Tandem mit Annette Schindler

Heute Abend be­ginnt die 14. Aus­ga­be des Ani­ma­ti­ons­film­fes­ti­vals Fan­to­che in Baden. Fan­to­che ist einer mei­ner liebs­ten Ter­mi­ne im Fes­ti­val­ka­len­der; umso mehr hat es mich ge­freut, dass An­net­te Schind­ler, die künst­le­ri­sche Lei­te­rin von Fan­to­che, mich als Ge­sprächs­part­ner für die Ra­dio­sen­dung Tan­dem auf Radio SRF 2 Kul­tur ein­la­den liess. Unter der Mo­dera­ti­on mei­ner ge­schätz­ten Kol­le­gin Bri­git­te Hä­ring reden wir gut eine Stun­de lang über alles Mög­li­che – vor allem na­tür­lich über Film.

 

Zur Web­site der Sen­dung.

Annette Schindler und Simon Spiegel

An­net­te Schind­ler und meine We­nig­keit.

 

Utopisches frisch von der Presse

Die­ser Tage sind gleich zwei Heft­lein, die mit un­se­rer an­ste­hen­den Ta­gung Uto­pia and Rea­li­ty (Aus­führ­li­che­res dazu hier) in Zu­sam­men­hang ste­hen, auf mei­nen Tisch ge­flat­tert. Zum einen das schmu­cke Pro­gramm­heft mit allen Ab­stracts (das PDF dazu gibt es hier). Die Ta­gung ist öf­fent­lich, In­ter­es­sier­te mel­den sich unter con­fe­rence@​utopia2016.​ch an.

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Eben­falls er­schie­nen ist das Sep­tem­ber-Pro­gramm des Kino Xenix, mit dem wir für un­se­re Ta­gung gleich zwei­fach ko­ope­rie­ren. Zum einen zeigt das Xenix im Rah­men sei­ner Dok-um-fünf-Rei­he be­glei­tend zu un­se­rer Kon­fe­renz fünf Do­ku­men­tar­fil­me, die sich in un­ter­schied­li­cher Weise mit Uto­pi­en aus­ein­an­der­set­zen. Jenny Bil­le­ter hat eine äus­serst at­trak­ti­ve Aus­wahl zu­sam­men­ge­stellt, die ich allen Dok­film- und Uto­pi­ein­ter­es­sier­ten ans Herz legen möch­te.

Für den Ta­gungs­auf­takt steht am 7. Sep­tem­ber dann ein be­son­de­res High­light an: Der Fil­me­ma­cher und Film­pu­bli­zist Tho­mas Tod, der Tags dar­auf bei uns einen Vor­trag hal­ten wird, hat fünf uto­pi­sche Kurz­fil­me aus­ge­wählt, die er je­weils kurz ein­lei­ten wird. Das Spek­trum reicht von so­zia­lis­ti­scher Stumm­film­pro­pa­gan­da (100’000 unter roten Fah­nen. Phil Jutzi, DE 1929) über die Vi­si­on eines fu­tu­ris­ti­schen ge­ein­ten Eu­ro­pas (Vingt ans après / Eu­ro­pa 1978. Paul Claudon, FR 1958. Siehe zu die­sem Film auch einen frü­he­ren Ein­trag) bis zu Agnès Var­das fil­mi­schem Por­trait ihres grie­chi­schen Hip­pie-On­kels (Uncle Yanco. Agnès Varda, FR 1967). Auch diese Ver­an­stal­tung ist öf­fent­lich.

Nicht alles läuft rund in der Zukunft von Vingt ans

Nicht alles läuft rund in der Zu­kunft von Vingt ans après

 

 

Neuerscheinung: «Einführung in die Filmgeschichte» Band 2

Die­ser Tage ist der zwei­te Band der Ein­füh­rung in die Film­ge­schich­te er­schie­nen, an der zahl­rei­che Mit­ar­bei­ter des Se­mi­nars für Film­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Zü­rich mit­ge­ar­bei­tet haben. Als Her­aus­ge­ber fun­giert wie­der Tho­mas Chris­ten, von dem auch die meis­ten Ar­ti­kel stam­men.

Das Buch trägt den Titel Vom Neo­rea­lis­mus bis zu den Neuen Wel­len: fil­mi­sche Er­neue­rungs­be­we­gun­gen 1945-1968, womit auch schon klar wäre, wel­cher Zeit­raum auf den über 500 Sei­ten ab­ge­deckt wird. Wie schon beim zu­erst er­schie­ne­nen drit­ten Band – wir gehen rück­wärts durch die Film­ge­schich­te – ist das Buch nicht streng chro­no­lo­gisch, son­dern the­ma­tisch auf­ge­baut, wobei der je­wei­li­ge Fokus der ein­zel­nen Ka­pi­tel teil­wei­se auf ganz un­ter­schied­li­chen Ebe­nen liegt. So gibt es die durch­aus er­wart­ba­ren Ka­pi­tel zum ita­lie­ni­schen Neo­rea­lis­mus oder zur fran­zö­si­schen Nou­vel­le Vague, aber auch auf den Mo­ment viel­leicht we­ni­ger of­fen­sicht­li­che The­men wie «Art Ci­ne­ma und Au­to­ren­film» oder «Ita­lo­wes­tern».

Mein ei­ge­ner Bei­trag steht eben­falls etwas quer zu einer klas­si­schen Film­ge­schich­te, denn ich widme mich in einem Ka­pi­tel der Ja­mes-Bond-Se­rie und decke damit einen Zeit­raum von über 50 Jah­ren ab. Die Ar­beit an die­sem Text war ziem­lich auf­wen­dig, denn zu James Bond gibt es schlicht Un­men­gen von Li­te­ra­tur, sie war mir aber ein Her­zens­an­lie­gen. Als klei­ner Junge war James Bond für mich der In­be­griff eines se­hens­wer­ten Films, und ob­wohl ich mit den neue­ren Auf­trit­ten von 007 meine liebe Mühe habe (siehe dazu mei­nen Ar­ti­kel im Frame sowie meine Spoi­ler-Ko­lum­ne zu Spect­re), ist meine Liebe zu den klas­si­schen Bonds un­ge­bro­chen.

Das Buch

Frisch von der Pres­se: Mein Be­le­g­ex­em­plar.

Tho­mas Chris­ten (Hg.): Ein­füh­rung in die Film­ge­schich­te. Bd. 2: Vom Neo­rea­lis­mus bis zu den Neuen Wel­len: fil­mi­sche Er­neue­rungs­be­we­gun­gen 1945-1968. Schü­ren: Mar­burg 2o16.
520 Sei­ten, Klapp­bro­schur, ISBN 978-3-89472-497-9, 38.– €.

Er­hält­lich bei Ama­zon.

In­halts­ver­zeich­nis und Ein­lei­tung.

Tagung «Utopia and Reality»

Im Rah­men un­se­res For­schungs­pro­jekts Al­ter­na­ti­ve Welt­ent­wür­fe or­ga­ni­sie­ren An­drea Rei­ter und ich die­sen Sep­tem­ber die Ta­gung Uto­pia and Rea­li­ty. Die Ver­an­stal­tung, die vom 7.–9. Sep­tem­ber an der Uni­ver­si­tät Zü­rich statt­fin­det, ver­bin­det mit der Uto­pie und dem Do­ku­men­tar­film zwei The­men, die vor­der­hand weit aus­ein­an­der­lie­gen. Wie wir aber an der Ver­an­stal­tung – und na­tür­lich auch in un­se­rer ei­ge­nen For­schung – zei­gen wer­den, gibt es hier zahl­rei­che An­knüp­fungs­punk­te (ich selbst ver­tre­te ja die An­sicht, dass klas­si­sche – po­si­ti­ve – Uto­pi­en grund­sätz­lich nur im nicht­fik­tio­na­len Film mög­lich sind).

Die (eng­lisch­spra­chi­ge) Ta­gung ist klein ge­hal­ten, wes­halb wir auch von einem Work­shop spre­chen. Nichts­des­to­trotz haben wir ein sehr hoch­ka­rä­ti­ges Pro­gramm zu­sam­men­ge­stellt; be­son­ders stolz sind wir auf un­se­re drei Keyno­te-Spea­ker, die die Crème de la Crème der Uto­pie- resp. Do­ku­men­tar­film­for­schung dar­stel­len. Mit Lyman Tower Sar­gent haben wir den grand old man der Uto­pi­an Stu­dies als Vor­tra­gen­den ge­win­nen kön­nen, und Dina Ior­da­no­va und Jane Gai­nes sind ih­rer­seits Ko­ry­phä­en auf dem Ge­biet des Do­ku­men­tar­films. Aber auch die üb­ri­gen Vor­trä­ge ver­spre­chen, in­ter­es­sant zu wer­den. The­ma­tisch schla­gen wir einen wei­ten Bogen; es wer­den nicht nur klas­si­sche Be­rei­che der Uto­pie- und Do­ku­men­tar­film­for­schung an­ge­schnit­ten, son­dern z.B. auch Fra­gen der Stadt­pla­nung und des Vi­deo­ak­ti­vis­mus.

Im Fol­gen­den das Ta­gungs­pro­gramm. Das Book­let mit den Ab­stracts der ein­zel­nen Vor­trä­ge kann hier her­un­ter­ge­la­den wer­den. Ob­wohl es sich um eine klei­ne Ver­an­stal­tung han­delt, steht sie Aus­sen­ste­hen­den offen. In­ter­es­sier­te mel­den sich bitte unter con­fe­rence@​utopia2016.​ch an.Das Titelblatt

 

Pro­gramm

Thurs­day, Sep­tem­ber 8

9.30 Opening and In­tro­duc­tion
MA An­drea Rei­ter and Dr. Simon Spie­gel, Uni­ver­si­ty of Zu­rich

10.15 Keyno­te 1: Uto­pia and Ever­y­day Life. Prof. Lyman Tower Sar­gent, Uni­ver­si­ty of Mis­sou­ri-St. Louis

11.00 Cof­fee break

11.30 An­ar­chist De­mo­cra­cy bet­ween Fact and Fic­tion. Dr. Peter Sey­ferth, Ba­va­ri­an School for Pu­blic Po­li­cy

12.15 Lunch

13.30 City Sym­pho­nies and Ma­ni­fes­tos as Uto­pi­an Do­cu­men­ta­ries. Prof. Al­fre­do Bril­lem­bourg and Da­ni­el Schwartz, Ur­ban-Think Tank, ETH Zü­rich

14.15 Eu­ro­pe as Gua­ran­tor for Free­dom and Land of Ple­nty Tho­mas Tode, In­de­pen­dent Scho­lar

15.00 Cof­fee break

15.30 Keyno­te 2: The Do­cu­men­ta­ry Film as Uto­pi­an Forum. Prof. Dina Ior­da­no­va, Uni­ver­si­ty of St An­d­rews

18.30 Pre­sen­ta­ti­on of early edi­ti­ons of Tho­mas More’s Uto­pia at the Zen­tral­bi­blio­thek

Fri­day, Sep­tem­ber 9

9.30 Keyno­te 3: Do­cu­men­ta­ry Dreams of Ac­tivism. Prof. Jane M. Gai­nes, Co­lum­bia Uni­ver­si­ty

10.15 Cof­fee break

10.45 Stri­ving towards Uto­pia. Dr. Lars Weck­be­cker, Zayed Uni­ver­si­ty

11.30 Uto­pia and the Fu­ture. Dr. Alan Mar­shall, Mahi­dol Uni­ver­si­ty

12.15 Lunch

13.30 Video Ac­tivism 2.0 and Its Net­wor­ked Uto­pi­as. Prof. Dr. Brit­ta Hart­mann, Bonn Uni­ver­si­ty; Prof. Dr. Jens Eder, Uni­ver­si­ty of Mann­heim; Dr. Chris Ted­ja­suk­ma­na, Free Uni­ver­si­ty of Ber­lin

14.30 Uto­pi­an Con­cepts in Ver­tov’s Man With a Movie Ca­me­ra. Dr. Su­san­na Layh, Uni­ver­si­ty of Augs­burg

15.30 Work­shop close

Foolproof and Incapable of Error

Die Sli­des mei­nes Vor­trags “Fool­proof and In­ca­pa­ble of Error” Why Do Fil­mic Ro­bots and AIs Al­ways Go Bad?, den ich ges­tern an der in­ter­dis­zi­pli­nä­ren Ta­gung Wo/Man, Mind, Ma­chi­ne in Ber­lin hielt, sind nun on­line ver­füg­bar.

Lei­der hat es mit der Auf­nah­me mei­nes Kom­men­tars nicht ge­klappt, wo­durch der Film mei­nen Vor­trag nur un­voll­stän­dig wie­der­gibt. Ir­gend­wann muss ich die Auf­nah­me­funk­ti­on von Keyno­te bes­ser in den Griff krie­gen.

Vortrag

Simon in Ac­tion (Bild von lap­si­mont)

Up­date: Siehe auch den Blog­ein­trag von lap­si­mont.

Wo/Man Mind Machine (13./14. Juni)

 

HAL

An­fang nächs­ter Woche fin­det in Ber­lin die in­ter­dis­zi­pli­nä­re (eng­lisch­spra­chi­ge) Ta­gung Wo/Man Mind Ma­chi­ne statt, die sich um die In­ter­ak­ti­on zwi­schen Mensch und Ma­schi­ne dreht. Ich trete am Mon­tag­nach­mit­tag mit einem Vor­trag mit dem Titel «Fool­proof and In­ca­pa­ble of Error.› – Why Do Fil­mic Ro­bots and AIs Al­ways Go Bad?» an.

Aus der Ta­gungs­aus­schrei­bung:

What are the va­rious in­ter­faces bet­ween mind, wo/man, and ma­chi­ne and how can these in­ter­faces be fur­ther ex­plo­red wi­t­hin and across dif­fe­rent di­sci­pli­nes? In this con­fe­rence, we will in­ves­ti­ga­te the com­plex in­ter­ac­tion bet­ween hu­mans and ma­chi­nes as well as va­rious ways of re­ver­se-en­gi­nee­ring the brain. We will dis­cuss cur­rent ap­proa­ches, theo­ries, and me­tho­do­lo­gies in this field, and also iden­ti­fy sha­red re­se­arch in­te­rests, which might lead to fu­ture col­la­bo­ra­ti­ons bet­ween the hu­ma­nities and the sci­en­ces, bet­ween mem­bers of both aca­de­mies, and bey­ond.

Das voll­stän­di­ge Ta­gungs­pro­gramm gibt es hier.

Ver­an­stal­tungs­ort: Ber­lin-Bran­den­bur­gi­sche Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten (BBAW), Ein­stein-Saal, Jä­ger­str. 22/23, 10117 Ber­lin.

Kon­takt & An­mel­dung: man­mind­ma­chi­ne@​die​jung​eaka​demi​e.​de

 

 

Die Zukunft mit der Maus – Walt Disneys EPCOT

Der Name «Walt Dis­ney» ist für die meis­ten gleich­be­deu­tend mit Ani­ma­ti­ons­film. Weit­ge­hend ver­ges­sen ist da­ge­gen seine Rolle als fu­tu­ris­ti­scher Vi­sio­när. Der fol­gen­de Ar­ti­kel, der in der Aus­ga­be 5/2016 der Zeit­schrift Vin­ta­ge Times er­schie­nen ist, er­gänzt meine frü­he­ren Über­le­gun­gen zum Dis­ney-Film To­mor­row­land.

Sei­nen letz­ten Film dreh­te Walt Dis­ney im Ok­to­ber 1966, knapp zwei Mo­na­te vor sei­nem Tod. Haupt­dar­stel­ler: er selbst. Thema: die Stadt der Zu­kunft. Für alle, die mit dem Namen Walt Dis­ney pri­mär fa­mi­li­en­taug­li­che Un­ter­hal­tung as­so­zi­ie­ren, dürf­te der knapp 25-mi­nü­ti­ge Pro­mo­ti­ons­film eine echte Über­ra­schung dar­stel­len. Denn was der Herr der Mäuse hier prä­sen­tiert, hat weder mit put­zi­gen Na­gern oder Prin­zes­sin­nen noch mit The­men­parks zu tun. Zwar spricht Dis­ney über sein neu­es­tes und bis­lang gröss­tes Pro­jekt Dis­ney World, für ein­mal geht es aber nicht um Zau­ber­schlös­ser, Ach­ter­bah­nen und Mer­chan­di­sing. Herz der ge­plan­ten An­la­ge soll viel­mehr eine tech­ni­sche Mus­ter­stadt der Zu­kunft sein. Eine «Ex­pe­ri­men­tal Pro­to­ty­pe City of To­mor­row», kurz EPCOT.

Mit EPCOT woll­te Dis­ney einen Bei­trag zu dem in sei­nen Augen drän­gends­ten Pro­blem der Ge­gen­wart leis­ten, der Stadt­pla­nung. In den 1960er Jah­ren lit­ten Gross­städ­te wie New York oder Los An­ge­les unter Ver­kehr, Kri­mi­na­li­tät und so­zia­len Un­ru­hen, und Dis­ney war über­zeugt, dass er dazu be­ru­fen war, hier se­gens­reich zu wir­ken. Schliess­lich hatte er mit Dis­ney Land schon ein­mal vor­ge­macht, wie man er­folg­reich eine Ide­al­stadt be­treibt.

EPCOT-Modell

Das Herz von EPCOT im Mo­dell.

Ein mit­tel­mäs­si­ger Zeich­ner

So ver­mes­sen Dis­neys An­spruch er­schei­nen mag, im Grun­de war EPCOT der lo­gi­sche Schluss­punkt vie­ler Pro­jek­te und In­itia­ti­ven, die der um­trie­bi­ge Stu­dio­boss im Laufe sei­nes Le­bens lan­ciert hatte. Schon früh war Dis­ney nicht nur ein Ani­ma­tor. Tat­säch­lich war der 1901 ge­bo­ren Trick­film­pio­nier ein eher mit­tel­mäs­si­ger Zeich­ner, was in spä­ten Jah­ren zu pein­li­chen Mo­men­ten führ­te, wenn er etwa auf Wunsch eines klei­nen Fans seine be­rühm­te Maus zu Pa­pier brin­gen soll­te und nur eine kra­ke­li­ge Ka­ri­ka­tur zu­stan­de brach­te. Dis­ney war aber ein be­gna­de­ter Or­ga­ni­sa­tor, der es nicht nur ver­stand, Ta­len­te zu ent­de­cken und an sich zu bin­den, son­dern der auch be­reit war, gros­se un­ter­neh­me­ri­sche Ri­si­ken ein­zu­ge­hen. Tech­ni­sche Neue­run­gen spiel­ten dabei eine we­sent­li­che Rolle. Dis­ney sah nicht nur sehr früh, wel­che Mög­lich­kei­ten der Ton dem Ani­ma­ti­ons­film er­öff­ne­te. Als die Firma Tech­ni­co­lor 1932 ihr neues Drei­far­ben-Ver­fah­ren prä­sen­tier­te, war er davon der­art be­geis­tert, dass er den in der Pro­duk­ti­on be­reits weit fort­ge­schrit­te­nen Kurz­film «Flowersand Trees» kom­plett neu als Farb­film kon­zi­pie­ren liess und einen über drei Jahre lau­fen­den Ex­klu­siv­ver­trag mit Tech­ni­co­lor ab­schloss.

Seine In­ter­es­sen be­schränk­ten sich bald nicht nur auf die Film­bran­che. Das 1955 im ka­li­for­ni­schen Ana­heim er­öff­ne­te Dis­ney­land gab eine erste Kost­pro­be davon, was Dis­ney jen­seits der Lein­wand alles vor­hat­te. Moch­ten bei der Er­öff­nung auch gut die Hälf­te der At­trak­tio­nen noch nicht funk­tio­nie­ren, so fun­gier­ten der The­men­park und das Dis­ney-Fern­seh­pro­gramm glei­chen Na­mens für Walt den­noch als eine Art Trai­nings­camp für die Zu­kunft. In den Fern­seh­sen­dun­gen, in denen der ei­gent­lich ka­me­ra­scheue Pa­tron als Host auf­trat, er­klär­te er mit­tels Zei­chen­trickein­schü­ben und mit fach­kun­di­ger Un­ter­stüt­zung von Ex­per­ten wie dem deut­schen Ra­ke­ten­pio­nier Wern­her von Braun die Mög­lich­kei­ten und Ri­si­ken der Raum­fahrt oder warb – in einer Epi­so­de mit dem ne­cki­schen Titel «Our Fri­end the Atom» – für die Nut­zung der Atom­ener­gie. Und das ei­gent­li­che Prunk­stück von Dis­ney­land war die Sek­ti­on To­mor­row­land, wel­che die Welt im Jahre 1968 zeig­te und in der man im TWA Moon­liner einen Mond­flug mit­er­le­ben und im Au­to­pia-Ri­de einen Vor­ge­schmack auf das im Ent­ste­hen be­grif­fe­ne Fern­stras­sen­netz er­ha­schen konn­te.

EPCOT-Stadtplan

Walt Dis­ney vor einem Stadt­plan von EPCOT.

«A Great Big Be­au­ti­ful To­mor­row»

Dis­ney sah in die­sen At­trak­tio­nen mehr als reine Amü­se­ments. Für ihn stand aus­ser Frage, dass Wis­sen­schaft und Tech­nik der Mensch­heit eine glän­zen­de Zu­kunft be­sche­ren wür­den. Wenig über­ra­schend war er auch ein be­geis­ter­ter Be­für­wor­ter von Welt­aus­stel­lun­gen, die tra­di­tio­nell als tech­ni­sche Leis­tungs­schau kon­zi­piert waren. Zur World’s Fair von 1964 in New York steu­er­ten seine «Ima­gi­neers» nicht we­ni­ger als vier At­trak­tio­nen bei, von denen drei spä­ter ihre per­ma­nen­te Blei­be in einem der Dis­ney-The­men­parks fin­den soll­ten. Dis­neys per­sön­li­cher Fa­vo­rit, von dem er nach ei­ge­ner Aus­sa­ge wünsch­te, dass er nie sei­nen Be­trieb ein­stel­len soll­te, war das Ca­rou­sel of Pro­gress, in dem Ro­bo­ter-Pup­pen als ame­ri­ka­ni­sche Durch­schnitts­fa­mi­lie agier­ten und über meh­re­re Sta­tio­nen hin­weg den tech­ni­schen Fort­schritt ze­le­brier­ten. Schwärmt der Fa­mi­li­en­va­ter zu Be­ginn des Jahr­hun­derts noch von Gas­lam­pen und einer hand­be­trie­be­nen Wä­sche­man­gel, kom­men spä­ter ein Radio, elek­tri­sches Licht und schliess­lich ein au­to­ma­ti­scher Ge­schirr­spü­ler sowie ein Fern­seh­ge­rät hinzu. Un­ter­legt ist diese Er­folgs­ge­schich­te von einem nerv­tö­tend fröh­li­chen Song der Os­car-ge­krön­ten Sher­man Bro­thers mit dem viel sa­gen­den Titel «There’s a Great Big Be­au­ti­ful To­mor­row».

Das Ca­rou­sel of Pro­gress, das heute in Walt Dis­ney World noch immer in Be­trieb ist, wurde meh­re­ren Re­vi­sio­nen un­ter­zo­gen. In der letz­ten, 1993 kon­zi­pier­ten Epi­so­de sieht man nun eine Fa­mi­lie im Jahr 2000 bei ihrer Weih­nachts­fei­er. Wäh­rend der Haus­herr mit dem auf Sprach­kom­man­dos re­agie­ren­den Ofen kämpft, ver­sucht sich die Gross­mut­ter am neu­es­ten Vir­tu­al-Rea­li­ty-Ga­me. Ob­wohl man mit sol­chen Ak­tua­li­sie­run­gen auf der Höhe der Zeit blei­ben will, wirkt die ganze An­la­ge auf eine un­an­ge­neh­me Weise alt­mo­disch. Das liegt nicht an den Ro­bo­tern, die eher einen re­tro­fu­tu­ris­ti­schen Charme ver­sprü­hen, son­dern an der stock­kon­ser­va­ti­ven Ge­sin­nung, wel­che die ge­sam­te In­sze­nie­rung durch­dringt. Dass die Oma ihren Nef­fen im Com­pu­ter­ga­me schlägt, kann nicht dar­über hin­weg­täu­schen, dass die Welt von Dis­ney auch im 21. Jahr­hun­dert noch die der weis­sen Mit­tel­klas­se ist, einer «All Ame­ri­can Fa­mi­ly», die es so wohl auch zu Walts Zei­ten nicht gab und die mit der ge­sell­schaft­li­chen Rea­li­tät der Ge­gen­wart de­fi­ni­tiv nichts mehr zu tun hat.

Carousel of Progress

Der Hund darf in der “All Ame­ri­can Fa­mi­ly” des Ca­rou­sel of Pro­gress nicht feh­len.

Die Plan­stadt als Labor der Zu­kunft

Fort­schritt be­deu­te­te für Walt Dis­ney nie ge­sell­schaft­li­che Pro­gres­si­vi­tät; viel­mehr ver­schmel­zen bei ihm tech­ni­sche In­no­va­ti­on und so­zia­le Rück­wärts­ge­wandt­heit auf ei­gen­tüm­li­che Weise. Dies zeigt sich auch in sei­ner Kon­zep­ti­on von EPCOT, das mehr wer­den soll­te als ein blos­ser The­men­park. EPCOT war nicht als Jahr­markt­sat­trak­ti­on ge­dacht, son­dern als echte Stadt, in der 20’000 Men­schen woh­nen und ar­bei­ten und auf diese Weise die Zu­kunft quasi vor­le­ben soll­ten. Mit Un­ter­stüt­zung der ge­sam­ten ame­ri­ka­ni­schen In­dus­trie woll­te Dis­ney ein le­ben­di­ges Stadt­la­bo­ra­to­ri­um mit Wohn-, Ar­beits- und Kon­sum­be­zir­ken, un­ter­ir­di­schen High­ways und einem aus­ge­klü­gel­ten öf­fent­li­chen Ver­kehrs­sys­tem aus dem Boden stamp­fen.

Frap­pant an dem Pro­jekt ist nicht nur der un­be­ding­te Glau­be an tech­ni­sche Lö­sun­gen, son­dern auch die völ­li­ge Ab­senz von Po­li­tik. Stadt­pla­nung ist in EPCOT aus­schliess­lich eine Auf­ga­be für In­ge­nieu­re; so­zia­le Pro­ble­me wer­den, so­weit sie über­haupt re­gis­triert wer­den, auf tech­ni­sche Pro­ble­me re­du­ziert. Klas­sen­un­ter­schie­de, ge­sell­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen oder Fra­gen der po­li­ti­schen Or­ga­ni­sa­ti­on sind für diese Stadt der Zu­kunft nicht wei­ter re­le­vant.

EPCOT war von Walt Dis­ney als sein Ver­mächt­nis ge­dacht, als Ge­schenk an die Mensch­heit, dem er sich am Ende sei­nes Le­bens voll und ganz wid­me­te. Selbst als er sich einen Monat vor sei­nem Tod einer schwe­ren Lun­gen­ope­ra­ti­on un­ter­zog, wer­kel­te er noch im Spi­tal­bett an sei­ner Vi­si­on. Ohne die Be­geis­te­rung ihres geis­ti­gen Va­ters wur­den die Am­bi­tio­nen für die Zu­kunfts­stadt dann aber schnell zu­rück­ge­fah­ren. Als Walts Bru­der Roy Walt Dis­ney World 1971 er­öff­ne­te, war von EPCOT nichts zu sehen. 1982 wurde schliess­lich doch noch ein Ver­gnü­gungs­park na­mens EPCOT auf dem Ge­län­de von Walt Dis­ney World in Be­trieb ge­nom­men. Im EPCOT von heute geht es auch ir­gend­wie um Wis­sen­schaft und Tech­nik, von der ur­sprüng­li­chen Idee einer funk­tio­nie­ren­den Zu­kunfts­stadt ist aber nichts übrig ge­blie­ben.

Utopia (Neuübersetzung von Michael Siefener)

Er­schie­nen im Quar­ber Mer­kur 116.

Dass ein Buch auch 500 Jahre nach sei­ner Erst­ver­öf­fent­li­chung noch ge­le­sen wird, kommt sel­ten genug vor. Der spä­te­re Lord­kanz­ler und Mär­ty­rer Tho­mas Morus muss also etwas rich­tig ge­macht haben, als er seine Uto­pia schrieb. 1516 erst­mals in la­tei­ni­scher Spra­che er­schie­nen, hat das Buch ein gan­zes Genre be­grün­det und wird auch heute noch eif­rig dis­ku­tiert. Das Feuille­ton spricht seit ge­rau­mer Zeit vom ver­meint­li­chen Ende resp. der Wie­der­ent­de­ckung der Uto­pie und in der Wis­sen­schaft ist die Gat­tung so po­pu­lär wie kaum je zuvor. Warum also nicht den Ur­text, das Werk, mit dem alles be­gann, in neuer Über­set­zung her­aus­brin­gen?

UtopiaJa, warum ei­gent­lich nicht? Ein Ar­gu­ment, das gegen ein sol­ches Un­ter­fan­gen spre­chen würde, wäre, dass an zu­ver­läs­si­gen deut­schen Über­set­zun­gen ei­gent­lich kein Man­gel herrscht. Mehr als ein hal­bes Dut­zend ver­schie­de­ne Über­tra­gun­gen sind der­zeit lie­fer­bar, wei­te­re sind frei im Netz er­hält­lich; die wohl po­pu­lärs­te, jene von Klaus J. Hei­nisch in sei­nem Sam­mel­band Der uto­pi­sche Staat, hat schon über 25 Auf­la­gen hin­ter sich.

Die Fas­sung von Mi­cha­el Sie­fe­ner, der Phan­tas­tik-In­ter­es­sier­ten so­wohl als Über­set­zer wie auch als Autor be­kannt sein dürf­te, schafft den Spa­gat zwi­schen zeit­ge­mä­ßer Spra­che und dem al­ter­tüm­li­chen Duk­tus des Ori­gi­nals recht gut und liest sich ins­ge­samt etwas flüs­si­ger als die nicht mehr ganz tau­fri­sche Hei­nisch-Fas­sung; al­ler­dings ist die Wort­wahl stel­len­wei­se etwas zu mo­dern aus­ge­fal­len. Bei­spiels­wei­se über­setzt Sie­fe­ner eine Pas­sa­ge, in der es darum geht, dass die wei­sen Rat­schlä­ge eines Phi­lo­so­phen bei Hofe kaum ge­schätzt wür­den, fol­gen­der­ma­ßen: »Was könn­ten sol­che selt­sa­men In­for­ma­tio­nen nüt­zen, und wie könn­te man sie den­je­ni­gen ein­bläu­en, die be­reits vom Ge­gen­teil über­zeugt sind?« (65). Ganz ab­ge­se­hen davon, dass man In­for­ma­tio­nen ei­gent­lich nicht ein­bläu­en kann, scheint die Wort­wahl hier weder in­halt­lich noch sti­lis­tisch wirk­lich tref­fend. Hei­nisch über­setzt das la­tei­ni­sche »sermo tam in­so­lens« schlicht mit »so un­ge­wohn­te Worte«, in eng­li­schen Über­set­zun­gen ist auch das spe­zi­fi­sche­re »to­tal­ly un­fa­mi­li­ar line of thought« oder »alien line of ar­gu­ment« zu lesen, was in die­sem Kon­text pas­sen­der scheint.

In einer Vor­be­mer­kung weist Sie­fe­ner dar­auf hin, dass ihm als pri­mä­re Vor­la­ge nicht das la­tei­ni­sche Ori­gi­nal dien­te, son­dern die erste eng­li­sche Über­set­zung von Ralph Ro­bin­son aus dem Jahre 1551 resp. 1556. Bei Pu­ris­ten dürft dies eben­so ein Na­se­rümp­fen pro­vo­zie­ren wie die An­mer­kung, dass der Über­set­zer im Zwei­fels­fall auf die Erst­aus­ga­be von 1516 zu­rück­griff. Von die­ser ist be­kannt, dass sie zahl­rei­che Druck­feh­ler ent­hielt, als Re­fe­renz­aus­ga­be gilt heute all­ge­mein die drit­te Auf­la­ge vom März 1518. Nun ist die Pu­bli­ka­ti­on des Ma­rix-Ver­lags kaum für ein wis­sen­schaft­li­ches Pu­bli­kum ge­dacht, ent­spre­chend könn­te man sol­che Fein­hei­ten igno­rie­ren. Was an­ge­sichts des wohl in­ten­dier­ten Pu­bli­kums aber umso mehr ir­ri­tiert, ist der voll­stän­di­ge Ver­zicht auf Be­gleit­ma­te­ri­al.

Thomas Morus.

Tho­mas Morus.

Die Uto­pia ist ein äu­ßerst kom­ple­xes Werk. Morus hat es für einen klei­nen Kreis von Hu­ma­nis­ten, also für die in­tel­lek­tu­el­le Elite sei­ner Zeit, ge­schrie­ben, und so ist es nicht wei­ter er­staun­lich, dass heu­ti­ge Leser ohne ent­spre­chen­de Hilfe ihre ei­gent­li­che Be­deu­tung kaum er­fas­sen dürf­ten. Denn ent­ge­gen dem, was land­läu­fig unter ›Uto­pie‹ ver­stan­den wird, ent­wirft der Autor kei­nes­wegs sei­nen per­sön­li­chen Ide­al­staat. Die auf der sa­gen­haf­ten Insel Uto­pia herr­schen­de Staats­ord­nung ist viel­mehr ein Ge­gen­bild zur als ne­ga­tiv emp­fun­de­nen Ge­gen­wart. Die­ses Ge­gen­bild hat stel­len­wei­se durch­aus Vor­bild­cha­rak­ter, kippt aber oft auch ins sa­ti­ri­sche Ge­gen­teil um. Um das zu er­ken­nen, wäre aber ir­gend­ei­ne Form von Ein­füh­rung nötig. Es muss ja kein his­to­risch-kri­ti­scher Ap­pa­rat sein, aber einen Kom­men­tar, einen bio­gra­phi­schen Ab­riss, ein Glos­sar oder zu­min­dest Hin­wei­se auf Se­kun­där­li­te­ra­tur würde man bei einem sol­chen Werk nor­ma­ler­wei­se schon er­war­ten. Die mit we­ni­ger als zwei Sei­ten sehr knapp aus­ge­fal­le­ne »Vor­be­mer­kung des Über­set­zers« reicht auf jeden Fall nicht als Her­an­füh­rung an den Text.

Uto­pia ist ge­spickt mit Wort­spie­len, man­che hat Sie­fe­ner im Text in Klam­mern auf­ge­löst, »dort, wo die Wis­sen­schaft über die Be­deu­tung noch heute strei­tet, wurde sie weg­ge­las­sen« (8). Die­ses Vor­ge­hen ist doch eher be­fremd­lich und wird zudem nicht kon­se­quent um­ge­setzt. Bei­spiels­wei­se wird die Be­deu­tung der Namen ›Uto­pia‹ und ›Hyth­lo­da­eus‹ nir­gends er­klärt. Denn ›Uto­pia‹ kann so­wohl als ›ou-to­pos‹ (Nicht-Ort) wie auch als ›eu-to­pos‹ (guter Ort) ver­stan­den wer­den. Die For­schung ist sich weit­ge­hend einig, dass diese Dop­pel­deu­tig­keit be­ab­sich­tigt ist. Ähn­lich am­bi­va­lent ist der Name der Figur, die von der Insel Uto­pia be­rich­tet: Hyth­loada­eus kann als ›Feind des Ge­schwät­zes‹ oder aber als ›Pos­sen­rei­ßer‹ über­setzt wer­den. Zwar ist sich die For­schung hier in der Tat un­eins, ein ent­spre­chen­der Hin­weis wäre aber auf jeden Fall hilf­reich.

Be­dau­er­lich ist auch, dass die Be­gleit­tex­te der ers­ten vier Aus­ga­ben, die so ge­nann­ten Parer­ga, kom­plett weg­fal­len, da diese »eher einen Rah­men um den Text bil­den, als dass sie ihn er­hel­len wür­den« (8). Diese Ein­schät­zung über­rascht eben­falls, denn die ver­schie­de­nen Brie­fe und Ge­dich­te, die von be­freun­de­ten Hu­ma­nis­ten stam­men, sind durch­aus er­hel­lend. Sie zei­gen näm­lich deut­lich, dass der von Morus in­ten­dier­te Le­ser­kreis des­sen sa­ti­ri­sche Ab­sicht sehr genau ver­stand. Indem er den er­fun­de­nen Ra­pha­el Hyth­lo­da­eus in einem Ge­spräch mit zwei Fi­gu­ren na­mens Tho­mas Morus und Peter Giles in des­sen Haus in Ant­wer­pen von der Insel Uto­pia be­rich­ten lässt, be­treibt der Autor ein kunst­vol­les Spiel mit Wirk­lich­keit und Täu­schung. Im Ge­gen­satz zu Hyth­lo­da­eus ist Giles eine reale Per­son, die in Ant­wer­pen tat­säch­lich mit Morus zu­sam­men­kam. In ihren Brie­fen spie­len Giles, Eras­mus von Rot­ter­dam und an­de­re die­ses Spiel mun­ter wei­ter; sie loben den nicht rea­len Hyth­lo­da­eus, er­kun­di­gen sich nach der Lage der Insel Uto­pia und geben mit zahl­rei­chen iro­ni­schen Wen­dun­gen zu ver­ste­hen, dass das Buch eben auch seine spie­le­ri­sche Seite hat.

Es muss fai­rer­wei­se an­ge­fügt wer­den, dass Sie­fe­ner hier einer lei­der gän­gi­gen Pra­xis folgt. Keine deut­sche Fas­sung gibt die Parer­ga voll­um­fäng­lich wie­der. Eine Neu­über­set­zung, wel­che die­sen Miss­stand be­he­ben würde, wäre in der Tat eine sinn­vol­le Sache ge­we­sen. Ob es eine Fas­sung ohne Parer­ga braucht, die zudem auf jede Er­läu­te­rung ver­zich­tet, ist da­ge­gen eher zu be­zwei­feln.

Morus, Tho­mas: Uto­pia. Neu über­setzt von Mi­cha­el Sie­fe­ner. Marix Ver­lag. Wies­ba­den 2013, 256 Sei­ten, ge­bun­den. 10 €. Er­hält­lich bei Ama­zon.

Sonja Schmid: Im Netz der Filmgenres

Er­schie­nen im Quar­ber Mer­kur 116.

Gen­res sind selt­sa­me Ge­bil­de. Als Ki­no­gän­ger oder Leser ver­knüp­fen wir Er­war­tun­gen mit ihnen, die von den je­wei­li­gen Wer­ken in der Regel auch er­füllt wer­den. Gen­res sind somit so­wohl für die Pro­duk­ti­on als auch die Re­zep­ti­on von fun­da­men­ta­ler Be­deu­tung, was ei­gent­lich na­he­le­gen würde, dass dem Kon­zept auch in der Wis­sen­schaft eine zen­tra­le Funk­ti­on zu­kom­men müss­te.

In der Rea­li­tät ist die wis­sen­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit Gen­res aber von einem ei­gen­ar­ti­gen Wi­der­spruch ge­prägt. Auf der einen Seite gibt es die Gen­re­theo­rie, die ver­sucht, dem Phä­no­men auf kon­zep­tio­nel­ler Ebene ge­recht zu wer­den. Grund­le­gen­de Frage ist hier, was Gen­res ei­gent­lich sind resp. wie sie sich his­to­risch kon­sti­tu­ie­ren. Ob­wohl die Schwer­punk­te in Film- und Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft nicht de­ckungs­gleich sind, hat sich mitt­ler­wei­le bei­der­orts die Er­kennt­nis durch­ge­setzt, dass Gen­res nicht als abs­trak­te En­ti­tä­ten exis­tie­ren, son­dern im Ge­brauch ent­ste­hen und sich ver­än­dern. Gen­res sind nicht ob­jek­tiv in ein Werk ein­ge­schrie­ben, son­dern dis­kur­si­ve Be­grif­fe, wel­che von ihren »Nut­zern« ge­prägt wer­den. Je nach Be­nut­zer­grup­pe kön­nen sich Gen­re­be­zeich­nun­gen und -kon­zep­tio­nen des­halb stark un­ter­schei­den. Ein Ki­no­gän­ger der 1930er Jahre hatte an­de­re Er­war­tun­gen an einen Wes­tern als ein zeit­ge­nös­si­scher Zu­schau­er, und wäh­rend ein SF-Fan mit dem Be­griff »Steam­punk« be­stimm­te Mo­ti­ve und Plot-Ele­men­te as­so­zi­iert, dürf­te sich ein in der SF nicht be­wan­der­ter Leser gar nichts dar­un­ter vor­stel­len.

John Wayne in Stagecoach

Was ist ein ty­pi­scher Wes­tern? John Wayne in John Fords Sta­ge­coach (1939).

Ins­be­son­de­re in der Film­theo­rie ist man des­halb schon seit Län­ge­rem von der Vor­stel­lung ab­ge­rückt, Gen­res lie­ßen sich in ir­gend­ei­ner Weise als abs­trak­tes, in sich lo­gi­sches Sys­tem mo­del­lie­ren. Gen­re­theo­re­ti­ker wie Rick Alt­man oder Steve Neale ver­ste­hen Gen­res viel­mehr als prag­ma­ti­sche und mul­ti­dis­kur­si­ve Be­grif­fe, die nur im kon­kre­ten Ge­brauch sinn­voll ana­ly­siert wer­den kön­nen. Das be­deu­tet auch, dass sich die Wis­sen­schaft nicht auf die (film)text­li­che Un­ter­su­chung ein­zel­ner Werke be­schrän­ken kann, son­dern eben­so den Ent­ste­hungs- und Re­zep­ti­ons­kon­text in Be­tracht zie­hen muss. Vor wel­chem Hin­ter­grund ent­steht ein Werk, wie wird es ver­mark­tet und re­zi­piert, in­wie­weit re­agiert es auf be­reits be­ste­hen­de Werke und pro­vo­ziert sei­ner­seits – Stich­wort In­ter­textua­li­tät – Re­ak­tio­nen etc.? Gen­re­theo­rie wird somit zur Gen­re­ge­schich­te.

Eine der­ar­ti­ge Gen­re­ana­ly­se ist nicht nur äu­ßerst auf­wän­dig, son­dern auch zwangs­läu­fig be­grenzt und stets nur vor­läu­fig. Dies mag er­klä­ren, warum sich die Er­kennt­nis­se der Gen­re­theo­rie bis­lang kaum in der »prak­ti­schen« wis­sen­schaft­li­chen Ar­beit nie­der­ge­schla­gen haben. Zwar hat die Theo­rie hoch ela­bo­rier­te Mo­del­le zur Be­schrei­bung ihres Ge­gen­stands ent­wi­ckelt, die meis­ten Gen­re­stu­di­en sche­ren sich darum aber kei­nen Deut. Statt­des­sen wer­den Gen­res vie­ler­orts nach wie vor als text­lich fi­xier­ba­re Ge­bil­de be­trach­tet, und Gen­re­ge­schich­te nimmt nicht sel­ten die Form einer te­leo­lo­gi­schen Er­zäh­lung an, in deren Ver­lauf sich ein Genre von sei­ner Roh­form hin zum Meis­ter­werk ver­fei­nert, um dann an­schlie­ßend zu de­ge­ne­rie­ren. Un­ter­su­chun­gen, wel­che die Er­kennt­nis­se der Theo­rie ernst neh­men und Gen­res in ihrer gan­zen Viel­schich­tig­keit be­schrei­ben, sind nach wie vor rar.

Sonja Schmids Stu­die Im Netz der Film­gen­res er­scheint da als er­freu­li­che Aus­nah­me. Das Buch, das auf Schmids Dis­ser­ta­ti­on an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth zu­rück­geht, ver­steht sich ex­pli­zit als »Plä­doy­er für eine ver­netz­te Gen­re­ge­schichts­schrei­bung« und be­greift Gen­res als »in­ter­tex­tu­el­le Schalt­stel­len« (13). An­hand von Peter Jack­sons The-Lord-of the-Rings-Tri­lo­gie (NZ/USA 2001–2003) und deren Be­deu­tung für die Fan­ta­sy will Schmid »die viel­fäl­ti­gen Pro­zes­se und Dy­na­mi­ken auf­zei­gen, die so­wohl auf di­a­chro­ner wie syn­chro­ner Ebene zu der Ent­ste­hung des […] Werks bei­ge­tra­gen haben und damit maß­geb­lich auch die Wei­ter­ent­wick­lung des Fan­ta­sy-Gen­res als sol­ches be­ein­flusst haben« (16).

Cover Im Netz der Filmgenres

Der An­satz ist somit klar und lo­bens­wert, die Um­set­zung kann al­ler­dings nicht voll­stän­dig über­zeu­gen. An Schmids Stu­die lässt sich ein Phä­no­men be­ob­ach­ten, das für Dis­ser­ta­tio­nen – ins­be­son­de­re für deutsch­spra­chi­ge – ty­pisch ist: Ein mas­si­ver Theo­rie­über­hang. Das liegt zum einen daran, dass die deutsch­spra­chi­gen Geis­tes­wis­sen­schaf­ten tra­di­tio­nell mehr an Theo­rie und Sys­te­ma­ti­sie­rung in­ter­es­siert sind als die an­gel­säch­si­schen. Es hängt aber auch mit der be­son­de­ren Text­form Dis­ser­ta­ti­on zu­sam­men. Eine Dis­ser­ta­ti­on ist ty­pi­scher­wei­se die erste wis­sen­schaft­li­che Ar­beit, in die man sich als an­ge­hen­der Aka­de­mi­ker so rich­tig ver­gräbt. Es ist ganz na­tür­lich, dass man all die Zeit, die man mit Re­cher­chen ver­bracht hat, am Ende in text­li­cher Form sicht­bar ma­chen will. Zu­gleich ge­hört es zu den Spiel­re­geln einer Dis­ser­ta­ti­on, dass man fort­lau­fend unter Be­weis stellt, wie gut man sein Ge­biet kennt. Es ist eine große Her­aus­for­de­rung, genug Ab­stand von sei­nem Ge­gen­stand zu ge­win­nen, um ab­zu­schät­zen, was für einen po­ten­zi­el­len Leser tat­säch­lich re­le­vant sein könn­te. Oft glückt dies nicht ganz, wes­halb viele Dis­ser­ta­tio­nen mit einem über­lan­gen Theo­rie­teil auf­war­ten, in dem aus­führ­lich De­tail­fra­gen dis­ku­tiert wer­den, die für die ei­gent­li­che Un­ter­su­chung kaum Re­le­vanz be­sit­zen.

Im Netz der Film­gen­res ist hier­für ex­em­pla­risch: Von den knapp 250 Sei­ten Text ent­fal­len rund hun­dert auf eine Dis­kus­si­on des Gen­re­kon­zepts und dem als New Film His­to­ry be­zeich­ne­ten An­satz der Ge­schichts­schrei­bung, dem Schmid folgt. Es gibt hier auch ei­ni­ge in­halt­li­che Schnit­zer – so be­haup­tet Schmid, Tz­ve­tan To­do­rov ver­la­ge­re in sei­ner Phan­tas­tik­theo­rie die »Gen­re­fra­ge in den Re­zi­pi­en­ten« (24), was schlicht falsch ist. Auch Schmids Ge­brauch des Be­griffs ›Pro­to­ty­pen­mo­dell‹ ist un­ge­wohnt; nor­ma­ler­wei­se wird damit ein aus der ko­gni­ti­ven Psy­cho­lo­gie resp. Lin­gu­is­tik stam­men­des Kon­zept be­zeich­net. Unter Pro­to­typ wird dabei ein men­ta­les Kon­strukt ver­stan­den, das einen ty­pi­schen Ver­tre­ter einer be­stimm­ten Ka­te­go­rie dar­stellt. Schmid meint mit Pro­to­ty­pen­mo­dell da­ge­gen einen an Nor­throp Frye an­ge­lehn­tes Ar­che­ty­pen-An­satz. Zwar macht sie auf den Be­deu­tungs­un­ter­schied auf­merk­sam (27, Anm. 37), im Kon­text der Gen­re­theo­rie ist diese No­men­kla­tur aber un­ge­wohnt. Im Gro­ßen und Gan­zen sind Schmids Aus­füh­run­gen al­ler­dings kor­rekt und gut nach­voll­zieh­bar, sie fal­len ein­fach viel zu um­fang­reich aus, denn wor­auf die Au­to­rin hin­aus­will, ist ei­gent­lich von Be­ginn an klar,

Schmid kennt ihren Ge­gen­stand und die re­le­van­te Fach­li­te­ra­tur, ihre Stär­ke liegt aber nicht darin, das Ge­le­se­ne zu syn­the­ti­sie­ren. Dies än­dert sich auch im drit­ten Teil nicht, in dem sie schließ­lich auf das Fan­ta­sy-Gen­re zu spre­chen kommt. In­halt­lich gibt es hier eben­falls Un­stim­mig­kei­ten, etwa die Aus­sa­ge, der Phan­tas­tik-For­scher Uwe Durst be­schäf­ti­ge sich pri­mär mit Fan­ta­sy (140, Anm. 406), oder die Be­haup­tung, der Be­griff »Fan­ta­sy« habe sich erst in den 1980er Jah­ren im Zu­sam­men­hang mit Fil­men wie Ex­ca­li­bur (John Boor­man. USA 1981) und Time Ban­dits (Terry Gil­li­am. GB 1981) durch­ge­setzt (119). Für Stirn­run­zeln sorgt auch eine Fuß­no­te zum Mer­chan­di­sing von Star Wars. Nach Schmid hat das Fran­chise über die­sen Ver­mark­tungs­ka­nal 20 Mil­lio­nen Dol­lar ein­ge­bracht (184, Anm. 545), ob­wohl selbst die von ihr an­ge­führ­te Quel­le von mehr als 22 Mil­li­ar­den Dol­lar spricht. Trotz sol­cher of­fen­sicht­li­cher Flüch­tig­keits­feh­ler ist aber das ei­gent­li­che Pro­blem, dass die Au­to­rin fast nur Be­ste­hen­des re­fe­riert.

John Boormans Excalibur

John Boorm­ans Ex­ca­li­bur – hat die­ser Film wirk­lich den Be­griff ‹Fan­ta­sy› po­pu­lär ge­macht?

Nach gut 170 Sei­ten Vor­ar­beit kommt das Buch dann end­lich bei der Haupt­sa­che an, bei Peter Jack­sons Tri­lo­gie. Im Fol­gen­den wird ein gan­zer Ka­ta­log von re­le­van­ten Per­spek­ti­ven durch­ge­ar­bei­tet: Lord of the Rings als ty­pi­scher Ver­tre­ter des Fan­ta­sy-Gen­res, tech­ni­sche, wirt­schaft­li­che und so­zio-his­to­ri­sche As­pek­te sowie in­ter­tex­tu­el­le und in­ter­me­dia­le Be­zü­ge. Schmids Aus­füh­run­gen zum Rea­li­täts­ein­druck von Lord of the Rings, der Fi­gu­ren­ge­stal­tung und dem Mar­ke­ting ist grund­sätz­lich zu­zu­stim­men, aber ir­gend­wie wird nie recht er­sicht­lich, wozu der ganze vor­an­ge­gan­ge­ne theo­re­ti­sche Auf­wand nötig war. Schmid be­tont zu­recht, dass »es eines Bli­ckes auf die viel­fäl­ti­gen Dis­kur­se, die an der Pro­duk­ti­on des Wer­kes be­tei­ligt sind« (254) be­darf, um die­ses ad­äquat in der Ge­schich­te des Gen­res ein­zu­ord­nen. Aber ob­wohl immer wie­der von Netz­wer­ken und Quer­be­zü­gen die Rede ist, bleibt das Vor­ge­hen weit­ge­hend ad­di­tiv.

Das Ka­pi­tel »The The Lord of the Rings im mul­ti­dis­kur­si­ven Netz­werk der ge­ne­ric user[sic!]«, das ei­gent­lich das Zen­trum der Un­ter­su­chung bil­den müss­te, fällt in­halt­lich be­son­ders schwach aus. Auf die em­pi­ri­sche Fan­for­schung, die just in die­sem Be­reich ei­ni­ges zu bie­ten hätte, nimmt Schmid kaum Bezug. Die Aus­füh­run­gen zu CGI und wirt­schaft­li­chen As­pek­ten wie­der­um sind ober­fläch­lich, der Ab­schnitt zu NS-Be­zü­gen ge­ra­de­zu ha­ne­bü­chen; Schmid ver­quickt hier die In­ter­pre­ta­ti­on von Tol­ki­ens Tri­lo­gie als Al­le­go­rie auf den Zwei­ten Welt­krieg – eine Le­se­wei­se, gegen die sich der Autor stets ge­wehrt hat – mit der Frage, in­wie­weit Jack­son sich an die Iko­no­gra­phie von NS-Pro­pa­gan­da­fil­men an­lehnt. Zwei Dinge, die über­haupt nichts mit­ein­an­der zu tun haben.

Ob­wohl das als Hard­co­ver er­schie­ne­ne Buch auf den ers­ten Blick an­spre­chend da­her­kommt, ent­puppt es sich bei ge­naue­rer Lek­tü­re als eher un­sorg­fäl­tig ge­macht. Es wim­melt von klei­ne­ren bis mitt­le­ren ty­po­gra­phi­schen, sprach­li­chen und in­halt­li­chen Feh­lern. Be­son­ders auf­fal­lend ist eine selt­sam ver­zerr­te Zeit­wahr­neh­mung der Au­to­rin: So wird Robin Woods 1979 er­schie­ne­ne Es­say­samm­lung Ame­ri­can Night­ma­re zi­tiert, um »jün­ge­re Ten­den­zen im Hor­ror­gen­re« (202, Anm. 592) zu cha­rak­te­ri­sie­ren, ob­wohl zwi­schen den Fil­men, die Wood be­schreibt, und Jack­sons Tri­lo­gie gut 30 Jahre lie­gen. Dazu passt, dass Schmid die Ära des New Hol­ly­wood, deren Be­ginn nor­ma­ler­wei­se Ende der 1960er Jahre an­ge­setzt wird, in die 1990er Jahre ver­la­gert. Die Ein­schät­zung, Jack­sons Glück sei ge­we­sen, dass die CGI-Tech­no­lo­gie »eben erst« (217) ihren Durch­bruch er­lebt habe – näm­lich mit Ju­ras­sic Park (Ste­ven Spiel­berg. USA 1993) –, zeugt eben­falls von einem selt­sa­men Zeit­ver­ständ­nis, lie­gen zwi­schen den bei­den Fil­men doch fast zehn Jahre.

All diese Feh­ler wären zu ver­schmer­zen, würde Schmid mit ge­nu­in in­ter­es­san­ten Ein­sich­ten auf­war­ten. Ins­ge­samt über­wiegt aber der Ein­druck »viel Auf­wand, wenig Er­trag«. Als Bei­spiel für die Frucht­bar­keit eines mo­der­nen gen­re­theo­re­ti­schen An­sat­zes taugt Im Netz der Film­gen­res somit nur be­grenzt.

Schmid, Sonja: Im Netz der Film­gen­res. The Lord of the Rings und die Ge­schichts­schrei­bung des Fan­ta­sy­gen­res. Tec­tum-Ver­lag: Mar­burg 2014, 294 Sei­ten, Hard­co­ver, 29,95€. Bei Ama­zon er­hält­lich.

Leif Randt: Planet Magnon

Er­schie­nen im Quar­ber Mer­kur 116.

Das Über­ra­schends­te an Leif Randts Pla­net Ma­gnon ist wohl die Tat­sa­che, dass der Autor die Tra­di­ti­on der li­te­ra­ri­schen Uto­pie nach ei­ge­ner Aus­sa­ge bes­ten­falls flüch­tig kennt. Das ist er­staun­lich, denn Randts zwei­ter Roman er­scheint über weite Stre­cken wie ein äu­ßerst re­flek­tier­tes Spiel mit den Bau­stei­nen der uto­pi­schen Tra­di­ti­on.

Schau­platz des Ro­mans ist ein al­ter­na­ti­ves Son­nen­sys­tem, das von einem be­ne­vo­len­ten Dik­ta­tor, einer künst­li­chen In­tel­li­genz na­mens Ac­tu­al­Sa­ni­ty, ge­steu­ert wird. Ac­tu­al­Sa­ni­ty ist eine Art Su­per-Goog­le der Zu­kunft, das die Daten aller Men­schen er­fasst und diese zu ihrem Wohle ein­setzt. Po­li­tik, Wirt­schaft und Städ­te­bau wer­den durch Ac­tu­al­Sa­ni­ty kon­trol­liert, und das durch­aus mit Er­folg: Armut, Krank­heit und Kri­mi­na­li­tät ge­hö­ren eben­so weit­ge­hend der Ver­gan­gen­heit an wie die ne­ga­ti­ven Be­gleit­erschei­nun­gen des Al­terns. Es herr­schen durch­aus uto­pi­sche Zu­stän­de, wobei kei­nes­wegs immer klar ist, wo die künst­li­che In­tel­li­genz über­all ihre Fin­ger mit im Spiel hat.

23899761Gut zwei Drit­tel der Be­woh­ner die­ses Son­nen­sys­tems sind in so­ge­nann­ten »Po­pu­lä­ren Kol­lek­ti­ven« or­ga­ni­siert, deren Ideo­lo­gi­en sich teil­wei­se stark un­ter­schei­den. Im Zen­trum des Ro­mans steht das Dol­fin-Kol­lek­tiv, dem die Haupt­fi­gur Mar­ten Eliot an­ge­hört. Die Dol­fins zeich­nen sich durch eine Art post-post­mo­der­ner Cool­ness aus. Die Mit­glie­der des Kol­lek­tivs stre­ben einen »post­prag­ma­ti­schen Schwe­be­zu­stand« an, »in dem Rau­scher­fah­rung und Nüch­tern­heit, Selbst- und Fremd­be­ob­ach­tung, Pflicht­er­fül­lung und Zer­streu­ung ihre schein­ba­re Wi­der­sprüch­lich­keit« ver­lie­ren. Ge­füh­le im tra­di­tio­nel­len Ver­ständ­nis sind kei­nes­wegs tabu, wer­den aber wie alles an­de­re auch mit einem ra­tio­nal-küh­len In­ter­es­se be­trach­tet. Man könn­te die­sen Zu­stand ab­ge­klärt-dis­tan­zier­ten Ge­nie­ßens viel­leicht mit dem bud­dhis­ti­schen Kon­zept des Nir­wa­nas ver­glei­chen. Etwas pro­sai­scher aus­ge­drückt ist das Ideal der Dol­fins gar nicht so weit von dem ent­fernt, was in ge­wis­sen ur­ba­nen Sze­nen der west­li­chen Wohl­stands­welt be­reits ge­lebt wird. Es geht um einen Ges­tus des iro­nisch-hei­te­ren Ken­nen-wir-schon, ge­wis­ser­ma­ßen um ein po­ten­zier­tes Hips­ter­tum.

Seit Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts macht die Gat­tung der Uto­pie eine Ent­wick­lung durch, die der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Hans Ul­rich See­ber als »Selbst­kri­tik der Uto­pie« be­zeich­net. Den An­fang ma­chen dabei Dys­to­pi­en wie Je­w­ge­nij Samja­tins Wir (1921) oder Ge­or­ge Or­wells Ni­n­e­teen-Eigh­ty­four (1949), die den kol­lek­ti­ven An­satz der klas­si­schen Uto­pie in Frage stel­len und statt­des­sen die Frei­heit des In­di­vi­du­ums in den Mit­tel­punkt rü­cken. Die nächs­te Stufe sind die so ge­nann­ten »kri­ti­schen Uto­pi­en« der 1960er und 1970er Jahre. Ro­ma­ne wie Ur­su­la K. Le Guins The Dis­pos­ses­sed (1974) oder Sa­mu­el R. De­la­nys Tri­ton (1976) po­si­tio­nie­ren sich zwar eben­falls kri­tisch zur klas­si­schen Uto­pie, ver­zich­ten aber nicht voll­stän­dig auf den Ent­wurf po­si­ti­ver Al­ter­na­ti­ven. Mögen ihre Ge­gen­ent­wür­fe auch un­voll­stän­dig und feh­ler­haft sein – die uto­pi­sche Hoff­nung auf bes­se­re Ver­hält­nis­se bleibt be­ste­hen.

Pla­net Ma­gnon er­scheint wie der nächs­te oder viel­leicht auch erst über­nächs­te Schritt in die­sem Evo­lu­ti­ons­pro­zess. Randt er­zählt von einer wohl tem­pe­rier­ten Welt und der Frage, ob und wie in­ten­siv der Mensch glück­lich sein will re­spek­ti­ve kann. Die Le­bens­qua­li­tät ist in sei­nem fik­tio­na­len Kos­mos so hoch, die Wi­der­stän­de des All­tags­le­ben so ge­ring, dass sich die Fra­gen, wel­che tra­di­tio­nell als Motor der Uto­pie wirk­ten – wel­ches ist die beste Re­gie­rungs­form, wie wer­den die Güter ge­recht ver­teilt, wie kann Frie­den und Ein­tracht si­cher ge­stellt wer­den? –, gar nicht erst stel­len. Wo aber kann die Uto­pie noch an­set­zen, wenn alle ma­te­ri­el­len Be­dürf­nis­se be­frie­digt sind und sich die her­kömm­li­chen öko­no­mi­schen und so­zia­len Span­nun­gen in Wohl­ge­fal­len auf­ge­löst haben? Kommt dann eine »Emo­ti­ons-Uto­pie« à la Pla­net Ma­gnon, in der das Ge­fühls­le­ben in ähn­li­cher Weise ra­tio­nal und ef­fi­zi­ent or­ga­ni­siert wird wie Ge­sell­schaft und Po­li­tik in der klas­si­schen Uto­pie? Der in Pla­net Ma­gnon ent­wor­fe­ne Kos­mos ist nicht bloß post­prag­ma­tisch, son­dern in ge­wis­sem Sinne auch pos­tu­to­pisch.

Leif Randt

Leif Randt.

Trotz aller Vor­tei­le sind nicht alle mit die­ser schö­nen neuen Welt zu­frie­den. Im Un­ter­grund hat sich das »Kol­lek­tiv der ge­bro­che­nen Her­zen«, auch »Hanks« ge­nannt, ge­bil­det, das mit ver­schie­de­nen Ak­tio­nen gegen die »fast per­fek­te Il­lu­si­on, dass es uns gut geht«, an­kämpft. Wie John Sa­va­ge in Al­dous Hux­leys Brave New World (1932) haben die Hanks das in Watte ver­pack­te Leben satt und for­dern echte Ge­füh­le, ech­ten Schmerz, kurz: »Be­wusst­sein für das ei­ge­ne Un­glück«. Die Idee, dass ein wahr­haft glück­li­ches Leben nicht ohne Un­glück zu haben ist, stellt einen Topos der dys­to­pi­schen Tra­di­ti­on dar. In der von Randt ent­wor­fe­nen Welt er­scheint diese Idee aber in einem neuen Licht. Nicht zu­letzt wirft der Roman die Frage auf, ob letzt­lich nicht auch die ge­bro­che­nen Her­zen auf die In­itia­ti­ve der Ac­tu­al­Sa­ni­ty zu­rück­ge­hen. Zeich­net sich die pos­tu­to­pi­sche Uto­pie mit an­de­ren Wor­ten also ge­ra­de da­durch aus, dass sie der Tat­sa­che Rech­nung trägt, dass jede Uto­pie in eine Dys­to­pie um­schla­gen kann, und in­iti­iert sie des­halb gleich selbst die Re­bel­li­on, die in einer Dys­to­pie ty­pi­scher­wei­se aus­bricht?

So reiz­voll die An­la­ge des Ro­mans ge­ra­de vor dem Hin­ter­grund der Ge­schich­te der li­te­ra­ri­schen Uto­pie sein mag, eine son­der­lich mit­rei­ßen­de oder span­nen­de Lek­tü­re ist Pla­net Ma­gnon den­noch nicht. Das ist teil­wei­se durch­aus ge­wollt, denn als Ich-Er­zäh­ler fun­giert der Vor­zei­ge-Dol­fin Mar­ten, des­sen Blick auf die Welt dol­fin­mä­ßig kühl und re­ser­viert ist. Al­ler­dings ist es we­ni­ger die dis­tan­zier­te Hal­tung, die den Roman etwas fade wir­ken lässt, als viel­mehr der doch eher dürf­ti­ge Plot. Auf der Suche nach dem Mäd­chen mit der Ti­ger­mas­ke, der ge­heim­nis­vol­len An­füh­re­rin der Hanks, rei­sen Mar­ten und seine Kol­le­gin Emma Glenda­le durch das Son­nen­sys­tem, bis sie – nicht ganz un­er­war­tet – auf dem Müll­pla­ne­ten Toads­tool fün­dig wer­den. Das ist in der Summe lei­der nicht son­der­lich pa­ckend und er­scheint in ers­ter Linie als Vor­wand, um alle Pla­ne­ten des Son­nen­sys­tems vor­stel­len zu kön­nen. Aber im Grun­de steht Randt auch damit fest in der uto­pi­schen Tra­di­ti­on. Schließ­lich dient der ty­pi­sche Rei­se­be­richt der klas­si­schen Uto­pie eben­falls nur als Rah­men, um die je­wei­li­ge uto­pi­sche Welt in allen De­tails zu prä­sen­tie­ren.

Leif Randt: Pla­net Ma­gnon. Kie­pen­heu­er & Witsch: Köln, 2015. 304 Sei­ten, ge­bun­den. 19,99 €. Er­hält­lich bei Ama­zon