen Revolution zu früheren sei aber, dass die wegfallenden Jobs nicht durch neue kompensiert werden. Die Gesamtmenge der verfügbaren Arbeit wird deutlich schrumpfen. Ob diese Voraussage zutrifft, ist freilich umstritten. Während das eine Lager darauf verweist, dass in der Vergangenheit zwar Berufszweige verschwanden, aber immer auch neue entstanden, ist die andere Seite überzeugt, dass die Situation dieses Mal grundsätzlich anders sei.1

Natürlich sind solche Prognosen stets mit Vorsicht zu geniessen sind; wenn uns die Geschichte etwas lehrt, dann, dass die Zukunft meist anders kommt, als man denkt. Und wenn ich mir anschaue, wie fehleranfällig Technik oft ist – gerade ist mir ein externe Festplatte abgerauscht –, dann bin ich doch ein bisschen skeptisch, ob die automatisierte Zukunft tatsächlich so viel zuverlässiger sein wird.

Ich möchte hier auch gar nicht auf die Stichhaltigkeit dieser und anderer Studien eingehen, sondern darauf, wie diese anscheinend unvermeidbare Zukunft wahrgenommen wird. Vielleicht täusche ich mich, aber mir scheint, dass diese Veränderung meist als negative dargestellt wird. Der Tages-Anzeiger etwa titelte diese Woche «Lernende Roboter als ‹grösste existenzielle Bedrohung›». Der eigentlich Artikel erweist sich zwar als weniger reisserisch, die Aussicht, dass viele Arbeiten dereinst von Maschinen übernommen werden, erscheint alles in allem aber als unerfreulich, als Problem.

Wenn in den nächsten 20, 30 Jahren, tatsächlich die Hälfte oder auch nur ein Drittel oder Viertel der heute existierenden Arbeitsplätze verschwinden würde, dann wäre das für den Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, in der Tat eine verheerende Entwicklung. Steuereinnahmen würden zurückgehen, zugleich wären viel mehr Menschen mangels Stelle auf Unterstützung angewiesen. Unsere aktuellen Einrichtungen wären kaum in der Lage, diese Entwicklung aufzufangen.

Allerdings ist unser aktuelles System nicht das einzig mögliche, und deshalb lohnt es sich, mal einen Blick in die utopische Literatur zu werfen. Dabei zeigt sich, dass die Reduktion der Arbeitszeit zu den grossen Konstanten der Utopiegeschichte gehört. Dies beginnt bereits mit Thomas Morus’ Utopia. Auf der Insel Utopia arbeiten alle, zudem wurden zahlreiche überflüssige «Luxusberufe» abgeschafft. Es gibt somit weniger Arbeit, die auf mehr Leute verteilt wird. Das Ergebnis: Auf Utopia muss jeder Einwohner nur sechs Stunden pro Tag arbeiten. Bei Morus erscheint dies selbstredend als etwas durch und durch Positives; in der Freizeit bilden sich die Utopier weiter, treiben Sport, frönen der Künste.

Dieses Muster zieht sich durch die ganze Utopiegeschichte. Zum Beispiel führte der englische Sozialist und Reformer Robert Owen in seiner utopischen Siedlung New Lanark den Zehnstunden-Tag ein, was zwar mehr ist als bei Morus, angesichts des damals üblichen 14-Stunden-Tages aber bereits eine sichtliche Verbesserung darstellte (später forderte Owen dann den Acht-Stunden-Tag). In Edward Bellamys Looking Backward: 2000–1887 (1888) wiederum wird man bereits im Alter von 45 Jahren in Rente geschickt.

Das sind nur drei Beispiele, es liessen sich zahlreiche weitere anführen. – Wenn man die utopische Literatur als Indiz dafür nimmt, welche Vorstellungen sich die Menschen zu unterschiedlichen Zeiten von einem besseren Leben machten, dann scheint der Wunsch nach weniger Arbeit deutlich häufiger zu sein als der nach längeren Arbeitstagen.2

Die Sorge, dass wir dereinst zu wenig Arbeit haben, hat auch auf einer individuellen Ebene etwas Absurdes. Zumindest in meinem Umfeld höre ich andauernd, wie sehr die Leute überlastet sind, dass sie mit der schieren Menge an Arbeit kaum noch nachkommen. E-Mail und Mobiltelefone haben längst dazu geführt, dass die Arbeitszeit immer mehr in die Freizeit überschwappt, die Folgen kennen wir alle, der Burnout ist mittlerweile zur regelrechten Volkskrankheit geworden. Und da soll die Aussicht, dass weniger Arbeit auf mehr Leute verteilt werden muss, nicht erfreulich sein?

Obwohl ich alles andere als ein bedingungsloser Anhänger von Fredric Jameson bin, scheint mir in solchen Momenten seine Diagnose, dass wir schlicht unfähig sind, eine Alternative zum aktuellen (kapitalistischen) System zu denken, durchaus stichhaltig. Was Martin Ford in einem Buch als Rise of the Robots (interessant, wie da wieder das bedrohliche SF-Vokabular in Spiel kommt) bezeichnet, ist nur dann ein Problem, wenn wir auf Biegen und Brechen an der 40-Stunden-Woche festhalten. Aber dazu gibt es eigentlich keinen Grund. Ich habe «kapitalistisch» zu Beginn dieses Absatzes ganz bewusst in Klammern gesetzt, denn das Wirtschaftssystem hat mit der Frage der durchschnittlichen Arbeitszeit ja nichts zu tun. Zumindest wäre mir nicht bekannt, dass die freie Marktwirtschaft (oder wie immer man unsere Wirtschaftsordnung bezeichnen will) nur funktionieren kann, wenn jeder an fünf Tagen in der Woche acht Stunden arbeitet.

Die politische Entwicklung geht bei uns allerdings in eine andere Richtung. Zumindest in der westlichen Welt reden momentan alle davon, dass ein Anheben des Rentenalters angesichts des demographischen Wandels unausweichlich sei. Am Ende soll der Einzelne also noch mehr arbeiten. Wenn sich die Prognosen bewahrheiten und dereinst die Roboter übernehmen, wird diese Strategie kaum aufgehen. Wenn der Kuchen dauerhaft kleiner wird, muss er neu verteilt werden. Dann muss das Verhältnis von Lohn, Arbeitszeit und Lebenshaltungskosten so justiert werden, dass man zum Beispiel auch mit 20 Stunden Arbeit pro Woche leben kann.

Es wäre interessant, das mal durchzurechnen; zwar müssten bei so einem Modell die Löhne markant steigen, da die Menschen über viel mehr Freizeit verfügten, würde aber auch der Konsum zunehmen. Zugleich sollten dank Automatisierung auch die Herstellungskosten für Güter sinken. Einfach wäre der Übergang zu einem solchen System sicher nicht, aber die Aussicht auf ein Leben mit massiv weniger Arbeitszeit ist eigentlich sehr erfreulich. Die Utopien wissen das freilich schon lange.

Update: Die NZZ am Sonntag hat in der letzten Ausgabe ebenfalls einen Artikel zum Thema veröffentlicht. Der Autor ist zwar darum bemüht abzuwägen, letztlich ist der Text aber – wie das Meiste, was zum Thema veröffentlicht wird – wenig mehr als ein Mischung aus spektakulären Beispielen und viel Ungewissheit. Und einmal mehr wird das mögliche Ergebnis – weniger Arbeit für alle – nicht als Chance, sondern als Problem wahrgenommen. Immerhin wird erwähnt, dass der hier bereits genannte Martin Ford in seinem Buch ein Grundeinkommen fordert, um den drohenden Erwerbsausfall abzufedern.

In René Clairs À Nous la Liberté (1931) sind die Arbeiter dank einer vollautomatisierten Fabrik von jeglicher Arbeit befreit. Einen Umstand, den sie durchaus zu geniessen zu scheinen.
  1. In einem Paper der Bank of America Merril Lynch ist dieser Punkt deutlich offener formuliert: «The limiting case here would be general purpose robots that are effective substitutes for human labor but at a fraction of the cost. In that case, widespread unemployment could be an outcome – it depends on whether there develops a large enough sector in the economy where humans have a comparative advantage. This could be the arts and entertainment, or personal care services, or areas that involve deeper analytical thinking that is not amenable to existing forms of AI. The transitions from agriculture to manufacturing, and then manufacturing to services, were feared by some to result in mass unemployment. What happened instead is that some old jobs gradually disappeared as technological progress supplanted them, while new – often unanticipated – jobs arose in their place. This was not always ideal for individual workers, who may have found it very difficult or near impossible to make the kind of transitions needed to gain new work, but overall neither of these transitions caused a massive rise in unemployment. The same may well be true for the next transition.» Siehe dazu auch den Artikel von Steve Denning auf Forbes.com.[]
  2. Eine Ausnahme dürfte William Morris’ News from Nowhere darstellen. Da es bei Morris keine entfremdeten Tätigkeiten mehr gibt und jeder mit Inbrunst bei der Arbeit ist, ist der Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit bis zu einem gewissen Grad aufgehoben.[]

Serien-Talk

Ab dem Ab 24. Januar zeigt der US-Sender Fox-TV neue Folgen von Chris Carters Mystery-Serie The X-Files. Aus diesem Anlass hat Radio SRF 2 Kultur eine Folge der Sendung Kontext dem Thema Fernsehserien gewidmet und meine Wenigkeit als Studiogast eingeladen. Ich parliere mit Ellinor Landmann und dem geschätzten Kollegen Michael Sennhauser über vergangenen und aktuelle Serienhits und darüber, warum ich als Kind von einer Baumstamm-Badewanne geträumt habe.

Evolution der Fernseh-Serien: Von Daktari zu Breaking Bad

 

Die Website der Sendung
 

Twin Peaks

Die Serie, die alles verändert hat: Twin Peaks

Das Jahr, das war

Zur Kategorie «Statistiken, die die Welt nicht braucht» gehört die folgende Auflistung aller Filme und Bücher, die ich mir im vergangenen Jahr zu Gemüte geführt habe. Natürlich fein säuberlich nach Kategorien geordnet.

Das erste Mal – Filmische Premieren

Im Folgenden sind alle Filme chronologisch aufgeführt, die ich 2015 zum ersten Mal gesehen. Wenn ich mich nicht verzählt habe, sind es insgesamt 73 Titel. Die Auswahl reicht dabei  von brandneuen Blockbustern wie Mad Max: Fury Road oder Star Wars: The Force Awakens bis zu filmhistorischen Stücken wie Marie-Louise oder The Jazz Singer (die übrigens beide nicht so schlecht waren wie befürchtet). Die meisten Filme habe ich leider nicht im Kino gesehen, sondern in meinen eigenen vier Wänden. Nicht aufgeführt sind Fernsehserien und – mit wenigen Ausnahmen – Kurzfilme. Die filmischen Highlights waren wohl Inside Out und Mad Max: Fury Road.

Mad Max: Fury Road

Mad Max: Fury Road

Im Keller, Ulrich Seidl, AT 2014.

Christian Schocher, Filmemacher, Marcel Bächtiger und Andreas Mueller, CH 2015.

Das dunkle Gen, Miriam Jakobs und Gerhard Schick, DE/CH 2014.

The Jazz Singer, Alan Crosland, USA 1927 (siehe dazu Wie die Juden Hollywood erfanden).

John Wick, Chad Stahelski, USA 2014.

Driften, Karim Patwa, CH 2015.

The Interview, Evan Goldberg und Seth Rogen, USA 2014.

Wild Tales, Damián Szifrón, AR/ES 2014.

Austin Powers: International Man of MysteryJay Roach, USA/DE 1997.

Jupiter Ascending, Andy und Lana Wachowski, USA/AU 2015.

Adieu au langage, Jean-Luc Godard, CH/FR 2014.

Everything or Nothing: The Untold Story of 007, Stevan Riley, GB 2014.

Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance), Alejandro G. Iñárritu, USA 2014.

Predestination, Michael und Peter Spierig, AU 2014.

Divergent, Neil Burger, USA 2014.

Insurgent, Robert Schwentke, USA 2015.

Kingsman: The Secret Service, Matthew Vaughn, GB 2014.

Ex Machina, Alex Garland, GB 2015 (siehe meine Rezension).

Une nouvelle amie, François Ozon, FR 2014.

Avengers: Age of Ultron, Joss Whedon, USA 2015 (siehe meine Rezension).

Bouboule, Bruno Deville, BE/CH 2014.

Das ewige Leben, Wolfgang Murnberger, AT 2015.

Mad Max: Fury Road, George Miller, AU/USA 2015.

Tomorrowland, Brad Bird, USA/ES 2015 (siehe diesen und diesen Blogeintrag).

Freak Out!, Carl Javér, NO/DE/DK/SE/GB/USA/CH/AT 2014.

Jurassic World, Colin Trevorrow, USA 2015.

Terminator Genisys, Alan Taylor, USA 2015.

The Visit, Michael Madsen, DK/AT/IR/FI/NO/SE/NL 2015 (siehe meinen Text für das Programmheft des Filmpodiums).

Into Eternity: A Film for the Future, Michael Madsen, DK/FI/SE/IT 2010.

Mission: Impossible – Rogue Nation, Christopher McQuarrie, USA 2015 (siehe meine Rezension).

Utopia, John Pilger, GB 2013.

Atlas Shrugged Part I, Paul Johansson, USA 2011.

My Dinner with André, Louis Malle, USA 1981.

Birth, Jonathan Glazer, USA/GB/DE/FR 2004.

CQ, Roman Coppola, USA/LU/FR/IT.

Thief, Michael Mann, USA 1981.

Ich seh, ich seh, Severin Fiala, Veronika Franz, AT 2014 (siehe meine Spoiler-Kolumne).

The Wolfpack, Crystal Moselle, USA 2015 (siehe meine Rezension).

Inside Out, Pete Docter, Ronnie Del Carmen, USA 2015.

The Time Traveler’s Wife, Robert Schwentke, USA 2009.

Legend, Ridley Scott, USA/GB 1985.

Antonia’s Line, Marleen Gorris, NL/BE/GB/FR 1995.

Dürrenmatt: Eine Liebesgeschichte, Sabine Gisiger, CH 2015 (siehe Der Dichter und seine Frau).

Marie-Louise, Leopold Lindtberg, CH 1944 (siehe Wie Dutti den Oscar gewann).

Wednesday, May 9, Vahid Jalilvand, IR 2015.

Fish & Cat, Shahram Mokri, IR 2013.

Incendies, Denis Villeneuve, CA 2010.

The Martian, Ridley Scott, USA/GB 2015.

The Zero Theorem, Terry Gilliam, GB/RO/FR/USA 2013.

Black Mass, Scott Cooper, USA/GB 2015.

Spectre, Sam Mendes, GB/USA 2015 (siehe meine Rezension).

Meteor, Christoph Girardet und Matthias Müller, DE 2011.

Afronauts, Frances Bodomo, USA 2014.

Swiss Made, Fredi M. Murer, CH 1968.

Keeping the Faith, Edward Norton, USA 2000.

Enemy of the State, Tony Scott, USA 1998.

Heimatland, Lisa Blatter, Gregor Frei, Benny Jaberg, Carmen Jaquier, Jonas Meier, Tobias Nölle, Lionel Rupp, Mike Scheiwiller, Jan Gassmann, Michael Krummenacher, CH 2015.

The Driller Killer, Abel Ferrara, USA 1979.

Hitchcock/Truffaut, Kent Jones, FR/USA 2015.

Köpek, Esen Isik, CH/TR 2015 (siehe Ein Hunde-Elend).

It Follows, David Robert Mitchell, USA 2014.

Projections of America, Peter Miller, DE/USA/FR 2014.

Legend, Brian Helgeland, GB/FR 2015 (siehe meine Rezension).

The Krays, Peter Medak, GB 1990.

Star Wars: The Force Awakens, J.J. Abrams, USA 2015 (siehe Die Macht der Nostalgie).

Point Break, Ericson Core, DE/CN/USA 2015.

The Revenant, Alejandro G. Iñárritu, USA 2015.

Schellen-Ursli, Xavier Koller, CH 2015.

The Hateful Eight, Quentin Tarantino, USA 2015.

Nichts passiert, Micha Lewinsky, CH 2015.

Rider Jack, This Lüscher, CH 2015.

Youth, Paolo Sorrentino, IT/FR/CH/GB 2015.

Reprisen

Die ersten Monate waren filmisch von meiner Recherche für einen Artikel zur James-Bond-Reihe geprägt, der dieses Jahr erscheinen sollte (gewissermassen eine Light-Version ist als Ikone des Zeitgeists in der Filmzeitschrift Frame erschienen). Ansonsten war – natürlich – Barry Lyndon wieder einmal ein alles andere überragendes Highlight.

Sean Connery

Der erste Auftritt des einzig wahren James Bond: Sean Connery in Dr. No.

Dr. No, Terence Young, GB 1962.

From Russia With Love, Terence Young, GB 1963.

Goldfinger, Guy Hamilton, GB 1965.

Thunderball, Terence Young, GB 1965.

You Only Live Twice, Lewis Gilbert, GB 1967.

On Her Majesty’s Secret Service, Peter Hunt, GB 1969.

Diamonds Are Forever, Guy Hamilton, GB 1971.

Live and Let Die, Guy Hamilton, GB 1973.

The Man with the Golden Gun, Guy Hamilton, GB 1974.

When Harry Met Sally…, Rob Reiner, USA 1989.

The Spy Who Loved Me, Lewis Gilbert, GB 1977.

Moonraker, Lewis Gilbert, GB/FR/USA 1979.

For Your Eyes Only, John Glen, GB/USA 1981.

Octopussy, John Glen, GB/USA 1983.

Never Say Never Again, Irvin Kershner, GB/USA/DE 1983.

A View to a Kill, John Glen, GB/USA 1985.

The Living Daylights, John Glen, GB/USA 1987.

Under the Skin, Jonathan Glazer, GB/USA/CH, 2013.

Terminator 2: Judgment Day, James Cameron, USA/FR 1991.

Spartacus, Stanley Kubrick, USA 1960.

The Terminator, James Cameron, GB/USA 1984.

Barry Lyndon, Stanley Kubrick, GB/USA/IR 1975.

Interstellar, Christopher Nolan, USA/GB 2014 (siehe Nachricht von Papi).

GoldenEye, Martin Campbell, GB/USA 1995.

Tomorrow Never Dies, Roger Spottiswoode, GB/USA 1997.

Les 400 coups, François Truffaut, FR 1959.

Mad Max, George Miller, AU 1979.

Mad Max 2: The Road Warrior, George Miller, AU 1981.

The World Is Not Enough, Michael Apted, GB/USA 1999.

Die Another Day, Lee Tamahori, GB/USA 2002.

Casino Royale, Martin Campbell, GB/CZ/USA/USA/DE/BS 2006.

Quantum of Solace, Marc Forster, GB/USA 2008.

Skyfall, Sam Mendes, GB/USA 2012.

True Lies, James Cameron, USA 1994.

Sexy Beast, Jonathan Glazer, GB/ES 2000.

Drive, Nicolas Winding Refn, USA 2011.

The Omega Man, Boris Sagal, USA 1971.

Johnny Guitar, Nicholas Ray, USA 1954.

There’s Something About Mary, Bobby und Peter Farrelly, USA 1998.

Back to the Future, Robert Zemeckis, USA 1985.

Back to the Future Part II, Robert Zemeckis, USA 1989.

Point Break, Kathryn Bigelow, USA/JP 1991.

Fargo, Joel und Ethan Coen, USA/GB 1996.

Love Actually, Richard Curtis, GB/USA/FR 2003.

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Literatur –

Belletristik

Allzu viele Romane habe ich 2015 nicht geschafft, und fast die Hälfte waren Teil meiner James-Bond-Recherchen. Die Highlights waren auf jeden Fall Michel Fabers Under the Skin (sehr anders als der grossartige Film von Jonathan Glazer, aber definitiv eine Entdeckung) sowie Kim Stanley Robinsons Aurora. Robinsons Roman ist nicht perfekt, aber ebenfalls lesenswert.

Ian Fleming: Casino Royale.

Ian Fleming: Live and Let Die.

Ian Fleming: Moonraker.

Ian Fleming: Diamonds Are Forever.

Faber, Michel: Under the Skin.

Leif Randt: Planet Magnon (siehe meine Rezension).

Ian Fleming: From Russia With Love.

Ian Fleming: Dr. No.

Kim Stanley Robinson: Aurora.

Morus, Thomas: Utopia. Aus dem Englischen übers. von Michael Siefener. Wiesebaden 2013 (siehe meine Rezension).

Samuel R. Delany: The Jewels of Aptor.

P.M.: Bolo’Bolo.

Niccolò Machiavelli: Der Fürst.

Dietmar Dath: Venus siegt.

Wissenschaftliche Literatur

Bei wissenschaftlicher Literatur gestaltet sich die Liste schwieriger, da ich – wie wohl die meisten Wissenschaftler – die wenigsten Bücher von vorne bis hinten durcharbeite. Die folgenden Titel habe ich aber alle mehr oder weniger komplett gelesen. Etwas vom Besten war dabei David Wittenbergs Studie zu Zeitreise-Erzählungen. Im Bereich Utopie war ich besonders von der Arbeit von Susanna Layh sowie dem Klassiker von Peter Kuon angetan.

Einige der folgenden Titel habe ich rezensiert; Links zu den Besprechungen folgen, sobald diese erschienen sind.

Werder, Peter R.: Utopien der Gegenwart. Zwischen Tradition, Fokussierung und Virtualität. Zürich 2009. → Amazon

Rohgalf, Jan: Jenseits der großen Erzählungen. Utopie und politischer Mythos in der Moderne und Spätmoderne. Mit einer Fallstudie zur globalisierungskritischen Bewegung. Wiesbaden 2015. → Amazon

Johnson, Steven: Everything Bad is Good for You. London 2006. → Amazon

Tietgen, Jörn: Die Idee des Ewigen Friedens in den politischen Utopien der Neuzeit. Analysen von Schrift und Film. Marburg 2005. → Amazon

Wittenberg, David: Time Travel. The Popular Philosophy of Narrative. New York 2013. → Amazon

Case, George: Calling Dr. Strangelove. The Anatomy and Influence of the Kubrick Masterpiece. Jefferson 2014. → Amazon

Kuon, Peter: Utopischer Entwurf und fiktionale Vermittlung. Studien zum Gattungswandel der literarischen Utopie zwischen Humanismus und Frühaufklärung. Heidelberg 1986. → Amazon

Layh, Susanna: Finstere neue Welten. Gattungsparadigmatische Transformationen der literarischen Utopie und Dystopie. Würzburg 2014. → Amazon

Schmid, Sonja: Im Netz der Filmgenres. The Lord of the Rings und die Geschichtsschreibung des Fantasygenres. Marburg 2014. → Amazon (siehe meine Rezension).

Chapman, James: Licence to Thrill. A Cultural History of the James Bond Films. 2. Aufl. London/New York 2007. → Amazon

Stoppe, Sebastian: Unterwegs zu neuen Welten. Star Trek als politische Utopie. Darmstadt 2014. → Amazon

Fritzsche, Sonja (Hg.): The Liverpool Companion to World Science Fiction Film. Liverpool 2014. → Amazon (siehe meine Rezension)

Gabler, Neal: An Empire of Their Own: How the Jews Invented Hollywood. New York 1988. → Amazon

13796990Finstere Welten von Susanna Layh36085

Tagungsankündigung: Things to Come (21.–23. Januar 2016)

In knapp drei Wochen findet die Tagung Things to Come. Science ∙ Fiction ∙ Film statt. Die Tagung wird von der Deutschen Kinemathek und dem Einstein Forum organisiert und findet in Berlin und Potsdam statt. Die Tagungsankündigung sagt Folgendes zum Thema:

Das Bild, das wir uns von der Zukunft machen, buchstäblich und im übertragenen Sinne, ist fest in unserer Gegenwart verankert. Es spielt mit unseren Erwartungen und Zweifeln, Hoffnungen und Ängsten. Längst haben sich die einst utopischen Weltentwürfe aber in überwiegend dystopische verwandelt: Das zeigt sich vor allem auch in der erneuten Konjunktur von filmischen Zukunftsvisionen. Sie entfalten, ob im All oder auf der Erde, Überwachungsszenarien, Gesundheitsdiktaturen, ökologische Katastrophen oder gleich postapokalyptische Landschaften. Es geht dabei nicht nur um technische und wissenschaftliche Entwicklungen, sondern auch darum, wie der Mensch von morgen und die Gesellschaft der Zukunft aussehen werden. Science Fiction, als populäres Genre entstanden, ist zu einem philosophischen Feld imaginärer Experimente geworden: Was werden wir wissen? Wie sollen wir mit diesem Wissen umgehen? Wie wollen wir leben? Was wird ein Mensch sein?

Obwohl es um Spielfilme geht, pass das Tagungsthema passt natürlich sehr gut zu meiner aktuellen Beschäftigung mit Utopien. Mein Vortrag, den ich am Morgen des 22. Januars halten werden, trägt den Titel Tomorrowland ist abgebrannt. Das Problem der positiven Zukunft in der Science Fiction. Aufmerksame Leser dieses Blogs können sich wahrscheinlich schon ungefähr vorstellen, um was es gehen wird. Anhand von Brad Birds wunderbar verkorkstem Film Tomorrowland, über den ich hier bereits geschrieben habe (siehe diesen und diesen Eintrag), werde ich ein paar Überlegungen zu Science Fiction, Film und positiven Zukunftsentwürfen anstellen

Sieht so die Zukunft aus?

Sieht so die Zukunft aus?

Das übrige Tagungsprogramm sieht viel versprechend aus; die Vortragenden sind sowohl was die geographische wie auch die fachliche Herkunft betrifft, bunt gemischt. Es verspricht eine interessante Veranstaltung zu werden, auf die ich mich sehr freue.

Die Website der Tagung und die Tagungsbroschüre als PDF.

 

Der Auftakt zum Utopia-Jubiläum

2016 stehen diverse Jubiläen an: 100 Jahre Dada Zürich, der 400. Todestag von William Shakespeare, 500 Jahre bayerisches Reinheitsgebot sowie das 500-jährige Jubiläum der Erstausgabe von Utopia. Im Dezember 1516 erschien beim Drucker Dirk Martens im niederländischen Löwen Thomas Morus’ De optimo rei publicae deque nova insula Utopia, wie das Werk mit vollem Titel heisst (ein frei verfügbares Digitalisat dieser Erstausgabe konnte ich bislang nicht finden; die dritte in Basel erschienenen Version, die allgemein als Referenzausgabe gilt, ist dagegen als PDF erhältlich).

Utopia (1518)

Das Titelblatt der Utopia-Ausgabe von 1518.

Dass ein Buch auch ein halbes Jahrtausend nach seinem Erscheinen noch diskutiert wird, kommt selten genug vor. Im Falle der Utopia scheint das Interesse mit jedem Jahrhundert zuzunehmen. Die Fülle an Publikationen zu Morus’ Meisterwerk ist längst nicht mehr zu überblicken und nimmt laufend zu; dass im Jubiläumsjahr zahlreiche Tagungen zum Thema anstehen, versteht sich von selbst (auch ich selber bin für eine mitverantwortlich, aber dazu später mehr, wenn die Sache konkreter wird).

Doch auch ausserhalb des akademischen Zirkus scheint das Thema Utopie so aktuell wie noch nie. Im Zeitalter von Terrorismus, Banken- und Flüchtlingskrise sowie Klimaerwärmung, werden allerorten neue Utopien gefordert resp. die dystopischen Zustände der Gegenwart beklagt (siehe dazu auch diesen Blogeintrag). Kaum ein Zeitungsfeuilleton, das sich in den vergangenen Jahren nicht zum Thema geäussert hätte, und dieses Jahr dürften es noch mehr werden. Es steht heuer also einiges an. Ich habe denn auch vor, dieses Jahr regelmässiger zum Thema bloggen. Mal schauen, ob ich diesem Vorsatz Folge leisten kann, oder ob er sich als utopisch erweisen

Die Macht der Nostalgie

Der jüngsten Star-Wars-Episode wurde schon viel, sehr viel Tinte, Druckerschwärze und Bits gewidmet. Etwas Neues zum Film selbst lässt sich kaum noch sagen. Dieser Blogeintrag ist deshalb auch nicht als  Kritik im eigentlichen Sinne gedacht, vielmehr möchte anhand des Films über gewisse Entwicklungen in der Rezeption und Vermarktung von Blockbustern nachdenken.

John Boyega

Von wegen keine Neuerungen: Es gibt einen schwarzen Stormtrooper,

Vorausgeschickt sei, dass ich mich nie wirklich für Star Wars begeistern konnte. Das mag damit zusammen hängen, dass ich relativ spät in den Genuss der Filme kam. Tatsächlich bin ich noch nicht einmal sicher, wann ich die drei Urfilme zum ersten Mal gesehen habe, was bereits illustrieren dürfte, wie wenig sie mich beeindruckt haben. Wenn Fans davon schwärmen, wie sie als Kinder von Star Wars verzaubert wurden, wie sehr sie die magisch-naive Art der Filme lieben, dann kann ich dazu nicht allzu viel sagen. Kommt hinzu, dass mir einige Formen des gemeinen Fantums ohnehin ziemlich fremd sind. So geht mir die für Fans typische Sammel- und Komplettheitswut, die dazu führt, dass man alles liest, sammelt und weiss, was zu einem bestimmten fiktionalen Kosmos gehört, weitgehend ab.

Im All nichts Neues

Ich bin somit alles andere als der ideale Star-Wars-Zuschauer. Umso interessanter finde ich es zu beobachten, wie in SF-Foren sowie in sozialen und anderen Medien über den Film gesprochen wird. Besonders auffällig ist dabei, welche Ausmasse die Spoiler-Panik im Falle von The Force Awakens angenommen hat. Mittlerweile wird man als Filmjournalist sogar vom Verleiher dazu angehalten, auf Spoiler in der Berichterstattung zu verzichten. Seltsamerweise scheint dies just bei den Filmen zu geschehen, bei denen es ohnehin wenig bis nichts zu spoilern gibt; so etwa jüngst bei Spectre und eben The Force Awakens.1 Mir ist sowieso nicht ganz klar, warum so viele Leute der Meinung sind, die Qualität eines Filmerlebnisses hänge primär davon ab, dass man von der Geschichte überrascht wird. Als ob ein Film nicht noch sehr viel anderes und vor allem mehr wäre als bloss der Plot.2 Im Falle von Mega-Blockbustern wie den jüngsten Abenteuern von James Bond respektive Luke Skywalker und Co. – ist mit der Nennung des Namens bereits etwas verraten? – wird das Spoiler-Getue aber regelrecht grotesk. Denn wenn diese Filme etwas nicht bieten, dann sind es Neuerungen auf inhaltlicher Ebene.

Daisy Ridley

Luke ist nun weiblich,

The Force Awakens – da scheinen sich Kritiker und Befürworter weitgehend einig – ist im Wesentlichen ein Neu-Arrangement von Elementen des ersten Star-Wars-Films von 1977. Ob man das nun Pastiche, Re-Interpretation oder Beinahe-Remake nennt – es kommt immer aufs Gleiche raus: Auf der Handlungsebene folgt J.J. Abrams dem Urfilm fast schon sklavisch. Was ich dabei faszinierend finde, ist, dass dies von vielen Fans nicht nur nicht abgelehnt, sondern vielmehr begrüsst wird. Bei The Force Awakens scheinen viele gängige Bewertungskriterien hinfällig zu werden: Originalität, Unstimmigkeiten im Plot, logische Fehler – alles egal. Was zählt, ist einzig, ob es dem Film gelingt, das sagenhafte Gefühl der Verzauberung von Anno dazumal hervorzurufen (dass damit der Plot und somit auch die Angst vor Spoilern weitgehend irrelevant wird, sei hier nur am Rande noch einmal erwähnt). Adam Roberts formuliert es mal wieder treffend:

They [the Star Wars fans] don’t want anything that deviates so far from the original template. Indeed, I’d go so far as to suggest that they’re not interested in the film as such. They are interested in recapturing a certain feeling they experienced once upon a time when watching another film.

Um was es in anderen Worten geht, ist Nostalgie.

Adam Driver

die neue Ausgabe von Darth Vader hat einen gepimpten Lightsaber,

Der wehmütige Blick zurück

Dass die Science Fiction – oder vielleicht eher das Dasein des SF-Fans – einen stark nostalgischen Zug besitzt,3 zeigt sich nicht erst seit Filmen wie Tomorrowland, die den hoffnungsvollen Blick in die Zukunft mit der Sehnsucht nach der eigenen Kindheit verwechseln (siehe dazu hier und hier). Die genretypische Nostalgie kommt auch in dem in SF-Kreisen oft zitierten Ausspruch «The Golden Age of science fiction is twelve» zum Ausdruck.4 Das im SF-Jargon gemeinhin als Sense of Wonder (Sow) bezeichnete Gefühl erhabener Ergriffenheit, das sich einstellt, wenn man von einer SF-Geschichte völlig in den Bann gezogen wird und sich mit einem Schlag ganze Welten eröffnen, ist eine typische Adoleszenz-Erfahrung. Ein nicht unwesentlicher Teil des Fan-Daseins kann als Versuch verstanden werden, diesem Initiationsmoment wieder nahe zu kommen. In Die Konstitution des Wunderbaren schreibe ich dazu:

Der SoW ist keine Empfindung, die alleine der SF vorbehalten wäre, wahrscheinlich steht er als Grunderfahrung am Beginn jeglicher Liebe zur Kunst – vielleicht sogar der Liebe überhaupt. Und wahrscheinlich erwächst aus ihm ebenso romantisierende Nostalgie wie jene bornierte Rückwärtsgewandtheit, die überzeugt ist, dass früher grundsätzlich alles besser war. Wenn dem so ist und wenn die SF, wie ich in dieser Studie versucht habe darzulegen, dank ihres Wesens und Funktionierens besonders dazu geeignet ist, den SoW zu erzeugen, dann scheint SF kein Modus des visionären Vorwärtsschauens zu sein, sondern vielmehr des wehmütigen Blicks zurück, zurück in jene Zeit, als die Zukunft noch jung war und alles möglich schien (333f.)

Zweifellos ist dies nicht die einzige Art und Weise, SF zu rezipieren, und natürlich gilt diese Beschreibung längst nicht für alle Fans. Aber wenn The Force Awakens etwas unter Beweis stellt, dann, wie stark dieses nostalgische Verlangen vielerorts offensichtlich ist.

BB-8

und der knuddlige Roboter ist noch knuddliger geworden.

Aus ökonomischer Perspektive ist bemerkenswert, wie sehr eine solche Rezeptionshaltung den Interessen der Unterhaltungsindustrie entgegenkommt. Vermarktungstechnisch sind Fans ohnehin eine attraktive Zielgruppe, da sie sich nicht nur die Filme ansehen, sondern auch Abnehmer für alle möglichen Arten von Merchandising und Tien-ins sind. Auch hierfür ist Star Wars das Lehrbuchbeispiel; George Lucas hat das moderne Merchandising zwar nich erfunden, er hat es aber auf eine neue Intensitätsstufe gehoben. Und wenn die Fans wie im Falle von Star Wars regelrecht danach verlangen, dass alles beim Alten bleibt, ist aus Sicht der Produzenten so etwas wie ein Idealzustand erreicht. Disney respektive J.J. Abrams müssen nicht einmal so tun, als würden sie etwas Neues erzählen. Dass sie sich weitgehend darauf beschränken, die altbekannte Geschichte zu rezyklieren, wird hier zum Qualitätsmerkmal. Der Blockbuster im Zeitalter seiner ewigen Reproduzierbarkeit.

Rian Johnson, der als Regisseur für Episode VIII vorgesehen ist, dürfte es allerdings schwerer haben als Abrams. The Force Awakens kam unter anderem das schlechte Image der zweiten Trilogie zugute. Der allgemeine Konsens lautet, dass George Lucas mit diesen Filmen dem Geist der ersten Trilogie untreu wurde,5 dass die ursprüngliche Magie abhanden kam. Nach dem neuen Film präsentiert sich die Situation nun anders; jetzt gibt es wieder einen Film, der sich richtig anfühlt, die Messlatte ist somit ungleich höher gesetzt. Zudem dürfte sich der Trick, den gleichen Film mit leichten Variationen noch einmal zu drehen, kaum wiederholen lassen, schliesslich muss die Geschichte von The Force Awakens ja weiter gehen und ein zweites The Empire Strikes Back dürfte trotz allem kaum machbar sein. Das wahre Pi­èce de Ré­sis­tance steht somit noch bevor.6

  1. Siehe zu Spectre meine Spoiler-Kolumne sowie meine Rezension.[]
  2. Stefan Höltgen bringt dies in einem Artikel auf Persepolis auf den Punkt: «Für einen Cineasten hingegen ist es traurig, dass Film dort, wo er erzählerisches Unterhaltungskino geworden ist, auf diese beiden Elemente reduziert wird: Auf das Sagen und Handeln der Protagonisten. Beides könnte aus dem Drehbuch herausgelesen werden und Film wäre damit nicht mehr als ein Roman (von dem man bekanntlich auch nicht allzu viel vorab verraten bekommen möchte). Die Misere des Experimentalfilms ist vor allem damit zu erklären, dass er nicht ‹erzählt› und damit nacherzählbar ist. Dass all die anderen ästhetischen Elemente eines Films in den Hintergrund geraten, hat sowohl Tradition als auch Kalkül: Über nichts von einem Film lässt sich ohne Fachkenntnisse besser sprechen als über den Plot, weshalb jeder Historiker ein passabler Film(plot)kritiker werden kann, wenn er Plots wie Quellen strukturieren und analysieren gelernt hat».[]
  3. Ja, ja, ich weiss: Star Wars ist gar nicht SF, sondern Fantasy, Märchen, Western, denn die Force, «a long time ago in a galaxy far far away», campbelsche Heldenreisen etc. etc. Dass die Fantasy-Elemente in Star Wars wichtig sind, ist offensichtlich. Ebenso offensichtlich ist aber auch, dass sich die Reihe einer SF-Ästhetik bedient. Innerhalb des Kontinuums zwischen SF und Fantasy liegt Star Wars ziemlich genau auf der Mitte und ist somit – wenn man den Begriff für sinnvoll hält – ein Paradebeispiel für Science Fantasy.[]
  4. Dieses Zitat wird oft David Hartwell zugeschrieben, scheint aber bedeutend älter. Anscheinend stammt es aus einem Artikel von Peter Graham, der 1957 in dem Fanzine Void erschien.[]
  5. Das Image von Lucas innerhalb der Star-Wars-Welt unterscheidet sich markant von dem anderer Saga-Begründer. Im Falle von Star Trek etwa lautet die gängige Formel, dass deren Erfinder Gene Roddenberry seine völkervereinende Vision mühsam gegen die Widerstände von einzig auf kommerziellen Erfolg ausgerichteten Managern durchsetzen musste. Alles, was einem an der Serie nicht passt, ist somit nicht Roddenberrys Fehler, sondern kann bösen Kräften angelastet werden. Dieses Muster ist im Fandiskurs oft anzutreffen: Es gibt eine mythische Frühphase, in der Autoren und Fans noch auf Augenhöhe miteinander verkehren und eine gemeinsame Vision teilen. Früher oder später setzt aber eine Degeneration ein, die geliebte Serie wird Mainstream, kommerzialisiert und büsst in den Augen der Fans essenzielle Qualitäten ein. Zu Star Wars will diese Erzählung freilich nicht recht passen. Zum einen hat Lucas wie kein anderer die Kommerzialisierung seiner Erfindung vorangetrieben; zum anderen zeichnet er selbst als Regisseur für die misslungene zweite Trilogie verantwortlich. Der Schöpfer selbst ist der dunklen Seite anheim gefallen und taugt damit nicht mehr als Bewahrer der ursprünglichen Werte. Diese Rolle kommt nun alleine den Fans zu. Siehe dazu auch Die Konstitution des Wunderbaren, S. 326–330.[]
  6. Siehe dazu auch den lesenswerten Artikel von Gerry Canavan der aufgrund eines Vergleichs mit Lord of the Rings zum Schluss kommt, dass die folgenden Star-Wars-Filme deutlich düsterer ausfallen könnten als The Force Awakens.[]

Von Phantastik sprechen

Tzvetan Todorov

Todorov und kein Ende.

Die nächste Ausgabe der Zeitschrift für Fantastikforschung verspätet sich leider etwas und wird erst im neuen Jahr erscheinen. Gewissermassen zur Überbrückung der Wartezeit stelle ich nun meinen Artikel «Wovon wir sprechen, wenn wir von Phantastik sprechen» online, der in der letzten Ausgabe der ZFF erschienen ist.

Ich habe schon früher kurz über diesen Artikel geschrieben; es ist ein Versuch, die leidige Diskussion um den Phantastikbegriff, die seit der Veröffentlichung von Tzvetan Todorovs Einführung in die fantastische Literatur (das französische Original erschien 1970, die erste deutsche Übersetzung bereits zwei Jahres später)  in der deutschsprachigen Forschung mehr oder weniger heftig tobt, auf eine Meta-Ebene zu hieven. Ausgangspunkt ist die im Grunde nicht sonderlich neue Einsicht, dass Genredefinitionen kontextgebunden sind; jede Genredefinition, sei sie nun explizit oder – was häufiger der Fall ist – nur implizit, vollzieht sich vor dem Hintergrund eines Genrebewusstseins und ist somit auch nicht überzeitlich stabil.1 Vielmehr sind Genres historisch und – abhängig von der jeweiligen «Benutzergruppe» – hochgradig wandelbar. Die zeitweise ziemlich erbittert geführte Diskussion, was Phantastik denn nun wirklich ist, erscheint vor dem Hintergrund der modernen Genretheorie als ziemlich sinnlose Angelegenheit.

Der ZFF-Artikel war nicht zuletzt der Versuch, das Thema Todorov zumindest für mich endlich abzuschliessen. Nach längeren Passagen in meiner Diss, einem ganzen Buch zum Thema sowie eben dem ZFF-Artikel glaube ich, eigentlich alles zum Thema gesagt zu haben. Frei nach Wittgenstein: «Worüber man schon alles gesagt hat, darüber muss man schweigen.»

Thomas Morus

Keine Liebe für Thomas Morus bei der GFF.

Mittlerweile bin ich aber bereits unsicher, ob ich diesem Vorsatz treu bleiben kann. Die nächste Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung, die vom 22. bis 24. September an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster stattfinden wird, läuft nämlich unter dem Thema: «The Fantastic Now: Tendenzen der Fantastikforschung im 21. Jahrhundert». Nun sind solche Schwerpunkte zwar nicht wirklich bindend, erfahrungsgemäss sind die Beiträge inhaltlich weitaus weiter gestreut als das eigentliche Tagungsthema. Dennoch bin ich nicht sonderlich begeistert über diesen Schwerpunkt. 2016 würde sich angesichts des 500-jährigen Jubiläums der Erstausgabe eines gewissen Buches eigentlich ein anderes Thema, das mir derzeit sehr viel näher steht – siehe auch die Adresse dieses Blogs – anbieten. Und wenn als erstes mögliches Vortragsthema im Call for Paper «Was ist ‹Fantastik›?» genannt wird, wirkt das auf mich fast ein bisschen, als wolle man die Forschungsgeschichte zurückdrehen und wieder zu den wenig ergiebigen Diskussionen rund um Todorov und die Frage, was Phantastik denn nun wirklich ist, zurückkehren. Ich bezweifle, dass hier noch viel Interessantes geleistet werden kann und verweise diesbezüglich ganz unbescheiden noch einmal auf meinen Artikel.

Wie ich gehört habe, äussert sich Todorov selbst übrigens seit Jahren nicht mehr zum Thema und lehnt alle entsprechenden Einladungen und Anfragen ab. Vielleicht nicht die schlechteste Strategie.

Literatur

Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Aus dem Französischen übers. von Karin Kersten, Senta Metz, Caroline Neubaur et al. Frankfurt a.\,M. 1992 (Original: Introduction à la littérature fantastique. Paris 1970).

Schweinitz, Jörg:«‹Genre› und lebendiges Genrebewusstsein. Geschichte eines Begriffs und Probleme seiner Konzeptualisierung». In: montage/av. Jg. 3, Nr. 2, 1994, 99–118. [→ PDF]

Spiegel, Simon: Theoretisch phantastisch. Eine Einführung in Tzvetan Todorovs Theorie der phantastischen Literatur. Murnau am Staffelsee 2010.

– : «Wovon wir sprechen, wenn wir von Phantastik sprechen». In: Zeitschrift für Fantastikforschung. Jg. 5.1, Nr. 9, 2015, 3–25. [→PDF]

  1. Siehe dazu den lesenswerten Text von Jörg Schweinitz. Als Filmwissenschaftler schreibt Schweinitz zwar über den Film, seine Überlegungen gelten aber ebenso für die Literatur.[]

Steven Pinker und die Utopie

Leben wir in finsteren Zeiten, oder ist die allgegenwärtige Klage über den dystopischen Zustand der Welt nur die Folge einer falschen Wahrnehmung? Für Letzteres plädiert Steven Pinker in einem Vortrag, den er vor einem Monat in Zürich hielt. Pinker ist mir aus meinem Germanistik-Studium als Linguist ein Begriff; sein Buch The Language Instinct1 war im Grundstudium Pflichtlektüre.

Mittlerweile beschränkt sich Pinker nicht mehr auf sein angestammtes Gebiet der Kognitionspsychologie, sondern ist zum Universaldenker avanciert, der sich zu den ganz grossen Menschheitsfragen äussert. So auch in Zürich, wo er auf Einladung des UBS International Center of Economics in Society einen Vortrag zu «The Past, Present, and Future of Violence» hielt, in dem er die wesentlichen Punkte seines Buches The Better Angels of Our Nature2 von 2011 präsentierte (der komplette Vortrag ist hier eingebettet).

Pinkers Kernthese ist schnell zusammengefasst: Allen Unkenrufen zum Trotz ist die Geschichte der Menschheit eine Erfolgsgeschichte, denn die Welt war noch nie so friedlich wie heute. Die täglichen Meldungen über kriegerische Konflikten, Terroranschläge und Amokläufe mögen darüber hinwegtäuschen, aber weltweit ist die Zahl der Opfer von Gewalttaten stark rückläufig ist. Egal, welche Statistik man heranzieht, Gewalt ist in so ziemlich jeder Ausprägung – seien es Kriege, Morde, Folter oder Todesstrafe – deutlich im Abnehmen begriffen.

The Better Angels of Our Nature

Der Linguist wagt sich an die ganz grossen Fragen.

Bevor ich zur obligaten Kritik komme, möchte ich doch festhalten, dass mir die Grundaussage Pinkers eigentlich sehr sympathisch ist. Wie ich hier schön früher geschrieben habe, halte ich unsere Gegenwart durchaus nicht nur für schlecht. Und wenn Pinker darauf hinweist, dass Krieg in Westeuropa während Jahrhunderten Normalzustand war, heute aber fast undenkbar scheint, oder dass Sklaverei und Folter, die mittlerweile weltweit geächtet sind, über Jahrtausende hinweg unbestrittener Bestandteil jeder menschlichen Kultur waren, dann relativiert das die Klage über die vermeintliche Unmenschlichkeit der kapitalistischen Gesellschaft schon etwas. Als Psychologe kann Pinker auch diverse Mechanismen benennen, die dazu führen, dass man entgegen der tatsächlichen Zahlen zum Eindruck gelangen kann, Gewaltverbrechen würden zunehmen.

Ebenfalls recht hat Pinker mit der Feststellung, dass Terroranschläge und Schulmassaker zwar schreckliche Ereignisse seien, im Vergleich mit einem «richtigen Krieg» im Grunde aber  als vernachlässigbar erscheinen. Nimmt man etwa den Vietnamkrieg als Referenz, dem je nach Schätzung zwischen 1.5 und 3.6 Millionen Menschen zum Opfer fielen, werden die 130 Toten der Anschläge von Paris – Pinkers Vortrag fand nur drei Tage nach den Attentaten statt – statistisch irrelevant.3 Trotz aller Schreckensmeldungen ist unser Leben heute so friedlich wie noch nie.

Wie gesagt: Von der grundsätzlichen Haltung her ist mir das durchaus sympathisch, und es würde nicht schaden, wenn Fakten wie die zurückgehenden Mordraten in der politischen Diskussion vermehrt beachtet würden. Aber auch mein Wohlwollen ändert nichts daran, dass Pinkers Argumentation in so ziemlich jedem Punkt angreifbar ist.

Dass Pinker diverse Dinge zusammenwirft und seine Ausführungen nicht nur auf Kriege und Morde beschränkt, sondern auch das Abnehmen von häuslicher Gewalt und Repressionen gegen Homosexuelle sowie den boomenden Vegetarismus als Belege für den Rückgang von Gewalt anführt, hat schon fast etwas Drolliges. Weitaus heikler sind aber grundsätzliche methodische Probleme. Der MIT-Professor ist definitiv kein Historiker, sondern zuerst und vor allem ein positivistischer Zahlenhuber. Sein Vortrag ist denn auch im Wesentlichen eine Aneinanderreihung unzähliger Statistiken, Grafiken und Kurven, die stets das Gleiche illustrieren sollen: Alles wird immer besser.

Die Top 20 schrecklichsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte nach Steven Pinker.

Die Top 20 schrecklichsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte nach Steven Pinker.

Mit seinem umfangreichen Zahlenmaterial kann Pinker erstaunliche Zaubertricks vollführen. Spontan würde man beispielweise meinen, dass die beiden Weltkriege jeweils zu gigantischen Peaks in den diversen Kurvendiagrammen führen müssten.4 Pinker gelingt es aber, selbst diese statistischen «Ausreisser» zu relativieren, indem er nicht von absoluten Zahlen, sondern vom Verhältnis der Zahl der Kriegsopfer im Vergleich zur Weltbevölkerung ausgeht. So gemessen erreicht der Zweite Weltkrieg lediglich Platz 9 auf der Rangliste der opferreichsten Konflikte. Der erste Platz gebührt dagegen der An-Lushan-Rebellion im China das 8. Jahrhunderts.

Spätestens bei solchen Vergleichen wird offensichtlich, dass Pinker wenig Verständnis für quellenkritische Überlegungen hat. Denn natürlich ist es mehr als fragwürdig, ein über tausend Jahre zurückliegendes Ereignis auf diese Weise – vermeintlich – präzise zu erfassen und mit einem modernen Krieg zu vergleichen.

Interessanter als reine Statistik sind aber ohnehin die Erklärungen für den ausgemachten Trend: wenig überraschend bieten Pinkers Ausführungen reichlich Angriffsflächen. Ich möchte hier nicht im Detail auf die verschiedenen Gründe eingehen, die er für den Rückgang der Gewalt anführt, und beispielhaft nur einen rausgreifen. Pinker sieht in der Alphabetisierung eine Ursache für die Erweiterung dessen, was der Philosoph Peter Singer als «empathy circle» bezeichnet. Indem die Menschen Erzählungen lesen, lernen sie andere Standpunkte kennen und können sich deshalb besser empathisch in ihre Mitmenschen  einfühlen. Das wiederum macht es schwieriger, in einem Fremden ein nicht-menschliches Wesen zu sehen, dem man jedes erdenkliche Leid antun kann. Das klingt zwar sehr nett, wird aber spätestens dann fragwürdig, wenn man sich konkrete Beispiele anschaut. So dürfte der Alphabetisierungsgrad im Deutschland der 1930er Jahre im weltweiten Vergleich sehr hoch gewesen sein. Doch auch eine blühende Literatur hat das Volk der Dichter und Denker nicht am Holocaust gehindert. Einzelne Ereignisse sind für Pinker aber nur als Datenpunkt in der grossen Statistik interessant; deshalb kann selbst ein Ereignis wie der Holocaust seine These nicht widerlegen.

Obwohl Pinker nicht so naiv ist zu behaupten, dass die von ihm erzählte Geschichte zwangsläufig so weitergehen muss, ist seine Argumentation doch stark teleologisch angehaucht. Es gibt einen grossen geschichtlichen Bogen, und alles, was diesem widerspricht, sind Einzelfälle, die von seiner Zahlenmühle erbarmungslos klein gerieben werden. Und Gegenbeispiele gibt es zuhauf. So kennen heute zwar tatsächlich (fast?) alle Länder zumindest nominell Folterverbote, wenn es aber darauf ankommt, sind sich selbst Staaten wie die USA nicht zu schade, zur Folter zu greifen. Zwar werden solche Praktiken mit juristischen Gutachten legitimiert, aber letztlich zeigt sich hier sehr deutlich: Ob und welche Form von Gewalt zum Einsatz kommt, hängt weitaus mehr von der spezifischen Situation als von einer übergreifenden geschichtlichen Logik ab. Der Historiker Jörg Baberowski bringt es in einem Interview in der aktuellen Ausgabe des Magazins des Tages-Anzeigers auf den Punkt: «Gewalt ist eine Ressource, derer sich jeder bedienen kann.» Und ob man sich ihrer bedient, hängt primär von der jeweiligen Konstellation ab.

Es gäbe noch einiges zu Pinkers Version der Weltgeschichte zu sagen, ich möchte hier aber nur noch auf einen Punkt eingehen, der auch der Grund ist, warum ich ihm einen Blogeintrag widme. Pinker äussert sich auch zu Utopien, denn in diesen sieht er eine der Ursachen für Gewalt. Anhänger von utopischen Ideologien wähnen sich im Besitz der alleinigen Wahrheit, was sie zu jeglicher Gewalttat ermächtigt. Denn wer meint, im Namen einer höheren Gerechtigkeit zu agieren, kann jede Handlung rechtfertigen. Kommt hinzu, dass Utopien nicht vom Individuum, sondern von einer harmonisch funktionierenden Gesellschaft ausgehen. Der Einzelne ist nur ein Rädchen im grossen sozialen Getriebe. Wenn er den reibungslosen Ablauf stört, kann er im Interesse des utopischen Ganzen getrost eliminiert werden.

Karl Popper sieht in der Utopie den Ursprung des Totalitarismus.

Karl Popper sieht in der Utopie den Ursprung des Totalitarismus.

Diese Gleichsetzung von Utopie und Totalitarismus hat, wie bereits Rick Searle in seinem Blog dargelegt hat, eine lange Tradition. Ihr prominentester Vertreter ist Karl Popper, der in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945) eine direkte Linie von Platon über Morus, Hegel und Marx bis zu Sowjetterror und Nationalsozialismus zieht. Dieses Verständnis von Utopie hat freilich wenig mit dem Utopiebegriff zu tun, wie er etwa in der Literaturwissenschaft oder der Politologie verwendet wird, und wurde in der Vergangenheit schon oft kritisiert. Popper und Pinker ignorieren die Tradition der anarchistischen Utopie – siehe dazu den Eintrag zu News from Nowhere – komplett und gehen zudem davon aus, dass Utopien zur Umsetzung gedacht sind, was sie in der Mehrheit der Fälle nicht sind.5

Was Pinker bei seiner Utopie-Kritik ebenfalls übersieht, ist, dass er selbst an einer grossen utopischen Erzählung bastelt. Das beginnt schon damit, dass er von einer klar definierten menschlichen Natur ausgeht, die ­– natürlich mit den Mitteln der kognitiven Psychologie – adäquat beschrieben werden kann. Die Utopie kann nur deshalb von sich behaupten, die beste alle Staatsformen zu sein, weil sie der wahren menschlichen Natur entspricht, und Pinkers Argumentation baut ebenfalls darauf auf, dass bei allem historischen Wandel so etwas wie eine überzeitliche menschliche Natur existiert, die sich mittels richtiger Massnahmen und politisch-sozialen Einrichtungen modellieren und in gewünschte Bahnen lenken lässt.6 Diese Überzeugung steht am Beginn jedes utopischen Entwurfs und ist für die Utopie letztlich von grundlegenderer Bedeutung als eine totalitäre Ausgestaltung des Staatsentwurfs.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Jörg Baberowski in dem bereits erwähnten Interview seinerseits gegen Pinker Stellung bezieht. Im Gegensatz zu Pinker versteht Baberowski explizit nicht als Abfolge von zwangsläufig auseinander hervorgehenden Ereignissen:

Wenn Historiker eine Geschichte erzählen, verknüpfen sie zufällig aus der Vergangenheit überlieferte Ereignisse kausal miteinander und unterstellen, ein Ereignis A habe ein später geschehenes Ereignis B verursacht. Aber es hätte auch alles anders kommen können.

Baberowski erteilt aber nicht nur grossen historischen Erzählungen eine Absage, er verneint zudem schlichtweg, dass es so etwas wie einen fortschreitenden Zivilisierungsprozess gibt:

Ich glaube nicht an die Verbesserung des Menschengeschlechts und die Erreichbarkeit des ewigen Friedens. Ich glaube nicht daran, dass man Menschen modellieren und zivilisieren kann.

Auch Baberoskwi könnte man manches erwidern; wo er aber sicher Recht hat, ist in der Kritik an Pinkers grosser Fortschrittserzählung. Pinker ist der Ansicht, dass gewisse historische Errungenschaften unumkehrbar sind, dass beispielsweise Sklaverei und Folter nie wieder zur Norm werden. Dies wirkt aus unserer aktuellen Perspektive durchaus überzeugend. Wir können uns in der Tat kaum vorstellen, dereinst wieder Sklaven zu halten oder öffentlichen Hinrichtungen und Verstümmelungen beizuwohnen. Allerdings ist das just das, was der IS derzeit vollführt. Pinker würde hier wohl einwenden, dass die Greueltaten des Kalifats vor allem auf einen propagandistischen Effekt abzielten – und dies mit Erfolg – , zahlenmässig aber kaum ins Gewicht fallen. Diese Argumentation hat durchaus etwas für sich, aber eine Gewissheit, dass sich die Geschichte so weiterentwickelt, wie von Pinker skizziert, gibt es dennoch nicht.

Pinkers Ansatz ähnelt dem von Francis Fukuyama nach dem Niedergang der Sowjetunion beschworenen «End of History», der Auffassung, dass die Geschichte der Menschheit zwangsläufig zum Triumph freiheitlicher Demokratien führen muss. Beide Autoren lehnen Utopien erklärtermassen ab, übersehen dabei aber, dass sie im Grunde selber von einem utopischen Endzustand ausgehen. Der entscheidende Unterschied zur klassischen Utopie ist dabei, dass ihre ideale Staatsform nicht erst realisiert werden muss, sondern angeblich bereits existiert. Ihre Utopie ist die Gegenwart.7

Literatur

Balasopoulos, Antonis: «Anti-Utopia and Dystopia: Rethinking the Generic Field». In: Vlastaras, Vassilis (Hg.): Utopia Project Archive, 2006–2010. Athens 2011, 59–67.

Engels, Friedrich: «Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft» (1880). In: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke. Bd. 19. Berlin 1973, 177–228.

Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man. New York 1992.

Pinker, Steven: The Better Angels of Our Nature. The Decline of Violence in History and Its Causes. London 2011.

Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1: Der Zauber Platons. München 1975 (Original: The Open Society and Its Enemies, I. The Spell of Plato. London 1945).

– : Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2: Falsche Propheten. München 1980 (Original: The Open Society and Its Enemies, I. The High Tide of Prophety. London 1945).

  1. Auf Deutsch: Der Sprachinstinkt.[]
  2. Auf Deutsch: Gewalt.[]
  3. Was mich an Pinkers Vortrag nicht zuletzt irritierte, war, dass er es fertig brachte, in völlig apolitischer Weise über Gewalt und Terror zu sprechen. Zwar deutete er im anschliessenden Q&A an, dass angesichts der statistischen Vernachlässigbarkeit von Terroranschlägen militärische Reaktionen vollkommen unverhältnismässig seien. Die Toten, die etwa der Irak-Krieg auf beiden Seiten gefordert hat, stehen in keinem Verhältnis zur Zahl der Opfer des 11. Septembers. In Anbetracht der Kriegsrhetorik von François Holland wirkte seine Antwort aber sehr zahm und ausweichend. Gerade so, als wolle er bloss niemandem auf die Füsse treten.[]
  4. Die Schätzungen gehen naturgemäss auseinander, aber selbst konservative Ansätze gehen alleine für den Zweiten Weltkrieg von 50 Millionen direkten Kriesgtoten aus.[]
  5. Es wäre zudem nicht nur danach zu fragen, inwieweit die sowjetische Einparteiendiktatur noch etwas mit Marxʼ Theorie zu tun hatte, sondern auch, inwiefern Kommunismus und Nationalsozialismus tatsächlich utopische Projekte sind. Marx und Engels taten die utopischen Entwürfe der Frühsozialisten Charles Fourier, Henri de Saint-Simon und Robert Owen als realitätsfremde Träumereien ab, denen sie ihren «wissenschaftlichen Sozialismus» gegenüberstellten. In seiner Schrift «Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft» (1880) bezeichnet Engels die Frühsozialisten zwar als seinen geistige Vorläufer, kritisiert aber deren Entwürfe. Gerade die detaillierte Beschreibung mache diese als politische Programme wertlos: «je weiter sie in ihren Einzelnheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine Phantasterei verlaufen«. Die Nazis wiederum verfügten – nicht zuletzt im Vergleich zu den Kommunisten – über keine ausgearbeitete Gesellschaftstheorie.[]
  6. Dass gerade die Frage, was denn die menschliche Natur ausmacht, historisch höchst unterschiedlich beantwortet wird, interessiert Pinker nicht. Eine Konzeption von Geschichten in Brüchen, wie sie etwa Michel Focault postuliert, scheint ihm gänzlich fremd.[]
  7. Antonis Balasopoulos, der in einem Artikel zwischen diversen Spielarten von Utopien, Dystopien und Anti-Utopien unterscheidet, zählt Fukuyamas Modell zu den so genannten «pre-emptive anti-Utopias». Diese zeichnen sich dadurch aus, dass «they explicitly suggest that existing reality is, in substance, already Utopian, and hence, that continuing dissatisfaction with it is implicitly or explicitly illegitimate or even dangerous» (62).[]