Tomorrowland zum Zweiten

Wie immer gilt ein genereller Spoilervorbehalt.[ref]Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie leidet, sollte die Einträge zu aktuellen Filmen somit besser meiden.[/ref]

Nachtrag zu meinem letzten Eintrag zu Tomorrowland: Dass der Film eine Utopie frei von Politik entwirft, habe ich ja bereits dargelegt. Der Fokus liegt ganz auf der individuellen Kreativität; wenn sich alle Genies austoben dürften, können sie die Welt flicken. – Tatsächlich ist dieser Begriff zentral für den Film. Protagonistin Casey fragt in in einer zentralen Sequenz, in der vorgeführt wird, wie sie und ihre Altersgenossen in der Schule nur mit negativen Szenarien zugeschüttet werden, entnervt: «How do we fix it.»

Obwohl «to fix» auch anders übersetzt werden kann, legt Brad Birds Film immer wieder nahe, dass die Frage einer guten Zukunft letztlich technischer Natur ist. Es herrscht eine Ingenieurslogik vor, die besagt, dass die drängenden Probleme der Gegenwart von schlauen Tüftlern wie Frank und Casey gelöst werden könnten. Diese Einschätzung ist natürlich kreuzfalsch. Eigentlich ist kaum eines der grossen Probleme der Gegenwart – Hunger, Klimaerwärmung, Armut etc. – primär technischer Natur. Der Klimawandel wird natürlich durch fossile Brennstoffe etc. hervorgerufen, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, bräuchte es aber keine bahnbrechenden Technologien, sondern in erster Linie eine sinnvollere Nutzung der bestehenden.

Das Maximum an Futurismus? – Der junge Frank mit seinem selbst gebastelten Raketenrucksack.

Das Maximum an Futurismus? – Der junge Frank mit seinem selbst gebastelten Raketenrucksack.

Technische Weiterentwicklungen würden sicher nicht schaden, aber solange der neue Supermotor oder das Wunderkraftwerk nicht günstiger ist als bestehende Technologien, werden sie nicht viel verändern. So prosaisch und langweilig das auch klingen mag, am Ende läuft vieles auf wirtschaftliche Überlegungen hinaus. Auch die Tatsache, dass viele Menschen nicht genug zu essen kriegen, liesse sich mit einer Wundererfindung kaum lösen. Respektive: Selbst wenn diese Wundererfindung – Superdünger, Essen, das sich selbst regeneriert, etc. – existierte, hätten die Hungernden sehr wahrscheinlich dennoch nichts davon, weil sie sie sich nicht leisten könnten. Genug zu essen auf der Erde gäbe es ohnehin schon heute; das Problem ist – und das gilt letztlich für fast alle Bereiche – die Verteilung. Die Ursachen für das Elend der Welt sind politischer resp. wirtschaftlicher Natur; solange es wirtschaftlich attraktiv ist, dass Menschen hungern, Regenwälder abgeholzt und Kohlekraftwerke gebaut werden, werden diese Dinge auch weiterhin geschehen. Technische Neurungen werden daran wenig ändern.[ref]Allenfalls die Energieversorgung ist ein technisches Problem, wobei – analog zur Klimaerwärmung – bereits heute zahlreiche Möglichkeiten bestünden, den Verbrauch zu senken. Dass dies nicht geschieht hat – einmal mehr – primär politisch-wirtschaftliche Gründe.[/ref]

Wirklich frappant ist aber, dass Tomorrowland für einen Film, der Freude für die Welt von morgen wecken soll, erstaunlich wenig futuristische Elemente enthält. Frank hat in seinem Anwesen einige lustige Gadgets untergebracht, Tomorrowland selbst verharrt dagegen weitgehend in einem überholten 1960er-Futurismusm, wo Raketenrucksack und Einschienenbahn das Höchste der Gefühle darstellen. Was Tomorrowland feiert, ist denn auch gar nicht die Zukunft, sondern die Erinnerung an eine längst vergangene Zukunft.

Dass die Verbindung von fehlenden Optimismus und dem Niedergang der NASA, die in Tomorrowland nahe gelegt wird, unsinnig ist, habe ich bereits ausgeführt. Matt Novak argumentiert auf dem Paleofuture-Blog ähnlich:

In fact, most people of the 1960s thought space travel was a waste of time and money. Baby Boomers who were kids in the 1960s remember support for the space program as universal because they were kids at the time. And they weren’t polling 10 year olds about the space program in 1964.

Novaks Beobachtung scheint mir korrekt. Der Weltraum-Zukunftsoptimismus von Tomorrowland ist ein zutiefst kindlicher. Was der Film zelebriert, ist gar nicht der Blick nach vorne, sondern die wehmütige Rückschau. Es geht in Birds Film nicht um Zukunftsoptimismus, sondern um Nostalgie.

Das traditionelle Disney-Logo …

Das traditionelle Disney-Logo …

… und die neue Version von <em class="Film">Tomorrowland</em>.

… und die neue Version von Tomorrowland.

Nun ist es ja nicht weiter erstaunlich, dass ein Disney-Film auf Nostalgie setzt. Das feierliche Inszenieren einer niedlichen Vergangenheit, die niemals war, ist gewissermassen die Kernkompetenz des Mäuse-Konzerns. All die Märchenschlösser, Feen, Kutschen und süssen Zwergenhüttchen, aber auch die Einfamilienhäuschen in Suburbia mit weissem Lattenzaun und rotem Briefkasten, die wir mit Disney assoziieren, sind hoch artifiziell; Imaginationen einer besseren Zeit, die es nie gab. Dass früher oder später auch das, was einmal die Zukunft war, mit diesem Nostalgie-Zuckerguss überzogen wird, kann nicht erstaunen. Dass man sich bei Disney dieser Entwicklung sehr bewusst ist, zeigt sich an Details wie dem Disney-Logo zu Beginn des Films: Statt der traditionellen Magic-Kingdom-Silhouette setzt man auf eine Tomorrowland-Skyline, die mit dem traditionellen Look wunderbar harmoniert.

Nostalgie ist der SF keineswegs fremd. In meiner Dissertation habe ich vielmehr argumentiert, dass das, was in Fankreisen oft als Sense of Wonder bezeichnet wird, jenes erhabene Gefühl des Ergriffenseins, das SF im besten Fall auslösen kann, ein durch und durch nostalgisches Phänomen ist. Im Schlusskapitel habe ich dazu Folgendes geschrieben:

Der Sense of Wonder ist keine Empfindung, die alleine der SF vorbehalten wäre, wahrscheinlich steht er als Grunderfahrung am Beginn jeglicher Liebe zur Kunst – vielleicht sogar der Liebe überhaupt. Und wahrscheinlich erwächst aus ihm ebenso romantisierende Nostalgie wie jene bornierte Rückwärtsgewandtheit, die überzeugt ist, dass früher grundsätzlich alles besser war. Wenn dem so ist und wenn die SF, wie ich in dieser Studie versucht habe darzulegen, dank ihres Wesens und Funktionierens besonders dazu geeignet ist, den Sense of Wonder zu erzeugen, dann scheint SF kein Modus des visionären Vorwärtsschauens zu sein, sondern vielmehr des wehmütigen Blicks zurück, zurück in jene Zeit, als die Zukunft noch jung war und alles möglich schien (Die Konstitution des Wunderbaren333 f.).

Auf die Gefahr hin, mich selbst zu loben: Als Beschreibung dessen, was in Tomorrowland geschieht, scheint mir das überaus treffend. Der Film selbst liegt diesen Schluss übrigens selbst nahe: Nicht umsonst spielt eine wichtige Szene des Films in einem SF-Fanshop, der Blast from the Past heisst (betrieben wird er übrigens von einem Hugo Gernsback  …).

Angefüllt mit SF-Nostalgie: Blast from the Past.

Angefüllt mit SF-Nostalgie: Blast from the Past.

Die Verbindung von SF und Nostalgie ist somit durchaus nicht ungewöhnlich, wie aber verhält es sich mit der Utopie? Dass zumindest die Dystopie oft die heile Vergangenheit der Gegenwart gegenüberstellt, habe ich schon mehrfach argumentiert. Ganz knapp zusammengefasst meine Überlegung: Die Dystopie nimmt negative Tendenzen der Gegenwart und projiziert sie in riesenhaft überhöht in die Zukunft. Die Botschaft: Noch besteht die Möglichkeit, den Niedergang aufzuhalten, wir müssen bloss zurück zu … Die meiste Dystopien haben zumindest implizit eine nostalgische Schlagseite. [ref]Siehe dazu: «Bilder einer besseren Welt. Über das ambivalente Verhältnis von Utopie und Dystopie». In: Mamczak, Sascha/Jeschke, Wolfgang (Hgg.): Das Science Fiction Jahr 2008. München 2008, 58–82. [PDF]; «Schöne Aussichten oder: Warum die Zukunft auf jeden Fall schrecklich sein wird». In: Cinema, Nr. 53, 2007, 133–140. [PDF][/ref]

Was das Verhältnis von Utopie und Nostalgie betrifft, bin ich mir noch unsicher. Ich muss mir dazu wohl noch ein paar Gedanken machen,  spontan scheinen mir aber die meisten Utopien dezidiert unnostalgisch. Der Reiz der klassischen Utopie liegt gerade in der Tabula rasa: Reinen Tisch machen und alles neu entwerfen. Nostalgie steht dieser Haltung diametral entgegen. Das müsste man aber noch im Detail untersuchen; insbesondere im Zusammenhang mit neueren Utopien des 20. und 21. Jahrhunderts, die nicht den totalen – und totalitären – Anspruch der klassischen Entwürfe haben. Auch die Geschichte von Tomorrowland – dem Disney-Themenpark – und die Rolle von Walt Disney müsste man in diesem Zusammenhang genauer anschauen. Dass Disney nicht nur eine konservative, sondern auch eine sehr progressive Seite hatte, dass er seine Themenparks durchaus als utopische Projekte verstand, habe ich schon mehrfach gelesen. Systematisch damit beschäftigt habe ich mich aber noch nicht. Mal schauen, ob ich irgendwann dazu komme …

Update: Der neue Artikel von Charlie Jane Anders auf io9.com bringt einige Aspekte, die ich angesprochen hat, auf den Punkt. Zum Beispiel dieses schöne Zitat: «Nostalgia is closer to being optimism’s enemy than its friend. Nostalgia is a fundamentally regressive, non-constructive sentiment.»

The Maze Runner als Utopie

Wie immer gilt ein genereller Spoilervorbehalt.[ref]Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie leidet, sollte die entsprechenden Einträge somit besser meiden.[/ref]

The Maze Runner ist zwar beileibe kein Meisterwerk, das die Zeit überdauern wird, der Film hat mich insgesamt aber positiv überrascht und war kurzweiliger und weniger kitschig, als ich es erwartet hatte (siehe meine Kritik). Zudem bot er in Sachen Utopie einige interessante Elemente.

Wes Balls Film erzählt von einem jungen Mann, der in einem Fahrstuhl zu sich kommt, welcher ihn zu einem von hohen Mauern eingeschlossenen Stück Grünfläche – der Glade – transportiert. Thomas, so der Name des Protagonisten, hat wie die anderen Bewohner der Glade, die ihn bereits erwarten, sein Gedächtnis verloren. Er weiss weder, wer oder was er vorher war, noch, wer ihn hierher gebracht hat. Wie wir bald erfahren, wird die Lichtung jeden Monat via Fahrstuhl mit Nahrungsmitteln und Utensilien versorgt. Zusammen mit dem Nachschub ist jeweils auch ein neuer Junge ohne Erinnerung mit dabei.

Als wäre das nicht bereits mysteriös genug, öffnet sich jeden Morgen eine Türe in der Wand, die den Weg in ein riesiges Labyrinth frei gibt. Dieses Labyrinth führt zu einem Ausgang – zumindest sind die Bewohner der Lichtung davon überzeugt, gefunden hat man ihn bislang noch nicht. Deshalb machen sich die sogenannten Runners jeden Tag auf, um das Labyrinth abzulaufen. In der Hoffnung, dereinst den sagenumwobenen Ausgang zu finden.

Das Leben der kleinen Gemeinschaft ist derweil gut organisiert. Jeder hat seine Aufgabe, es werden Nahrungsmittel angepflanzt und Unterkünfte gebaut, man isst und feiert gemeinsam. Im Grunde gar nicht so schlecht, wenn da nicht die grosse Ungewissheit wäre sowie die unheimlichen Geräusche, die des Nachts aus den Tiefen des Labyrinths widerhallen. Diese stammen von den Grievers, die sich später als eine Art riesenhafte Cyborg-Spinnen entpuppen werden.

Lord of the Flies in der Verfilmung von 1963

Lord of the Flies in der Verfilmung von 1963

Die Halbwüchsigen-Kolonie erinnert an William Goldings mehrfach verfilmten Roman Lord of the Flies (1954). Bei Golding stranden britische Jugendliche auf einer pazifischen Insel und errichten dort bald ein Terrorregime. Die pessimistische Botschaft des Romans: Der Mensch ist eine Bestie, und selbst bestens erzogene britische Jünglinge werden zu Ungeheuern, wenn die normalen gesellschaftlichen Normen wegfallen. Der Roman kann in diesem Sinne als eine Art Radikaldystopie verstanden werden: Es braucht gar keinen Big Brother oder eine übermächtige Partei, um ein Schreckensregime zu errichten. Die Protagonisten des Romans besorgen das alleine – notabene vor dem Hintergrund eines Südseeparadieses.

Verglichen mit Lord of the Flies erscheint The Maze Runner als regelrechte Utopie. Zwar deutet Alby, der unbestrittene Anführer an, dass es in der Vergangenheit nicht immer so friedlich zu und her ging, mittlerweile scheinen die Bewohner der Glade aber eingesehen zu haben, dass sie nur durch Kooperation weiterkommen. So gibt es zwar kleine Rivalitäten und Rangeleien, insgesamt funktioniert das Gemeinwesen aber recht gut. Und es finden sich die üblichen utopischen Elemente wieder. Da wäre einmal ein radikaler Neuanfang. Das unausgesprochene Problem der meisten Utopien ist bekanntlich, wie man mit all den Menschen verfahren soll, die noch im degenerierten vor-utopischen System aufgewachsen sind und denen die richtige utopische Gesinnung fehlt. Die Antwort von Maze Runner: Indem man auch hier Tabula rasa macht und jede Erinnerung an die Vergangenheit auslöscht. Darin zeigt sich auch die für Utopie und Dystopie gleichermassen typische Geschichtslosigkeit.[ref]Paradigmatisch hierfür ist Nineteen Eighty-Four, wo die regierende Partei laufend die Geschichtsschreibung an die Gegenwart anpasst. Aber auch Utopien interessieren sich nicht sonderlich für die Vergangenheit, denn diese ist bloss eine minderwertige Vorstufe der bestehenden Gesellschaft und deshalb für die Gegenwart kaum noch von Relevanz. Mit der Errichtung der Utopie kommt die Geschichte an ihr Ende; «and if for many of us Utopia is grasped as political fulfillment of history, we tend to overlook an ‹end of history› internal to the Utopian texts» (Fredric Jameson: Archaeologies of the Future: The Desire Called Utopia and Other Science Fictions. London/New York 2007, 186).[/ref]  Weitere altbekannte Details sind die zentrale Organisation und Güterverteilung (eine Gesellschaft ohne Geld!) sowie gemeinsame Speise- und Wohnbereiche.

Die utopische Ordnung der Glade ruht auf mehreren Pfeilern: Zum einen sorgt der Fahrstuhl für den Nachschub lebenswichtiger Güter. Die Jungen-Kolonie scheint stets so gut versorgt zu sein, dass kein Kampf ums Essen stattfinden muss, zugleich herrscht aber auch kein Überfluss, der dazu führen könnte, dass jemand mehr besitzt. Die unsichtbaren Herrscher über Fahrstuhl und Labyrinth sind hier ganz und gar utopische Herrscher, die dafür sorgen, dass alle echten Bedürfnisse befriedigt werden.

Unbestrittener Anführer der Gemeinschaft ist Alby, der als erster mit dem Fahrstuhl nach oben geschickt wurde und einen ganzen Monat alleine überleben musste. Obwohl Probleme in der Gruppe diskutiert werden, ist er es am Ende, der kraft seiner Seniorität beschliesst, was zu tun ist. Was die Gemeinschaft zusätzlich zusammenhält, ist die Hoffnung, dereinst aus dem Labyrinth zu finden.

Da eine funktionierende Jungen-Utopie kein Thema für ein Film wäre, werden diese drei stützenden  Faktoren im Laufe des Films nach und nach ausser Kraft gesetzt: Nach der Ankunft von Thomas kommt der Fahrstuhl nur noch einmal nach oben. Dieses Mal mit einer jungen Frau sowie der Nachricht, dass dies die letzte Lieferung war.[ref]Die Figur von Teresa offenbart eine prüde Schwachstelle des Films: Sex ist in dieser Welt kein Thema. Es wäre ja durchaus interessant, wie eine Gruppe Jugendlicher, die alle voll im pubertären Saft stehen, mit ihren Trieben umgeht. Das Thema wird aber nicht einmal angedeutet. Und obwohl die Ankunft Teresas für Aufruhr sorgt, sind körperliche Begierden auch hier kein Thema. Für einen Moment dachte ich ja, dass die Nachricht, dass mit Teresa die letzte Lieferung erfolgt sei, als Aufforderung zu verstehen sei, dass sich die Gemeinschaft nun selber fortpflanzen müsse. Aber da habe ich den Film offensichtlich überschätzt.[/ref]

Kurz darauf erfährt Thomas, den es natürlich ins Labyrinth zieht, dass die Runner den Irrgarten längst abgelaufen haben – ohne einen Ausgang zu finden. Die Hoffnung auf Flucht war somit umsonst. Und schliesslich stirbt Alby. Die Folge: Ein Streit um das weitere Vorgehen und schliesslich um die Führerschaft.

Die Szene, in der Alby Thomas offenbart, dass er und die Runner schon lange wissen, dass es keinen Ausweg aus dem Labyrinth gibt, erinnert an das Konzept der edlen Lüge bei Plato. In dessen Politeia bedient sich die herrschende Philosophenkaste bei verschiedenen Gelegenheiten der Lüge, um die Bürger zu lenken. So wird etwa Paaren vorgegaukelt, dass sie durch einen göttlicher Zufall zusammengeführt wurden, in Wirklichkeit wurden sie von den Herrschern nach Zuchtkriterien ausgewählt. Es gibt nach Plato Situationen, in denen der weise Herrscher das Volk belügen muss, um den richtigen Entscheid umsetzen zu können. Offensichtlich ist Alby ebenso der Meinung, dass er im Interesse der Gemeinschaft handelt, wenn er geheim hält, dass es keinen Ausweg gibt (dass Thomas dann doch einen Ausgang finden wird, versteht sich von selbst).

Gally will die bestehende Ordnung aufrecht erhalten

Gally will die bestehende Ordnung aufrecht erhalten

Alby scheint davon überzeugt, dass die Gemeinschaft ohne die Hoffnung auf Rettung nicht funktionieren kann, allzu viel Zeit wendet der Film für dieses moralische Dilemma allerdings nicht auf. Auch Gallys Motivation, der nach Albys Tod zum Gegenspieler Thomas’ wird, wird nicht gross ausgeleuchtet. Dabei ist dessen Handeln durchaus nachvollziehbar. Denn bis zu Thomas’ Ankunft war das Leben in der Glade ja ganz angenehm; Thomas aber scheint die Ordnung aus dem Gleichewicht zu bringen. Mit dem Ergebnis, dass die Grievers in der Nacht die Glade heimsuchen. Die klassische Utopie ist statisch und ihr natürlicher Feind ist der Utopist, der eine neue Ordnung herbeiführen will – in diesem Falle Thomas, dem es gelingt, einen Griever zu zerstören. Es ist nur konsequent, dass Gally, der an Albys Ordnung glaubt, auf dem Status quo beharrt.

Und tatsächlich behält Gally Recht: Die zerstörte Welt, welche die wenigen Überlebenden am Ende des Films betreten, scheint in jeder Hinsicht schlechter als die Oase der Glade. Aber wir können wohl davon ausgehen, dass am Ende der Trilogie dann doch ein bessere Welt auf die Labyrinthläufer warten wird.

Authentische Wunschträume

In der Zeitschrift Komparatistik Online ist dieser Tage ein Teil der Proceedings der letzten Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung erschienen — unter anderem darin enthalten ist ein Artikel von mir zur Utopie im nicht-fiktionalen Film.

Das Timing ist nicht ganz optimal, da ich mich in dem Artikel u.a. auf einen Text beziehe, den ich für die Proceedings der 2012er Jahrestagung geschrieben habe, welche voraussichtlich erst im Herbst erscheinen werden.[ref]Hier die vorläufigen bibliografischen Angaben: «Auf der Suche nach dem utopischen Film». In: Christiane Lötscher, Petra Schrackmann, Ingrid Tomkowiak, Aleta-Amirée von Holzen (Hg.): Übergänge und Entgrenzungen in der Fantastik, Berlin: Lit 2014 [im Druck].[/ref] Ich denke aber, dass der Artikel auch so verständlich sein sollte. Kurz zum Inhalt: Grundthese meines Forschungsprojekts ist, dass es im nicht-fiktionalen Film (vulgo: Dokumentarfilm) zahlreiche Beispiele für utopische Entwürfe gibt, die dem von Thomas Morus in Utopia etablierten Modell weitgehend entsprechen. Ein Beispiel hierfür, das ich im besagten noch nicht veröffentlichten Artikel analysiere, ist Zeitgeist: Addendum von Peter Joseph, ein Low-Budget-Film (auf YouTube frei erhältlich), der neben viel verschwörungstheoretischem Geraune mit dem Venus Project auch einen Gegenentwurf präsentiert.[ref]Ursprünglich aufmerksam auf das Venus Project resp. Josephs Filme wurde ich durch einen Thread auf sf-netzwerk.de. Die Diskussion, in die sich zwischendurch auch ein Vertreter des Venus Project einschaltet, driftet zwar immer wieder ab, zeigt aber sehr schön die Probleme dieses Projekts.[/ref] Das Venus Project wiederum ist zwar durchaus ernst gemeint, präsentiert sich aber als einzige Ansammlung utopischer Topoi. Sei es Geldlosigkeit, zentrale Verteilung der Güter, Erziehung zum besseren Menschen, Abschaffung des politischen Prozesses – das Venus Project bietet die volle Packung.[ref]Aus Josephs Zeitgeist-Filmen ist das Zeitgeist Movement hervorgegangen, das sich ursprünglich als aktivistischer Arm des Venus Project verstanden hat. Wie es derartigen bei sektenähnlichen Vereinigungen aber oft vorkommt, haben sich die beiden Bewegungen mittlerweile überworfen und gehen seither getrennte Wege.[/ref]

Während ich in dem nun später erscheinenden ersten Artikel ganz grundlegend dafür plädiere, den Dokumentarfilme für die Utopieforschung zu erschliessen, konzentriere ich mich in dem in Komparatistik Online erschienenen Aufsatz auf die Frage, wie sich ein Film wie Zeitgeist: Addendum aus Sicht der Dokumentarfilm-Theorie präsentiert. Denn auf den ersten Blick erscheint ein solcher utopischer Film als Paradoxon: Ausgerechnet im Dokumentarfilm, der die Wirklichkeit abbildet, soll es utopische Entwürfe geben, zu deren wesentlichen Eigenschaften es gehört, dass sie (noch) nicht existieren. Bei genauerer Betrachtung ist die Sache freilich gar nicht so widersprüchlich. Dass Dokumentarfilme die Wirklichkeit keineswegs einfach abbilden, dass das Verhältnis zwischen Realität und Film einiges komplexer ist, dürfte jedem klar sein, der sich ein bisschen in diesem Bereich auskennt. Das macht die Sache aber nicht einfacher, und die Filmtheorie müht sich schon seit geraumer Zeit mit der Frage ab, wie das Verhältnis zwischen Dokumentarfilm und Wirklichkeit am besten zu fassen ist. Persönlich scheint mir der semiopragmatische Ansatz von Roger Odin hier am sinnvollsten. Sehr vereinfacht gesagt geht dieser davon aus, dass ein Film vom Rezipienten immer auf verschiedene Arten gelesen werden kann, und dass die unterschiedlichen Lektüre-Modi sowohl durch formale Merkmale im Film – z.B. Kameraführung, Einsatz von Off-Kommentar, Montage – wie auch durch den Kontext, in dem der Film rezipiert wird, nahegelegt werden. Wenn ein Film z.B. als Dokumentarfilm beworben wird, liegt es nahe, dass ich als Zuschauer den dokumentarisierenden Modus wähle. Es stet mir aber immer frei, entgegen der Vorgaben, die ein Film resp. der Kontext macht, einen anderen Lektüremodus zu wählen.

Entwurf von Jacque Fresco.

vlcsnap-2014-05-19-22h31m29s68vlcsnap-2014-05-19-22h31m23s11Die Zukunft, wie man sie sich beim Venus Project vorstellt.

Der dokumentarisierende Modus unterscheidet sich vom  fiktionalisierenden unter anderem dadurch, dass ich als Zuschauer immer davon ausgehe, dass der Filmemacher Aussagen zur Wirklichkeit macht. Das heisst nun nicht, dass die Bilder und Töne im Film tatsächlich reale Ereignisse wiedergeben müssen, aber dass ich seinen Inhalt in Bezug zur Realität setze, dass der Film als Ganzer dem Wahrheitsgebot unterliegt. Zugespitzt formuliert: Ein Dokumentarfilm kann lügen, ein Spielfilm nicht. Der Filmtheoriker Carl Plantinga, der diesbezüglich ähnlich argumentiert wie Odin, spricht von einer assertorischen Haltung.

Was geschieht nun, wenn ein Dokumentarfilm Dinge zeigt, die es offensichtlich nicht gibt, wenn zum Beispiel in Zeitgeist: Addendum die computeranimierten Entwürfe von Venus-Project-Guru Jacque Fresco zu sehen sind?[ref]Fresco, Jahrgang 1916, also genau 400 Jahre jünger als Morus’ Utopia, ist gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin Roxanne Meadows die treibende Kraft hinter dem Venus Project. Benannt ist dieses nach seinem Namen in Venus, Kalifornine.[/ref] Verliert der Film dann seinen dokumentarischen Status? Ich bin der Ansicht, dass das nicht der Fall ist, denn an der grundsätzlichen Haltung des Films ändert sich nichts. Folgendes Zitat aus dem Artikel bringt den Sachverhalt – hoffentlich – auf den Punkt:

Die in Josephs Film gezeigten futuristischen Bauten und Gefährte sind zweifellos (noch) nicht real, im Kontext des Films verändern sie aber ihren Status und erscheinen nicht als völlig fiktive Elemente. Vielmehr ist die Argumentation des Films gerade darauf ausgerichtet, das Gezeigte als plausibel und wünschenswert erscheinen zu lassen. Mittels dieser Strategie verliert das Fiktive seine ursprüngliche Nicht-Wirklichkeit und erhält einen quasi-assertorischen Status. Diesen Vorgang, das Quasi-real-Erscheinen-lassen fiktiver Elemente, bezeichne ich als Faktualisierung (195 f.)

Faktualisierung führt also dazu, dass fiktive Elemente in einem Dokumentarfilm ihren nicht-realen Status zumindest teilweise verlieren. Das heisst nun keineswegs, dass Frescos Entwürfe damit automatisch plausibel werden. Aber auch ein Skeptiker, der das Venus Project für Unsinn hält, wird wohl zugestehen, dass dessen futuristische Städte einen anderen Status haben als die Metropolen eines Science-Fiction-Films. Ein Film wie Blade Runner erhebt keinen Anspruch darauf, eine ernsthafte Prognose zur Stadtentwicklung in den USA abzugeben. Fresco versteht seine Entwürfe dagegen ausdrücklich als ernsthafte Vorschläge, über welche man diskutieren und die man schliesslich auch umsetzen soll.

Mit dem Begriff der Faktualisierung, der übrigens von meiner Projektpartnerin Andrea Reiter stammt, scheint mir ein für mein Projekt ganz wesentliches Element benannt. Momentan haben wir dieses Konzept noch nicht detailliert ausgearbeitet, sondern nur grob skizziert. Auch mein Artikel ist nur als erster Entwurf zu verstehen, der das Phänomen des utopischen Dokumentarfilms aus filmtheoretischer Sicht umreisst. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich der Ansatz als fruchtbar erweisen wird. Der Vorgang der Faktualisierung scheint mir dabei für viele Spielarten des Dokumentarfilms relevant, im Falle der von mir untersuchten utopischen Filme bildet er aber das zentrale Scharnier zwischen Fiktion und Faktualität.

«Snowpiercer»

Auf diesem Blog werde ich unter anderem regelmässig über aktuelle Kinofilme schreiben (zumindest ist das so geplant). Da es hier aber um Analysen und mehr oder weniger wilde Gedanken zu den jeweiligen Filmen und nicht um Kritiken im engeren Sinn gehen soll – dafür gibt es meine andere Website –, gilt ein genereller Spoilervorbehalt. Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie[ref]Definition gemäss Urban Dictionary: (n.) fear of coming across a spoiler. can be preceded with specific kind of spoilerphobia.[/ref] leidet, sollte die entsprechenden Einträge somit besser meiden.

Snowpiercer

Snowpiercer des Südkoreaners Bong Joon-ho ist ein gelungener Science-Fiction-Film (siehe meine Rezension ), der auch in Sachen Utopie/Dystopie von Interesse ist. Kurz zur Geschichte: Der Versuch, die Klimaerwärmung mittels Freisetzung eines Wirkstoffs in die Atmosphäre rückgängig zu machen, hat ein bisschen zu gut funktioniert. In der Folge ist die Erde zu einem unbewohnbaren Eisklotz geworden, die letzten Überlebenden sind in einem Zug versammelt, der in endloser Kreisfahrt die Erde umrundet. Für seine Bewohner ist der Zug die Welt, der Versuch, diese zu verlassen, endet tödlich.

Der Zug ist ein geschlossenes Ökosystem: Es gibt Wagen, in denen Pflanzen angebaut werden, ein Aquarium, in einem Wagen wird Wasser rezykliert etc. Die Anordnung des Zugs bringt auch eine soziale Hierarchie zum Ausdruck: Die Oberschicht, die «ticket-holders», führt in den vorderen Wagen ein Leben in Luxus mit Sushi-Bar, Schönheitssalons und Party-Location, während die Unterschicht im letzten Wagen zusammengepfercht ist und sich von Proteinriegeln (Soylent Green lässt grüssen) ernähren muss. Natürlich wollen sich die Bewohner des hintersten Wagens nicht mit ihrer Situation abfinden – es kommt zur unvermeidbaren Revolte.

Snowpiercer ist eine typische Dystopie: Es wird ein Schreckensregime in all seinen schaurigen Details gezeigt und die Geschichte eines Aufstands erzählt. Im Gegensatz zur Utopie, in der es keine Unzufriedenen gibt, hat die Dystopie durch ihre rebellierende Hauptfigur immer schon einen handlungstreibenden Konflikt.[ref]In der klassischen Dystopie – wenn man diesen Ausdruck verwenden will – gibt es eigentlich immer irgendeine Form von Rebellion gegen die herrschende Ordnung. Oft erkennt dabei ein ursprünglich perfekt angepasstes Mitglied der Gesellschaft die Schlechtigkeit des Systems. Diese Einsicht geht oft Hand in Hand mit einer Liebesgeschichte. Mittlerweile wurde aber auch dieses Muster wiederum variiert. Vladimir Sorokins Der Tag des Opritschniks wäre ein Beispiel für eine Dystopie, die ganz ohne Rebellion auskommt. Der Protagonist ist hier ein Scherge der menschenverachtenden Diktatur. Diese Figur würde in einer «normalen» Dystopie früher oder später an ihrem Tun zweifeln. Sorokins Held dagegen bleibt bis zum Schluss ein treuer Diener seiner Herren.[/ref] Dass Utopie und Dystopie dennoch nahe beieinander liegen, wurde schon vielfach festgestellt. Im Grunde reicht ein Unzufriedener, dem das jeweilige System nicht passt, um aus einer klassischen Utopie eine Dystopie zu machen. Es ist denn auch kein Zufall, dass die meisten klassischen Utopie der Frage ausweichen, was mit all jenen geschah, die ursprünglich gegen die Etablierung der utopischen Ordnung waren …

Auch in Snowpiercer ist die Nähe der beiden Formen präsent, denn für die meisten Reisenden stellt der Zug durchaus eine Utopie dar. Nicht nur ist er – zwangsläufig – von der Aussenwelt abgeschlossen und autark, für die «ticket-holders» gestaltet sich das Leben in dieser Welt zudem sehr angenehm. Ohnehin gibt es keine echte Alternative zum rettenden Zug. Aus Sicht der «ticket-holders» bringen die Rebellen die einzig vernünftige – da alternativlose – Ordnung durcheinander; ein Zerstören des Zugantriebs wäre für alle Insassen gleichermassen fatal.

Für die Aufrechterhaltung der utopischen Ordnung ist Erziehung zentral. Die Utopie ist auf utopische Bürger angewiesen, die einsehen, dass keine vernünftige Alternative zum jeweiligen System existiert. Und tatsächlich gibt es im Snowpiercer-Zug einen Schulwagen, in dem auch die witzigste Szene des Films spielt. Hier werden die Kinder der «ticket-holders» von klein auf gedrillt, um in dieser Welt richtig zu funktionieren. Wie wichtig der Zug ist, lernen die Kleinen dabei in eingängigen Kinderliedern:

Rumble rumble, rattle rattle …
It will never die!
What happens if the engine stops?
We will all freeze and die.

Wilford, der sagenhafte Erbauer und Lenker des Zugs, erscheint je nach Perspektive als weise Vaterfigur, der das Überleben der Menschheit sicherstellt, oder aber als tyrannischer Big Brother. Dabei lässt der Film die Frage lange offen, ob Wilford überhaupt noch lebt oder bloss eine Propaganda-Figur ist (ähnlich wie Orwells Big Brother, bei dem letztlich irrelevant ist, ob er je existiert hat). Wie sich am Ende aber herausstellt, lebt Wilford noch und ist zudem äusserst rührig. Die Rebellion kam für ihn keineswegs unerwartet, sondern wurde vielmehr von ihm eingefädelt. Er versorgt die Rebellen immer wieder mit Informationen, die ihnen das Vorwärtskommen im Zug überhaupt erst ermöglichen. Der Aufstand dient dabei einerseits dazu, die Population des Zugs zu dezimieren, andererseits will Wilford auf diese Weise seinen Nachfolger küren. Ausgerechnet Curtis, der zögerliche Anführer der Revolution, soll den Platz des alternden Wilford einnehmen.

Curtis durchläuft auf seinem Weg zur Zugspitze eine regelrechte utopische (Um-)Erziehung. Als sie sich schliesslich gegenüberstehen, hat er den Argumenten Wilfords wenig entgegen zu setzen; eine echte Alternative zum etablierten Zugsystem kann er nicht bieten. Freilich ist der Film dann doch nicht so bitterböse, dass er der wilfordschen Logik bis zum bitteren Ende folgen würde. Als Curtis entdeckt, was mit den beiden Jungen geschehen ist, die zu Beginn des Films entführt wurden — sie dienen als menschliche Ersatzteile für die alternde Zugmechanik —, siegt die menschliche Anteilnahme über die kalte utopische Rationalität. Die obligate grosse Schlussexplosion macht dem verhassten Zug dann endgültig den Garaus.

Beides — der Sieg der Menschlichkeit sowie der finale Kracher — sind Konventionen des Mainstreamkinos. Aus der Logik der Filmwelt heraus betrachtet erscheinen sie allerdings alles andere als zwingend. Ist es wirklich klug, den Zug zu zerstören und so das Überleben der Menschheit aufs Spiel zu setzen? Snowpiercer kann sich hier nur mit einem Deus ex machina behelfen: Obwohl zu Beginn wenige Minuten Aussentemperatur reichen, um einer Figur den Arm abzufrieren, hat sich die Erde am Ende so weit erwärmt, dass Leben im Freien wieder möglich ist.

Dass die utopisch-dystopische Dialektik trotz entsprechender Ansätze nicht voll zum Tragen kommt, liegt allerdings an einer anderen, gravierenderen Schwäche, auf die auch Abigail Nussbaum in ihrer lesenswerten Rezension (die meine eigene massgeblich inspiriert hat) hinweist: Für das Funktionieren des Ökosystems Zug ist der letzte Wagen vollkommen überflüssig. Wieder und wieder betonen die Vertreter der Obrigkeit zwar, dass das System Zug nur funktioniert, wenn jeder seinen vorgeschriebenen Platz einnimmt;[ref]Auch das ein utopischer Topos. Bereits Platons Politeia, einer der utopischen Urtexte, der für Morus einen massgeblichen Einfluss darstellte, entwirft ein rigides Klassensystem.[/ref]  andernfalls droht das labile Gleichgewicht zu kippen. Tatsächlich kann von einem Gleichgewicht aber nicht die Rede sein, denn der letzte Wagen erfüllt im Ökosystem Zug keinen sichtbaren Zweck. Die Unterschicht produziert nichts, trägt nichts zum Funktionieren des Zugs bei, ist im Grunde überflüssig.

Dabei wären Varianten, in denen der hinterste Wagen wirklich ein integraler Teil des Zugsystems ist, durchaus vorstellbar. Man denke etwa an H. G. Wells’ Klassiker The Time Machine (1895): In ferner Zukunft hat sich die Menschheit in zwei unterschiedliche Spezies ausdifferenziert, die in einer blutigen Symbiose leben. Über der Erde führen die kindlich unschuldigen, aber auch völlig degenerierten Elois ein sorgenfreies Leben. Die schrecklichen Morlocks im Untergrund dagegen halten die Maschinerie dieser Welt am Laufen. Grausame Pointe des Ganzen: Die Morlocks ernähren sich von den Elois. Der Preis, den die Elois für ihr Arkadien bezahlen, ist die ständige Gefahr, eines Tages verspeist zu werden. Aus der Perspektive der Morlocks erscheint das Arrangement dagegen bloss als eine Form von Viehzucht.

Eine analoge Konstellation in Snowpiercer hätte das utopisch/dystopische Dilemma noch verschärft. Mit den beiden Kindern, die einspringen müssen, als die Technik versagt, greift der Film eine ähnliche Idee auf – der letzte Wagen als menschliches Ersatzteillager. Auch das Thema Kannibalismus ist im Film präsent: Wie wir gegen Ende erfahren, assen sich die Bewohner des letzten Wagens gegenseitig auf, bevor sie mit Protein-Riegeln versorgt wurden. Die entsprechenden Ansätzen wären also vorhanden, sie werden aber nicht konsequent durchgespielt. Wirklich erstaunlich ist das nicht, denn wenn Vorder- und Hinterteil des Zugs im gleichen Masse voneinander abhängig wären wie Elois und Morlocks, wäre ein Aufstand von Anfang an sinnlos. Dann könnte dieser bestenfalls dazu führen, die Verhältnisse umzudrehen und die einstigen Herrscher ans Zugsende zu verbannen. Eine so pessimistische Vision ist von einer Hollywood-Produktion aber kaum zu erwarten.

Der Schuh des Anstosses

Ein Detail, das mir besonders aufgefallen ist, möchte ich hier noch erwähnen, obwohl es sich wahrscheinlich um einen reinen Zufall handelt. Relativ früh im Film wird Mason, die Satthalterin Wilfords (Tilda Swinton mit einer karikaturistischen Glanzleistung), vom Vater des einen entführten Jungen mit einem Schuh beworfen. Zur Strafe verliert er den Arm. Bevor das Urteil vollstreckt wird, muss er sich vor dem versammelten Wagen mit dem besagten Schuh auf dem Kopf anhören, dass er die natürliche Ordnung durcheinander gebracht hat (ich habe nur einen Screenshot gefunden, der die Umdrehung der Situation zeigt: Nachdem die Rebellen Mason gefangen genommen haben, muss nun sie mit dem Schuh auf dem Kopf posieren). Ein Schuh ist unten, der Kopf ist oben – «so it is». Wer diese Ordnung stört und den Schuh auf den Kopf stellt, muss bestraft werden.

snowpiercer

Der Schuh des Rebellen

In dieser Szene finden zwei ganz unterschiedliche Motive zusammen. Einerseits spielt sie natürlich auf den irakischen Journalisten Muntazer al-Zaidi an, der US-Präsident George W. Bush im Dezember 2008 mit Schuhen bewarf. Das Schuhwerfen ist seither zu einem ikonischen Bild des Protests geworden. Das Bild des Schuhs auf dem Kopf wiederum findet sich in Tommaso Campanellas Civitas solis, dt. Der Sonnenstaat (verfasst 1602, veröffentlicht 1623). Campanellas utopischer Entwurf ist einer der frühesten Texte, die direkt auf Morus’ Utopia reagieren, eine wilde Mischung aus Theokratie, Kommunismus sowie protofaschistischenen Elementen und ein typisches Beispiel für eine Utopie, in der kein vernünftiger Mensch leben will. Für unsere Zwecke ist die Passage interessant, in der beschrieben wird, was mit Männern geschieht, die sich der Sodomie, sprich: der Homosexualität, hingeben:

Wer bei Sodomie ertappt wird, wird gerügt und muss zur Strafe zwei Tage lang die Schuhe um den Hals gebunden tragen Zum Zeichen, dass er die Ordnung verkehrt und den Fuss auf den Kopf gestellt hat.[ref]Tommaso Campanella: Sonnenstaat. In: Klaus J. Heinisch (Hg.): Der utopische Staat. 26. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, 111–172, hier: 131. Im Wiederholungsfall erwartet den Sodomiten übrigens die Todesstrafe.[/ref]

Wie gesagt: Wahrscheinlich reiner Zufall; ich glaube nicht, dass Bong und sein Team Campanella kannten und bewusst Bezug auf diesen nehmen. Ich finde es aber interessant, wie hier zwei ganz unterschiedliche Motive miteinander verschmelzen und wie der Schuh auf dem Kopf resp. um den Hals in beiden Fällen als Symbol einer frevlerisch verkehrten Ordnung fungiert.

Tagungsnotizen

Wie im letzten Eintrag angekündigt, war ich vergangene Woche in Berlin an der Tagung Embattled Heavens. Thema der Konferenz waren Kämpfe in und um den Weltraum in allen denkbaren Facetten. Das mag sich auf den ersten Blick ein bisschen seltsam anhören, ist im Grunde aber ein durchaus nahe liegendes Thema. Die Geschichte der Raumfahrt ist nun einmal eng mit politischen und militärischen Fragen verknüpft; beispielsweise hätte ohne den Kalten Krieg der erste Flug zum Mond kaum schon 1969 stattgefunden (kleine Wissensfrage am Rande: Wer war der dritte Mann auf dem Mond? Ich selbst habe keine Ahnung resp. habe den Namen bereits wieder vergessen. Durchaus beruhigend, dass viele Konferenzteilnehmer ebenfalls nicht in der Lage waren, aus dem Stand, die korrekt Antwort – Michael Collins – zu geben Korrektur: Wie Uli im Kommentar korrekt bemerkt, war Michael Collins zwar der dritte Teilnehmer der Apollo-11-Mission, aber nicht der dritte Mensch auf dem Mond. Diese Ehre kommt vielmehr Charles «Pete» Conrad, Jr., dem Kommandanten der Apollo-12-Mission, zu.), und später gab es unter US-Präsident Reagan doch einigermassen ernsthafte Pläne zur Aufrüstung im All.

Weltraumschiff 1 startet

Weltraumschiff 1 startet

An der Tagung waren Historiker, Geographen, Literatur- und Kulturwissenschaftler sowie Spezialisten für Verschwörungstheorien und sogar ein waschechter UFO-Gläubiger versammelt, und insgesamt war die Stimmung sehr angenehm. In meiner Erfahrung sind interdisziplinäre Tagungen oft entspannter als ausgesprochene Fachtagungen, da der Konkurrenzkampf weniger ausgeprägt ist. Da ohnehin jeder in einem anderen Gebiet tätig ist, muss man auch nicht die ganze Zeit zeigen, wie viel besser man Bescheid weiss als die anderen. Ein kleines Highlight war für mich der Vortrag von Jörg Hartmann, den ich schon seit längerer Zeit kenne. Jörg sprach über Weltraumschiff 1 startet, einen ziemlich obskuren deutschen Kurzfilm aus dem Jahr 1937. Der Film ist seit längerer Zeit frei im Web erhältlich, über seine Entstehung ist aber wenig bekannt. Jörg ist – auch für ihn eher unerwartet – zum Recherchier-Spürhund geworden, wobei es ihm gelang, den Sohn des Regisseurs Anton Kutter ausfindig zu machen[ref]Auf Anton Kutter bin ich kürzlich selbst gestossen und zwar in Zusammenhang mit dessen Film Ein Meer versinkt (1936) (gesehen habe ich den Film noch nicht, Auszüge daraus gibt es ebenfalls auf YouTube). Dieser Film dreht sich um das wahnwitzige Altantropa-Projekt, das zum Ziel hatte, einen Staudamm in der Strasse von Gibraltar und bei den Dardanellen zu errichten, um so Teile des Mittelmeers trocken zu legen. Ich hoffe, dass ich später noch ausführlicher auf Atlantropa eingehen werde. [/ref]. In seinem Vortrag konnte er dann Material präsentieren, das vorher kaum jemand gesehen hatte – u.a. das Originaldrehbuch und grossartige Set-Fotos. Ich hoffe, dass daraus mal eine eigene kleine Publikation wird.

Für mein eigentliches Thema direkt warf die Tagung zwar nicht allzu viel Konkretes ab, es war aber doch interessant, dass nicht nur der Begriff «Science Fiction» oft fiel, sondern dass auch immer wieder von Utopien die Rede war. Zwar kaum je in dem engen Sinn, der mich primär interessiert, aber das All ist definitiv eine Projektionsfläche für utopische Phantasien.

Dass ich durch die relativ spezialisierte meines Vortrags ein bisschen aus dem Tagungsrahmen fallen würde, hatte ich erwartet, und so überraschten mich die unterschiedlichen Reaktionen auf meinen Vortrag denn auch nicht sonderlich. Manchen war die Frage, ob Starship Troopers als klassische Utopie gelten kann, wohl zu weit weg vom eigentlichen Thema.[ref]Ich teilte das Panel mit Philipp Theisohn, der an der Universität Zürich das Forschungsprojekt Conditio Conditio extraterrestrisch über das All als literarischen Imaginations- und Kommunikationsraum. Auch er sprach zu Heinleins Romans. Dass sich ausgerechnet die beiden Zürcher Tagungsteilnehmer mit dem gleichen Roman beschäftigen, ist doch einigermassen originell.[/ref] Viele positive Reaktionen gab es dafür, wenn ich bei den diversen Gesprächen zwischen den Vorträgen von meinem Forschungsprojekt erzählte. Das Thema stösst zu meiner grossen Freude auf reges Interesse.

In diesem Zusammenhang freut es mich auch, dass mein Proposal für die Tagung SF/F Now, die am 22. und 23. August an der University of Warwick stattfinden, angenommen wurde. Ich werde die Gelegenheit nutzen, um dort mein Projekt erstmals einem internationalen Publikum zu präsentieren.

Umkämpfte Himmel

Nächste Woche findet in Berlin die Tagung Embattled Heavens: The Militarization of Space in Science, Fiction, and Politics statt, an der ich einen Vortrag halten werde  – natürlich zur Utopie. Das Thema der Tagung ist zwar nicht unbedingt utopisch, ich habe es aber dennoch geschafft, mich reinzuschmuggeln, und zwar mit einem Vortrag zu Robert A. Heinleins  Starship Troopers (1959). Der Roman erzählt die Geschichte des jungen Soldaten Johnnie Rico, der in der Zukunft gegen ausserirdische Bugs kämpft. Wie diese Zukunft im Detail aussieht, wie die Gesellschaft organisiert ist, erfahren wir kaum, lediglich ein Aspekt wird hervorgehoben: Wahlberechtigt ist in der Welt von Starship Troopers nur, wer Militärdienst geleistet hat.[ref]Zur Verteidigung des Romans wird immer wieder argumentiert, dass sich der civil service keineswegs auf Militärdienst beschränken würde. Heinlein selbst vertritt diese Ansicht in Expanded Universe. Wie James Gifford, ansonsten ein grosser Bewunderer des Autors, aber nachgewiesen hat, wird diese Einschätzung durch den Roman selbst nicht gestützt. Siehe: Gifford, James: The Nature of «Federal Service» in Robert A. Heinlein’s Starship Troopers. 1996.[/ref]

StarshipTroopersCoverStarship Troopers ist eines der bekanntesten Büchern Heinleins und zugleich sein umstrittenstes. Wem es langweilig ist, braucht nur in einem SF-Forum seiner Wahl eine Diskussion zum Thema «Ist Starship Troopers faschistisch?» zu starten – genug Unterhaltung für die folgenden Tage dürfte garantiert sein. So ganz konnte und kann ich diese heftigen Reaktionen nie nachvollziehen, denn in meinen Augen ist der Roman nicht nur ziemlich dumm, sondern auch erstaunlich langweilig. Vorderhand wird zwar die Geschichte Johnnie Ricos erzählt, im Grund fehlt aber ein echter Plot. Stattdessen gibt es – nach einem durchaus rasenten Auftakt mit einer Schlachtenszene – kapitellange Ausführungen über militärische Ausbildung, kindische Rechtfertigungen von Todesstrafe und körperlicher Züchtigung und viel militaristisches Macho-Geschwätz.

Dennoch beschäftigt mich der Roman schon länger, nicht zuletzt wegen Paul Verhoevens grossartiger Verfilmung. Denn Verhoeven und sein Drehbuchautor Ed Neumeier – Verhoeven selbst hat den Roman nach eigener Aussage gar nie zu Ende gelesen – haben etwas sehr ungewöhnliches gemacht, zumal für Hollywoodproduktionen: Ihr Starship Troopers ist keine Verfilmung im Geiste der Vorlage, sondern vielmehr eine Satire auf diese. Der Film nimmt die Ausgangslage des Romans und übertreibt alles ein bisschen – das Ergebnis ist eine zwar nicht sonderlich subtile, aber sehr unterhaltsame schwarze Satire.[ref]Das wirft auch die Frage nach dem Verhältnis von Satire und Utopie auf. Dass die beiden Gattungen eng miteinander verbunden sind, dürfte unbestritten sein. Bislang scheint aber noch niemand diesen Zusammenhang auf grundlegender Ebene untersucht zu haben. Zumindest ist mir kein entsprechender Text bekannt.[/ref] Eine Satire, die über die Länge eines Films hinweg funktioniert und nicht nach 30 Minuten verpufft, gehört in meinen Augen zu den schwierigsten Dingen, die es im Medium Spielfilm gibt; Starship Troopers ist eines der wenigen Beispiele, die nicht scheitern.

StarshipTroopersGerichIch will schon seit geraumer Zeit einen Artikel darüber schreiben, dass Starship Troopers eigentlich eine Utopie ist. Denn zahlreiche Elemente seiner Zukunftsgesellschaft sind utopisch, und dies  im doppelten Sinn: Einerseits zeigt der Film eine Gesellschaft, in der – mit Ausnahme dieses blöden Kriegs mit den Bugs – alle mehr oder weniger zufrieden scheinen, zum anderen bedient sich der Film verschiedener Topoi, die zum festen Bestandteil der utopischen Literatur gehören. An dieser Stelle sei nur ein Beispiel erwähnt: Die Klage darüber, dass die Gesetze und das Justizwesen generell zu kompliziert seien und dass vor Gericht am Ende nicht gewinnt, wer Recht hat, sondern wer den raffinierteren Anwalt aufbietet, findet sich bereits bei Morus. Viele Utopien reagieren darauf mit einer radikalen Vereinfach der Gesetze. Was richtig und falsch ist, ist ja ohnehin  klar, also braucht es auch keine komplizierten Prozesse. Dieses Motiv nimmt Starship Troopers in einem seiner Nachrichten-Einsprengsel auf. So ganz nebenbei erfahren wir, dass ein Mörder am gleichen Tag vor Gericht gestellt und zu Tode verurteilt wurde. Die Exekution ist für den Abend angesetzt.

Als Bartholomäus Figatowski vergangenes Jahr einen Call for Papers für einen Heinlein-Sammelband lancierte,[ref]Das Buch sollte im Laufe des Jahres erscheinen.[/ref] schien das die ideale Gelegenheit, um diese Idee endlich auszuarbeiten. Um über den Film zu schreiben, musste ich mich aber zuerst genauer mit dem Roman beschäftigen, und zu meiner grossen Überraschung stellte sich heraus, dass bereits Heinleins Roman zahlreiche utopische Elemente enthält. Allerdings ist die Utopie nicht etwa die zivile Gesellschaft – denn über diese erfahren wir so gut wie nichts –, sondern die Johnnies Einheit, die Mobile Infantry.[ref]Diese Idee ist keineswegs völlig neu. Phil Gochenour hat sie in seinem Aufsatz «Utopia of Pain: Adolescent Anxiety and Narrative Ideology in Robert A. Heinlein’s Starship Troopers» bereits entwickelt. Allerdings fasse ich das Konzept der Utopie enger als Gochenour.[/ref] Am Ende erwies sich die Analyse von Starship Troopers als klassische Utopie als so ergiebig, dass ich fast ausschliesslich über den Roman schrieb und kaum noch auf Verhoevens Film eingehen konnte. Und davon wird mein Vortrag «Utopian Soldiers. Robert Heinlein’s Starship Troopers as Utopian Novel» nächste Woche handeln.