Generisches

Genretheorie ist eines meiner wissenschaftlichen Steckenpferde; ein Grund dafür ist wohl, dass im Phänomen des Genres ganz unterschiedliche Aspekte, die mich interessieren, zusammenkommen: Es geht um wiederkehrende Motive und Plot-Elemente, also um Textanalyse und Dramaturgie. Es geht aber auch um Fragen der Rezeption, denn Genres haben nicht zuletzt eine wichtige Orientierungfsunktion. Für den Zuschauer dienen sie als eine Art narrative Abkürzungen: Es reicht, einen Mann mit Cowboyhut auf einem Pferd zu zeigen, und schon wissen wir, was wir von dem Film erwarten können. Und mit diesen Erwartungen kann der Film wiederum spielen. Da Genres nicht stabil sind, sondern sich laufend verändern, darf sich ihre Analyse allerdings nicht auf den Film beschränken, sondern muss auch andere – filmexterne – Faktoren wie z.B. die Werbung berücksichtigen. Idealerweise kombinieren Genrestudien deshalb die Filmanalyse mit historischer Recherche.

Soweit ich die Geschichte der Genretheorie überblicke, scheint sie von mehrfachen «Rückschlägen» geprägt. Denn dass sich Genres nicht auf einer abstrakt-systematischen Ebene beschreiben lassen, erkannten bereits die russischen Formalisten in den 1920er Jahren. So schrieb Boris Tomaševskijs in seiner 1931 erstmals erschienenen Theorie der Literatur 

dass es nicht möglich ist, irgendeine logische oder fest umrissene Genreklassifikation zu erstellen. Ihre Abgrenzung ist immer historisch, d. h. sie trifft nur auf einen bestimmten historischen Moment zu (Tomaševskij: 249).

Diese Erkenntnis scheint «unterwegs» aber verloren gegangen zu sein. Für die Strukturalisten, die ja in vielen Punkten das Programm der Formalisten weiterführen, war keineswegs evident, dass sich Genres systematischen Beschreibungsversuchen widersetzen. Vielmehr versuchten sie, Genres auf elementare Strukturen zu reduzieren (das prominenteste Beispiel ist natürlich Todorovs Phantastik-Theorie). Dies ist aber nur möglich, wenn man sich von der Genregeschichte verabschiedet und beispielsweise darüber hinwegsieht, dass ein Western der 1940er Jahre in vielerlei Hinsicht anders aussieht  als einer der 1970er. Ein Beispiel unter vielen möglichen zur Illustration: In den Spaghetti-Western der 1970er tragen die Revolverhelden auf einmal lange Mäntel. Eine markante Veränderung der Ikonographie, die sich kaum durch eine abstrakte Regel erklären lässt.

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In Sergio Leones Once Upon a Time in the West sind lange Mäntel im Trend.

Nachdem in den 1960er und 1970er Jahren die meisten Genre­konzeptionen ausschliesslich vom Text (gemeint sind Filme und literarische Texte) ausgingen, hat sich mittlerweile sowohl in der Film- als auch der Literaturwissenschaft die Erkenntnis durchgesetzt, dass dieses Vorgehen nicht reicht, um das Phänomen Genre zu erfassen. Deshalb versuchen moderne Ansätze, die formale Analyse vor dem Hintergrund des jeweiligen historischen Kontexts zu betreiben. Für mich war Rick Altmans Buch Film / Genre diesbezüglich ein Augenöffner. Ich kann es jedem, der sich für Genretheorie interessiert, wärmstens empfehlen.

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Rick Altmans Film/Genre

Die Theorie mag weit fortgeschritten sein, die Auswirkungen auf die Forschung lassen aber nach wie vor auf sich warten. Viele Studien zu Phantastik, SF und verwandten Bereichen zeigen sich auch heute noch vollkommen ignorant in Sachen Genretheorie. Die Dissertation von Karin Angela Rainer, von der hier bereits die Rede war, verfährt beispielsweise völlig unbeleckt von jeder genretheoretischen Überlegung und kommt zu entsprechend hanebüchenen Ergebnissen. Ein Extrembeispiel, aber in der Tendenz keineswegs allein. Wie ich aus eigener Erfahrung berichten kann, scheint es unter angehenden Forschern einen fast natürlichen Reflex zu geben, die Dinge erst einmal ordnen zu wollen. Meine Liz-Arbeit (so hiess die Master-Arbeit früher bei uns), welche die Grundlage meiner Diss bildetet, begann ich mit just diesem Anspruch: Endlich einmal aufräumen im grossen Genrewirrwarr und klare Kategorien etablieren. Glücklicherweise stiess ich rechtzeitig auf Altman und konnte ausgehend von seinen Überlegungen einen Ansatz entwickeln, der sich bis heute als tragfähig erweist.

Der natürliche Ordnungsdrang in Verbindung mit der naiven Vorstellung, dass Genres da draussen irgendwie an sich existieren, führt dazu, dass viele Arbeiten völlig ahistorisch verfahren und nur jene Filme und Romane untersuchen, die eben der jeweiligen Definition entsprechen. Das muss nicht per se falsch sein, führt aber oft zu völlig verzerrten Darstellungen historischer Entwicklungen. Und letztlich lässt sich ein Grossteil der Diskussionen, was SF, Phantastik etc. denn nun wirklich sind, auf genretheoretische Fragen zurückführen. Denn entscheidend ist meist gar nicht, wie man Phantastik, SF etc. definiert, sondern von welcher Art das Ding ist, das man da definieren will.

Ich hatte schon länger die Absicht, einen Artikel zu schreiben, in dem ich die – deutsche – Phantastik-Diskussion aus genretheoretischer Sicht aufrolle (John Rieder hat in einem lesenswerten Artikel bereits etwas Ähnliches für die SF getan). Rainers Studie gab dann den Ausschlag, dass ich mich endlich hingesetzt und das Vorhaben ausgeführt habe. Gestern habe ich den Artikel mit dem Titel «Wovon wir sprechen, wenn wir von Phantastik sprechen» abgeschlossen und meinen Kollegen von der ZFF zugeschickt, nun geht er ins Peer Review (ja, auch Herausgeber müssen diesen Prozess durchlaufen). Sollte der Artikel auf Zustimmung stossen, wird er in der nächsten ZFF erscheinen.

Bibliografie

Altman, Rick: Film/Genre. London 2000.
Rieder, John: «On Defining SF, or Not: Genre Theory, SF, and History». In: Science Fiction Studies 37.2/111, 2010, 191-209.
Tomaševskij, Boris: Theorie der Literatur. Poetik. Hg. von Klaus-Dieter Seemann. Wiesbaden 1985 (Original: Teorija literatury, poetika. Moskau and Leningrad 1931).

Authentische Wunschträume

In der Zeitschrift Komparatistik Online ist dieser Tage ein Teil der Proceedings der letzten Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung erschienen — unter anderem darin enthalten ist ein Artikel von mir zur Utopie im nicht-fiktionalen Film.

Das Timing ist nicht ganz optimal, da ich mich in dem Artikel u.a. auf einen Text beziehe, den ich für die Proceedings der 2012er Jahrestagung geschrieben habe, welche voraussichtlich erst im Herbst erscheinen werden.[ref]Hier die vorläufigen bibliografischen Angaben: «Auf der Suche nach dem utopischen Film». In: Christiane Lötscher, Petra Schrackmann, Ingrid Tomkowiak, Aleta-Amirée von Holzen (Hg.): Übergänge und Entgrenzungen in der Fantastik, Berlin: Lit 2014 [im Druck].[/ref] Ich denke aber, dass der Artikel auch so verständlich sein sollte. Kurz zum Inhalt: Grundthese meines Forschungsprojekts ist, dass es im nicht-fiktionalen Film (vulgo: Dokumentarfilm) zahlreiche Beispiele für utopische Entwürfe gibt, die dem von Thomas Morus in Utopia etablierten Modell weitgehend entsprechen. Ein Beispiel hierfür, das ich im besagten noch nicht veröffentlichten Artikel analysiere, ist Zeitgeist: Addendum von Peter Joseph, ein Low-Budget-Film (auf YouTube frei erhältlich), der neben viel verschwörungstheoretischem Geraune mit dem Venus Project auch einen Gegenentwurf präsentiert.[ref]Ursprünglich aufmerksam auf das Venus Project resp. Josephs Filme wurde ich durch einen Thread auf sf-netzwerk.de. Die Diskussion, in die sich zwischendurch auch ein Vertreter des Venus Project einschaltet, driftet zwar immer wieder ab, zeigt aber sehr schön die Probleme dieses Projekts.[/ref] Das Venus Project wiederum ist zwar durchaus ernst gemeint, präsentiert sich aber als einzige Ansammlung utopischer Topoi. Sei es Geldlosigkeit, zentrale Verteilung der Güter, Erziehung zum besseren Menschen, Abschaffung des politischen Prozesses – das Venus Project bietet die volle Packung.[ref]Aus Josephs Zeitgeist-Filmen ist das Zeitgeist Movement hervorgegangen, das sich ursprünglich als aktivistischer Arm des Venus Project verstanden hat. Wie es derartigen bei sektenähnlichen Vereinigungen aber oft vorkommt, haben sich die beiden Bewegungen mittlerweile überworfen und gehen seither getrennte Wege.[/ref]

Während ich in dem nun später erscheinenden ersten Artikel ganz grundlegend dafür plädiere, den Dokumentarfilme für die Utopieforschung zu erschliessen, konzentriere ich mich in dem in Komparatistik Online erschienenen Aufsatz auf die Frage, wie sich ein Film wie Zeitgeist: Addendum aus Sicht der Dokumentarfilm-Theorie präsentiert. Denn auf den ersten Blick erscheint ein solcher utopischer Film als Paradoxon: Ausgerechnet im Dokumentarfilm, der die Wirklichkeit abbildet, soll es utopische Entwürfe geben, zu deren wesentlichen Eigenschaften es gehört, dass sie (noch) nicht existieren. Bei genauerer Betrachtung ist die Sache freilich gar nicht so widersprüchlich. Dass Dokumentarfilme die Wirklichkeit keineswegs einfach abbilden, dass das Verhältnis zwischen Realität und Film einiges komplexer ist, dürfte jedem klar sein, der sich ein bisschen in diesem Bereich auskennt. Das macht die Sache aber nicht einfacher, und die Filmtheorie müht sich schon seit geraumer Zeit mit der Frage ab, wie das Verhältnis zwischen Dokumentarfilm und Wirklichkeit am besten zu fassen ist. Persönlich scheint mir der semiopragmatische Ansatz von Roger Odin hier am sinnvollsten. Sehr vereinfacht gesagt geht dieser davon aus, dass ein Film vom Rezipienten immer auf verschiedene Arten gelesen werden kann, und dass die unterschiedlichen Lektüre-Modi sowohl durch formale Merkmale im Film – z.B. Kameraführung, Einsatz von Off-Kommentar, Montage – wie auch durch den Kontext, in dem der Film rezipiert wird, nahegelegt werden. Wenn ein Film z.B. als Dokumentarfilm beworben wird, liegt es nahe, dass ich als Zuschauer den dokumentarisierenden Modus wähle. Es stet mir aber immer frei, entgegen der Vorgaben, die ein Film resp. der Kontext macht, einen anderen Lektüremodus zu wählen.

Entwurf von Jacque Fresco.

vlcsnap-2014-05-19-22h31m29s68vlcsnap-2014-05-19-22h31m23s11Die Zukunft, wie man sie sich beim Venus Project vorstellt.

Der dokumentarisierende Modus unterscheidet sich vom  fiktionalisierenden unter anderem dadurch, dass ich als Zuschauer immer davon ausgehe, dass der Filmemacher Aussagen zur Wirklichkeit macht. Das heisst nun nicht, dass die Bilder und Töne im Film tatsächlich reale Ereignisse wiedergeben müssen, aber dass ich seinen Inhalt in Bezug zur Realität setze, dass der Film als Ganzer dem Wahrheitsgebot unterliegt. Zugespitzt formuliert: Ein Dokumentarfilm kann lügen, ein Spielfilm nicht. Der Filmtheoriker Carl Plantinga, der diesbezüglich ähnlich argumentiert wie Odin, spricht von einer assertorischen Haltung.

Was geschieht nun, wenn ein Dokumentarfilm Dinge zeigt, die es offensichtlich nicht gibt, wenn zum Beispiel in Zeitgeist: Addendum die computeranimierten Entwürfe von Venus-Project-Guru Jacque Fresco zu sehen sind?[ref]Fresco, Jahrgang 1916, also genau 400 Jahre jünger als Morus’ Utopia, ist gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin Roxanne Meadows die treibende Kraft hinter dem Venus Project. Benannt ist dieses nach seinem Namen in Venus, Kalifornine.[/ref] Verliert der Film dann seinen dokumentarischen Status? Ich bin der Ansicht, dass das nicht der Fall ist, denn an der grundsätzlichen Haltung des Films ändert sich nichts. Folgendes Zitat aus dem Artikel bringt den Sachverhalt – hoffentlich – auf den Punkt:

Die in Josephs Film gezeigten futuristischen Bauten und Gefährte sind zweifellos (noch) nicht real, im Kontext des Films verändern sie aber ihren Status und erscheinen nicht als völlig fiktive Elemente. Vielmehr ist die Argumentation des Films gerade darauf ausgerichtet, das Gezeigte als plausibel und wünschenswert erscheinen zu lassen. Mittels dieser Strategie verliert das Fiktive seine ursprüngliche Nicht-Wirklichkeit und erhält einen quasi-assertorischen Status. Diesen Vorgang, das Quasi-real-Erscheinen-lassen fiktiver Elemente, bezeichne ich als Faktualisierung (195 f.)

Faktualisierung führt also dazu, dass fiktive Elemente in einem Dokumentarfilm ihren nicht-realen Status zumindest teilweise verlieren. Das heisst nun keineswegs, dass Frescos Entwürfe damit automatisch plausibel werden. Aber auch ein Skeptiker, der das Venus Project für Unsinn hält, wird wohl zugestehen, dass dessen futuristische Städte einen anderen Status haben als die Metropolen eines Science-Fiction-Films. Ein Film wie Blade Runner erhebt keinen Anspruch darauf, eine ernsthafte Prognose zur Stadtentwicklung in den USA abzugeben. Fresco versteht seine Entwürfe dagegen ausdrücklich als ernsthafte Vorschläge, über welche man diskutieren und die man schliesslich auch umsetzen soll.

Mit dem Begriff der Faktualisierung, der übrigens von meiner Projektpartnerin Andrea Reiter stammt, scheint mir ein für mein Projekt ganz wesentliches Element benannt. Momentan haben wir dieses Konzept noch nicht detailliert ausgearbeitet, sondern nur grob skizziert. Auch mein Artikel ist nur als erster Entwurf zu verstehen, der das Phänomen des utopischen Dokumentarfilms aus filmtheoretischer Sicht umreisst. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich der Ansatz als fruchtbar erweisen wird. Der Vorgang der Faktualisierung scheint mir dabei für viele Spielarten des Dokumentarfilms relevant, im Falle der von mir untersuchten utopischen Filme bildet er aber das zentrale Scharnier zwischen Fiktion und Faktualität.