Tomorrowland

Wie immer gilt ein ge­ne­rel­ler Spoi­ler­vor­be­halt.1

In Wil­li­am Gib­sons mitt­ler­wei­le klas­si­scher Kurz­ge­schich­te The Gerns­back Con­ti­nu­um2 er­hält ein Fo­to­graf den Auf­trag, die Über­bleib­sel fu­tu­ris­ti­scher US-Ar­chi­tek­tur der 1930er- und 1940er-Jah­re zu fo­to­gra­fie­ren, einen Stil, den Gib­son als Ray­gun Go­t­hic be­zeich­net – Art-Déco- und Stream­li­ne-Mo­der­ne-Bau­ten mit Kur­ven, Chrom­stahl und knal­li­gen Far­ben. Ge­bäu­de, die di­rekt aus den zeit­gleich er­schie­nen SF-Ma­ga­zi­nen oder Fil­men wie Me­tro­po­lis und Things to Come zu stam­men schei­nen und da­mals von einer nicht allzu fer­nen Zu­kunft kün­de­ten, die aber nie ein­tref­fen soll­te; «a kind of al­ter­na­te Ame­ri­ca, 1980 that never was».

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Die Zu­kunft, die nie war. Ein Bei­spiel für Gib­sons Ray­gun Go­t­hic.

Der Ich-Er­zäh­ler lässt sich so sehr auf sei­nen Auf­trag ein, dass er zu hal­lu­zi­nie­ren be­ginnt. Er sieht auf ein­mal «se­mio­tic ghosts»; gegen sei­nen Wil­len spinnt er diese ver­gan­ge­nen Vi­sio­nen der Zu­kunft wei­ter und ima­gi­niert schliess­lich eine ganze High­tech-Me­tro­po­le, kom­plett mit ihren Be­woh­nern. «They were white, blond, and they pro­bab­ly had blue eyes. […] their bright eyes shi­ning with en­thu­si­asm for their flood­lit ave­nues and sil­ver cars. It had all the si­nis­ter fruiti­ness of Hit­ler Youth pro­pa­gan­da.»

Gib­sons Er­zäh­lung ist eine beis­sen­de Po­le­mik gegen die frühe Pulp-SF, deren nai­vem Tech­ni­ko­pti­mis­mus eine qua­si-fa­schis­ti­sche Ideo­lo­gie un­ter­stellt wird. Ent­spre­chend ist der Prot­ago­nist am Ende froh, in der mehr oder we­ni­ger dys­to­pi­schen Ge­gen­wart und nicht der einst ima­gi­nier­ten blitz­blan­ken – schein­bar per­fek­ten – Zu­kunft zu leben.

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Noch mehr ver­gan­ge­ner Fu­tu­ris­mus.

Man kann sich dar­über strei­ten, in­wie­weit Gib­sons Dia­gno­se fair ist, ob Hugo Gerns­back und Co. tat­säch­lich ver­hin­der­te Weg­be­rei­ter einer Welt pro­pe­rer Na­zi-Jüng­lin­ge waren. Auf jeden Fall ist es fas­zi­nie­rend zu sehen, wie skep­tisch der wohl wich­tigs­te SF-Au­tor der 1980er-Jah­re sei­nem ei­ge­nen Genre ge­gen­über­stand. The Gerns­back Con­ti­nu­um ist eine gros­se Ab­sa­ge an die eins­ti­gen Ver­heis­sun­gen der SF.

In mei­nem letz­ten Blog­ein­trag ging ich auf die der­zeit oft ge­hör­te Klage ein, dass es uns heute an po­si­ti­ven Zu­kunfts­ent­wür­fen mang­le. To­mor­row­land von Brad Bird,3 des­sen bis­he­ri­ge Filme mich alle mehr oder we­ni­ger stark be­geis­tert haben,4 er­scheint wie eine di­rek­te Ant­wort auf die Frage, ob wir uns der­zeit nur noch Dys­to­pi­en vor­stel­len kön­nen. Wie Gib­son fragt auch Bird da­nach, was aus dem En­thu­si­as­mus von einst ge­wor­den ist, al­ler­dings kommt er zu einem völ­lig an­de­ren Schluss. To­mor­row­land ist quasi die op­ti­mis­ti­sche Ge­gen­po­si­ti­on zu The Gerns­back Con­ti­nu­um.

Der Film er­zählt von einer Welt – das ti­tel­ge­ben­de To­mor­row­land, von dem nie ganz klar wird, ob es in der Zu­kunft, im All oder in einer Par­al­lel­welt liegt –, in der die krea­ti­ven Ge­nies die­ser Welt un­ge­hin­dert ihre Träu­me rea­li­sie­ren dür­fen. Doch wie es bei Mär­chen­län­dern üb­lich ist, ist auch diese Welt ver­wun­schen und nur Aus­er­wähl­ten zu­gäng­lich. Diese Rolle kommt der jun­gen Casey (Britt Ro­bert­son) zu, einem auf­ge­weck­ten Teen­ager, der nicht be­grei­fen will, warum alle Welt die Zu­kunft aus­schliess­lich in düs­te­ren Far­ben sieht. Casey will sich nicht durch fik­tio­na­le und reale Dys­to­pi­en de­pri­mie­ren las­sen, sie in­ter­es­siert viel­mehr, wie trotz allem eine bes­se­re Zu­kunft rea­li­siert wer­den kann.

Disney's TOMORROWLAND Tomorrowland Ph: Film Frame ©Disney 2015

Brad Birds Vi­si­on einer bes­se­ren Zu­kunft.

To­mor­row­land ist ein un­ver­hoh­le­nes Plä­doy­er für Zu­kunfts­op­ti­mus für – ob­wohl der Be­griff, so­weit ich mich er­in­ne­re, nie fällt – po­si­ti­ve Uto­pi­en. Grund­sätz­lich ein sym­pa­thi­sches Un­ter­fan­gen, das lei­der über­haupt nicht funk­tio­niert. Bird hat einen selt­sam ver­korks­ten Film ab­ge­lie­fert, der auf so ziem­lich allen denk­ba­ren Ebe­nen Pro­ble­me hat. Was frei­lich nicht heisst, dass er gänz­lich be­lang­los wäre. Viel­mehr fällt To­mor­row­land wie der hier be­reits dis­ku­tier­te Things to Come in die Ka­te­go­rie ›hoch in­ter­es­san­ter Murks‹.

Da wäre mal die Ebene der Er­zäh­lung: Na­tür­lich weiss auch Bird, dass eine glück­li­che Welt kei­nen Stoff für einen Spiel­film ab­gibt, wes­halb er eine Ge­schich­te bas­telt, die zwar ex­trem sim­pel ist – Prin­zes­sin Casey und Zau­be­rer Frank (Ge­or­ge Cloo­ney) ver­trei­ben die böse Hexe resp. den bösen Nix (Hugh Lau­rie) aus dem Mär­chen­land –, die aber un­ge­heu­er um­ständ­lich dar­ge­bo­ten wird. Bis der Film halb­wegs in die Gänge kommt, dau­ert es gut eine halbe Stun­de. Von da an wird das Ge­sche­hen dann immer ac­tion­las­ti­ger, was der Bot­schaft des Er­zähl­ten ei­gent­lich dia­me­tral zu­wi­der läuft. Re­spek­ti­ve gibt der Film selbst hier eine Ant­wort dar­auf, warum Dys­to­pi­en so po­pu­lär sind: Krieg und Zer­stö­rung sind nun mal span­nen­der an­zu­schau­en als Har­mo­nie.

Wirk­lich be­denk­lich wird es aber, wenn man die Ar­gu­men­ta­ti­on des Films ge­nau­er unter die Lupe nimmt. Wie In­ter­stel­lar ver­knüpft auch To­mor­row­land den schwin­den­den Zu­kunfts­op­ti­mis­mus mit dem Nie­der­gang des US-Raum­fahrt­pro­gramms. In den 1950ern und 1960ern, als die USA zum Mond woll­ten, sah man noch hoff­nungs­voll nach vorne, nun aber, da die Last Fron­tier für immer ver­schlos­sen scheint, macht sich Ver­zweif­lung breit (die bei­den Filme wei­sen üb­ri­gens noch wei­te­re Par­al­le­len auf: In bei­den Fäl­len haben wir es mit einem frus­trier­ten ehe­ma­li­gen NA­SA-Mit­ar­bei­ter und al­lein­er­zie­hen­den Vater sowie des­sen auf­ge­weck­ter Toch­ter zu tun. Müt­ter sind der Zu­kunft wohl ge­ne­rell nicht wohl­ge­son­nen und feh­len des­halb je­weils).

Disney's TOMORROWLAND Casey (Britt Robertson) Ph: Film Frame ©Disney 2015

Da bleibt Casey nur das Stau­nen.

Warum Raum­fahrt und Zu­kunfts­op­ti­mis­mus ir­gend­wie von­ein­an­der ab­hän­gen sol­len, ist mir zwar nicht er­sicht­lich, man kann das aber im­mer­hin als Ge­ne­ra­tio­nen-Phä­no­men er­klä­ren. Für alle, die die be­sag­te Zeit er­lebt haben, dürf­ten die bei­den Dinge emo­tio­nal wohl ganz di­rekt mit­ein­an­der ver­bun­den sein. Weit­aus pro­ble­ma­ti­scher ist da die völ­li­ge Ab­senz von Po­li­tik in die­ser Vi­si­on einer bes­se­ren Welt. Für Bird scheint eine Uto­pie al­lein eine Frage tech­ni­scher Mach­bar­keit zu sein. Es ist nicht ein­mal so, dass sich der Film nicht für Po­li­tik in­ter­es­sie­ren würde, er lehnt sie viel­mehr er­klär­ter­mas­sen ab. To­mor­row­land ist der Ort, an dem sich Ge­nies aus­to­ben dür­fen; un­ge­hin­dert von klei­nen Geis­tern, Bü­ro­kra­tie und – ganz ex­pli­zit – Po­li­tik.

Diese Kon­zep­ti­on einer Uto­pie – wenn man ein po­li­tik­frei­es Ge­bil­de über­haupt so nen­nen kann – ist in mehr­fa­cher Hin­sicht ab­surd. Denn egal, wo man sel­ber po­li­tisch steht, die Or­ga­ni­sa­ti­on einer Ge­sell­schaft ist immer eine po­li­ti­sche Frage. Tech­ni­scher Fort­schritt ist nicht etwas, was sich aus­ser­halb der Ge­sell­schaft voll­zieht, son­dern wird of­fen­sicht­lich in hohem Masse durch po­li­tisch-ge­sell­schaft­li­che Rah­men­be­din­gen be­ein­flusst. Das stimmt auch und ge­ra­de für die Raum­fahrt, die Bird so wich­tig ist. Nicht nur wäre es ohne den Kal­ten Krieg wohl nie zum Apol­lo-Pro­gramm ge­kom­men, wenn es ein Bei­spiel für ein – er­folg­rei­ches – staat­lich in­iti­ier­tes und fi­nan­zier­tes tech­ni­sches Mam­mut­pro­jekt gibt, dann ist es zwei­fel­los die Mond­lan­dung. Ohne die viel ge­schol­te­nen Po­li­ti­ker und Bü­ro­kra­ten hätte kaum be­reits 1969 ein Mensch den Mond be­tre­ten.

Die Ar­gu­men­ta­ti­on des Films ist somit in hohem Masse wi­der­sprüch­lich. Ist das nur naiv oder doch schon Schlim­me­res? Man­che Kri­ti­ker sehen in dem Film den Wi­der­hall von Ayn Rands Ideo­lo­gie, die be­sagt, dass her­aus­ra­gen­de In­di­vi­du­en nicht durch die dump­fe Masse be­hin­dert wer­den dür­fen.5 Dies ist exakt, was in To­mor­row­land ge­schieht: Hier dür­fen sich ei­ni­ge Aus­er­wähl­te ver­wirk­li­chen, ohne auf den Pöbel Rück­sicht neh­men zu müs­sen. De­mo­kra­tie, Ver­ant­wor­tung ge­gen­über der All­ge­mein­heit, das ist etwas für klei­ne Geis­ter. Gib­sons ari­sche Über­men­schen schei­nen in der Tat nicht allzu fern.

NB: Wie be­reits Pi­ra­tes of the Ca­rib­be­an ist auch To­mor­row­land die Ver­fil­mung einer Dis­ney-The­men­park-At­trak­ti­on. An­ders als Fred­ric Ja­me­son meint, schei­nen sich erz­ka­pi­ta­lis­ti­sche Ge­sin­nung und Uto­pie also durch­aus nicht aus­zu­schlies­sen …

  1. Grund­sätz­lich kann hier jede Poin­te, jeder Twist, jede Über­ra­schung ver­ra­ten wer­den. Wer an Spoi­ler­pho­bie lei­det, soll­te die Ein­trä­ge zu ak­tu­el­len Fil­men somit bes­ser mei­den.[]
  2. Die Er­zäh­lung er­schien erst­mals 1981 und war spä­ter u.a. im Gib­sons Kurz­ge­schich­ten­samm­lung Burning Chro­me sowie in der von Bruce Ster­ling her­aus­ge­ge­be­nen Cy­ber­punk-An­tho­lo­gie Mir­ror­sha­des ent­hal­ten. Eine deut­sche Über­set­zung ist gra­tis auf die­zu­kunft.de zu fin­den.[]
  3. Weil «To­mor­row­land» in di­ver­sen eu­ro­päi­schen Län­dern eine ge­schütz­ter Mar­ken­na­me ist, wird der Film hier unter dem Titel A World Bey­ond ver­trie­ben.[]
  4. Für Re­zen­sio­nen zu The In­credi­bles, Rata­touille sowie Mis­si­on: Im­pos­si­ble – Ghost Pro­to­col siehe hier, hier und hier.[]
  5. Siehe etwa den Ar­ti­kel von Char­lie Jane An­ders auf io9.​com.[]

War die Utopie je utopisch?

It has be­co­me ea­sier to ima­gi­ne the end of the world than the end of ca­pi­ta­lism.

Die­ses Zitat von Fred­ric Ja­me­son scheint der­zeit den all­ge­mei­nen Ton an Ta­gun­gen zu SF und Uto­pie zu set­zen.1 Die Dia­gno­se ist düs­ter: Die Welt ist in einem schreck­li­chen Zu­stand und ein ent­fes­sel­ter Ka­pi­ta­lis­mus ver­hin­dert nicht nur, dass es bes­ser wird, son­dern hat alle Be­rei­che des Le­bens – in­klu­si­ve dem, was über­haupt noch denk­bar ist – der­art um­fas­send durch­drun­gen, dass wir schlicht nicht mehr in der Lage sind, uns eine an­de­re Welt vor­zu­stel­len. Eine noch eher harm­lo­se Folge die­ser Mi­se­re ist der schon seit län­ge­rer Zeit zu be­ob­ach­ten­de Boom an Dys­to­pi­en und post-apo­ka­lyp­ti­schen Sze­na­ri­en – pri­mär, aber nicht nur im Kino. Es fehlt – so der all­ge­mei­ne Tenor – an po­si­ti­ven Uto­pi­en, die uns hoff­nungs­voll in die Zu­kunft bli­cken las­sen.

Auch am 20. in­ter­na­tio­na­len Bre­mer Sym­po­si­um zum Film, an dem ich die­sen Frei­tag eine Keyno­te hal­ten durf­te, grun­dier­te diese re­si­gna­ti­ve Ein­stel­lung viele Bei­trä­ge. Ex­em­pla­risch hier­für waren die bei­den Keyno­tes von Vi­vi­an Sob­chack und Sher­ryl Vint, zwei Ko­ry­phä­en der ame­ri­ka­ni­schen US-For­schung, die zwar un­ter­schied­li­chen Ge­ne­ra­tio­nen an­ge­hö­ren, aber beide stark von Ja­me­son be­ein­flusst sind und sich in der Ein­schät­zung einig waren, dass die SF resp. die Uto­pie nicht mehr ist, was sie mal war.

Fredric Jameson

Fred­ric Ja­me­son.

Wie ich be­reits vor ei­ni­ger Zeit in mei­nem Bei­trag zur SF/F-Now-Kon­fe­renz ge­schrie­ben habe, be­rei­tet mir diese pes­si­mis­ti­sche Sicht Mühe. Das mag zu einem ge­wis­sen Teil eine Tem­pe­ra­ment-Fra­ge sein. Ich bin bei aller Skep­sis be­tref­fend der Ge­gen­wart ein Op­ti­mist, was die lang­fris­ti­ge Per­spek­ti­ve be­trifft. Viel­leicht ist das ein Aus­druck von Nai­vi­tät, aber im Grun­de kann ich mir über­haupt nicht vor­stel­len, wie man ohne eine po­si­ti­ve Sicht auf die Zu­kunft ver­nünf­tig leben kann.

Kommt hinzu, dass ich die Ge­gen­wart bei allen Män­geln, die es zwei­fel­los gibt, nicht als grund­sätz­lich ne­ga­tiv emp­fin­de. Na­tür­lich liegt welt­weit man­ches im Argen, und im Ver­gleich zu dem, was viele Men­schen täg­lich er­lei­den müs­sen, lebe ich auf einer Insel der Glück­se­li­gen. Für mich stellt sich aber die Frage, ob es je wirk­lich bes­ser war und ob die Zu­ver­sicht frü­he­rer Ge­ne­ra­tio­nen nicht zu einem be­trächt­li­chen Teil auf se­li­gem Nicht­wis­sen be­ruh­te. Wahr­schein­lich blick­te man in den 1950er und 1960er Jah­ren tat­säch­lich op­ti­mis­ti­scher in Zu­kunft, aber in­wie­weit war das u.a. eine Folge davon, dass man ge­ra­de eine schreck­li­che Zeit hin­ter sich hatte? War es da­mals denn wirk­lich so viel bes­ser als heute? Seien es Rech­te von Frau­en oder von Min­der­hei­ten, der Kalte Krieg, man­geln­des öko­lo­gi­sches Be­wusst­sein, ge­sell­schaft­li­che Enge etc. etc. – ich bin auf jeden Fall froh, dass ich heute und nicht vor 50 Jah­ren lebe. Zwei­fel­los wird noch immer Raub­bau an der Natur be­trie­ben, gibt es Krie­ge und Un­recht, aber ist nicht be­reits die blos­se Tat­sa­che ein gros­ser Fort­schritt, dass es mitt­ler­wei­le un­zäh­li­ge NGOs gibt, die gegen sol­che Miss­stän­de an­kämp­fen, dass Um­welt­schutz-Richt­li­ni­en zur Selbst­ver­ständ­lich­keit ge­wor­den sind, dass für diese Pro­ble­me über­haupt ein Be­wusst­sein exis­tiert? Ich möch­te hier kei­nes­wegs un­kri­tisch den Sta­tus quo ver­tei­di­gen, aber es scheint mir kei­nes­wegs aus­ge­macht, dass es der Mensch­heit heute ins­ge­samt schlech­ter geht als vor 20, 50 oder 100 Jah­ren.

Und was ist mit den Uto­pi­en, den an­geb­lich feh­len­den po­si­ti­ven Ent­wür­fen? Es gibt heute auf jeden Fall mehr Dys­to­pi­en als zu frü­he­ren Zei­ten. Aber allzu viele SF-Fil­me, die eine rund­um po­si­ti­ve Zu­kunft ent­wer­fen, gab es auch vor 20 oder 40 Jah­ren nicht (an­dern­falls wäre mein For­schungs­pro­jekt über­flüs­sig). Je län­ger ich mit der Uto­pie be­schäf­ti­ge, desto mehr scheint mir zudem, dass die­ses Genre oft falsch ver­stan­den wird. Denn in ihrem Kern ist die Uto­pie zu­erst und vor allem eine Kri­tik an der Ge­gen­wart. Sie ist ein Ge­gen­bild, das ak­tu­el­le Miss­stän­de auf­greift und die­sen eine Al­ter­na­ti­ve ent­ge­gen­hält. Zwei­fel­los gibt es uto­pi­sche Ent­wür­fe, die ernst ge­meint sind, die tat­säch­lich Ide­al­bil­der ihrer Au­to­ren dar­stel­len. Diese Form der Uto­pie ist aber nicht die ein­zi­ge, und ich bin mir noch nicht ein­mal si­cher, ob sie über die Ge­schich­te des Gen­res hin­weg ge­se­hen die do­mi­nan­te bil­det. Zu­min­dest der mo­rus­sche Ur­text ist ein­deu­tig nicht als An­lei­tung für eine neue Ge­sell­schafts­ord­nung ge­dacht. Und dies dürf­te ins­ge­samt wohl für die meis­ten der in­tel­li­gen­te­ren Uto­pi­en gel­ten. H. G. Wells etwa, der zahl­rei­che uto­pi­sche Ent­wür­fe ver­fasst hat, schreibt in sei­nem dies­be­züg­lich pro­gram­ma­ti­schen Pam­phlet The Open Con­spi­ra­cy ex­pli­zit, dass er nicht dar­auf aus sei, einen de­fi­ni­ti­ven End­zu­stand zu skiz­zie­ren. Viel­mehr gehe es darum – und hier steht Wells den ihm an­sons­ten ver­hass­ten Mar­xis­ten er­staun­lich nahe –, einen Pro­zess an­zu­stos­sen, des­sen Aus­gang nicht ab­seh­bar ist. Wil­li­am Mor­ris wie­der­um be­schreibt in News from Now­he­re zwar durch­aus eine Welt, die in vie­len Din­gen seine Vor­lie­ben wi­der­spie­gelt. Aber auch ihm dürf­te klar ge­we­sen sein, dass sein an­ar­chis­ti­scher Wunsch­traum in die­ser Form kaum rea­li­sier­bar ist.

Vegetal City

Wo sind die po­si­ti­ven Uto­pi­en ge­blie­ben – die Ve­ge­tal City von Luc Schui­ten

Wie ich schon frü­her ge­schrie­ben habe, kann man das Feh­len rund­um po­si­ti­ver Uto­pi­en zudem als quasi na­tür­li­che Folge der Evo­lu­ti­on und Aus­dif­fe­ren­zie­rung des Gen­res ver­ste­hen. Ge­wis­se For­men ver­brau­chen sich und wer­den durch neue Va­ri­an­ten er­setzt. Auf die klas­si­sche Uto­pie fol­gen die Dys­to­pie, die kri­ti­sche Uto­pie und schliess­lich hoch re­flek­tier­te und mehr­fach ge­bro­che­ne For­men wie etwa die Ro­ma­ne Kim Stan­ley Ro­bin­sons. So ver­stan­den kann man das Feh­len po­si­ti­ver Uto­pi­en auch als einen Rei­fe- und Lern-Pro­zess ver­ste­hen. An die Stel­le von nai­ven To­tal­ent­wür­fen, wel­che auf der Basis einer Ta­bu­la rasa alles neu auf­bau­en wol­len, tre­ten Va­ri­an­ten, wel­che der Kom­ple­xi­tät der Ge­gen­wart Rech­nung tra­gen.

Zum Schluss noch ein ket­ze­ri­scher Ge­dan­ke: Wenn die klas­si­sche Uto­pie pri­mär eine Kri­tik der je­wei­li­gen Ge­gen­wart dar­stellt, könn­te das Feh­len po­si­ti­ver Ent­wür­fe ja ein An­zei­chen dafür sein, dass wir mit dem ak­tu­el­len Sys­tem trotz allem gar nicht so un­zu­frie­den sind. – Für Ja­me­son wäre diese Sicht wohl bloss ein wei­te­rer Beleg für un­se­re Un­fä­hig­keit, eine Al­ter­na­ti­ve zum Ka­pi­ta­lis­mus zu den­ken.

Li­te­ra­tur

Wells, H. G.: The Open Con­spi­ra­cy. Blue Prints For a World Re­vo­lu­ti­on. Lon­don 1928.

Mor­ris, Wil­li­am: «News from Now­he­re» (1890). In: Ders.: News from Now­he­re and Other Wri­tings. Hg. von Clive Wil­mer. Lon­don 1998, 41–228.

  1. Ob­wohl Ja­me­son in der Regel als Ur­he­ber des Aus­spruchs an­ge­ge­ben wird, konn­te ich keine ein­deu­ti­ge Quel­le aus­ma­chen. In einem Ar­ti­kel für die New Left Re­view schreibt Ja­me­son selbst «So­meo­ne once said that …». Das Zitat scheint somit älter.[]

Sebastian Stoppe: Unterwegs zu neuen Welten

Mein ak­tu­el­les For­schungs­pro­jekt geht von der Prä­mis­se aus, dass es im Be­reich des Spiel­films keine po­si­ti­ve Uto­pi­en – auch Eu­to­pi­en ge­nannt – gibt. Die Grün­de dafür sind ein­leuch­tend: Die po­si­ti­ve Uto­pie be­schreibt eine Ge­sell­schaft ohne Kon­flik­te, die Fi­gu­ren sind reine Platz­hal­ter und der Hand­lungs­rah­men dient nur als Vor­wand für das ei­gent­li­che An­lie­gen: Die de­tail­lier­te Be­schrei­bung des uto­pi­schen Staa­tes.

So weit ist sich die For­schung mehr oder we­ni­ger einig; die meis­ten Stu­di­en zur fil­mi­schen Uto­pie wen­den sich des­halb, nach­dem sie fest­ge­stellt haben, dass es keine un­ter­su­chens­wer­ten Eu­to­pi­en gibt, der Dys­to­pie zu. Ich sel­ber habe an­de­res vor – ich widme mich po­si­ti­ven Ent­wür­fen im Do­ku­men­tar- und Pro­pa­gan­da-Film.

Buchcover

Ob­wohl mein For­schungs­schwer­punkt somit nicht beim Spiel­film liegt, bin ich an die­sem Feld den­noch nach wie vor in­ter­es­siert (wie man auch an die­sem Blog sieht). Ent­spre­chend neu­gie­rig war ich auf Se­bas­ti­an Stop­pes Un­ter­wegs zu neuen Wel­ten, das ich für das Jour­nal of the Fan­tas­tic in the Arts re­zen­sie­ren durf­te. Stop­pe wid­met sich in sei­nem Buch dem Star-Trek-Fran­chise, das er als po­si­ti­ve Uto­pie liest. Die­ser An­satz ist nicht neu – Do­mi­nik Orth hat dazu bei­spiels­wei­se schon einen Auf­satz ge­schrie­ben1 – und liegt bis zu einem ge­wis­sen Grad auch auf der Hand. Denn zwei­fel­los ent­hält Star Trek ver­schie­de­ne uto­pi­sche Ele­men­te: Die Se­ri­en und Filme spie­len vor dem Hin­ter­grund einer ga­lak­ti­schen Fö­de­ra­ti­on, in der Men­schen und zahl­rei­che aus­ser­ir­di­sche Völ­ker mehr oder we­ni­ger fried­lich ver­eint sind. Die Tech­nik ist weit fort­ge­schrit­ten, die Wirt­schaft funk­tio­niert ohne Geld und dank Re­pli­ka­tor-Tech­nik ge­hö­ren Res­sour­ce-Pro­ble­me weit­ge­hend der Ver­gan­gen­heit an.

Rei­chen diese und wei­te­re Ele­men­te nun aber aus, um aus Star Trek als Gan­zes eine Uto­pie zu ma­chen? Die Be­ant­wor­tung die­ser Frage hängt na­tür­lich davon ab, wie eng man den Be­griff der Uto­pie fasst. Bis­lang war ich der An­sicht, dass Star Trek vom mo­rus­schen Mo­dell trotz ei­ni­ger Ge­mein­sam­kei­ten ziem­lich weit ent­fernt ist. Die klas­si­sche Uto­pie in der mo­rus­schen Tra­di­ti­on be­schreibt sei­ten­lang, wie das po­li­ti­sche Sys­tem, die Wirt­schaft, Fa­mi­lie und Er­zie­hung, das Kriegs­we­sen und di­ver­ses an­de­res or­ga­ni­siert ist. Dass kein Spiel­film diese Voll­stän­dig­keit auch nur an­nä­hernd er­reicht, er­staunt nicht. Aber Star Trek ist ja weit mehr als bloss ein Film. Es ist ein Me­ga­text, zu dem neben den Se­ri­en und Fil­men auch Ro­ma­ne, Co­mics und of­fi­zi­el­le Re­fe­renz­bü­cher ge­hö­ren. An­ge­sichts der Voll­stän­digs­keits­wut, die sich bei sol­chen Un­ter­neh­men oft be­ob­ach­ten lässt, wäre es durch­aus mög­lich, dass sich genug Ma­te­ri­al zu­sam­men­tra­gen lässt, das in der Summe ein ähn­lich kom­plet­tes Bild er­gibt. Stop­pe greift denn auch ex­pli­zit auf ent­spre­chen­de ka­no­ni­sier­te – das heisst: durch die Rech­te­inha­ber au­to­ri­sier­te – Bü­cher zu­rück.

Die Brücke der Enterprise.

Doch kein uto­pi­scher Raum.

Ge­lingt es Stop­pe also, den in Star Trek ver­gra­be­nen uto­pi­schen Ent­wurf her­aus­zu­ar­bei­ten? Mit einem Wort: nein. Auch nach 300 Sei­ten war zu­min­dest für mich nach wie vor nicht klar, warum Star Trek nun eher als Uto­pie gel­ten soll­te als di­ver­se an­de­re Space Ope­ras. Dass es uto­pi­sche Ele­men­te in der Fran­chise gibt, ist un­be­strit­ten, diese ma­chen Star Trek als Gan­zes aber noch nicht zur Uto­pie. Zumal sich Stop­pe am Ide­al­ty­pus Uto­pia ori­en­tiert und somit von einem ähn­lich engen Uto­pie-Be­griff wie ich aus­geht. Es gibt zwar durch­aus Ge­mein­sam­kei­ten, die blos­se Tat­sa­che, dass zum Bei­spiel so­wohl Uto­pia als auch Star Trek ohne Geld aus­kom­men, ist aber noch kein star­kes Ar­gu­ment. Denn bei Morus er­hal­ten wir Aus­füh­run­gen, wie diese fik­ti­ve Wirt­schaft funk­tio­nie­ren soll, bei Star Trek da­ge­gen wird nichts er­klärt resp. blei­ben die Aus­füh­run­gen recht wol­kig. Dies gilt auch für eines der wich­tigs­ten Ele­men­te jeder Uto­pie – der Staats­or­ga­ni­sa­ti­on. Stop­pe kann auch nach aus­führ­li­cher Ana­ly­se nicht dar­le­gen, wie das po­li­ti­sche Sys­tem von Star Trek auf­ge­baut ist und in wel­chem Ver­hält­nis die ver­schie­de­nen In­sti­tu­tio­nen – so sie denn über­haupt be­kannt sind – zu ein­an­der ste­hen. Dass dies so ist, über­rascht frei­lich nicht. Zum einen geht es bei Star Trek in ers­ter Linie eben nicht um die Dar­le­gung eines uto­pi­schen Ent­wurfs, zum an­de­ren wäre es für die Au­to­ren des Fran­chise wohl eine un­nö­ti­ge Ein­schrän­kung, wenn all diese Dinge genau fest­ge­legt wären. Die Vag­heit des Ent­wurfs dürf­te hier bis zu einem ge­wis­sen Grad ge­wollt sein, denn sie schafft Spiel­raum.

Nicht nur bin ich mit Stop­pes Fazit nicht ein­ver­stan­den, es gibt noch wei­te­re Dinge, die mich an sei­ner Stu­die, die als Dis­ser­ta­ti­on an der Mar­tin-Lu­ther-Uni­ver­si­tät Hal­le-Wit­ten­berg ent­stan­den ist, ir­ri­tie­ren. So gibt es min­des­tens drei um­fang­rei­che deutsch­spra­chi­ge Stu­di­en zur fil­mi­schen Uto­pie2 – Stop­pe er­wähnt keine davon. Fast noch selt­sa­mer ist, wie viel Zeit der Autor damit ver­bringt, das Star-Trek-Uni­ver­sum vor­zu­stel­len – mit allen Qua­dran­ten, Ras­sen, Raum­schif­fen etc. In die­sen Aus­füh­run­gen er­in­nert sein Buch eher an ein Fan-Kom­pen­di­um als an eine wis­sen­schaft­li­che Stu­die. Zumal ein Gross­teil die­ser Aus­füh­run­gen kaum etwas zum ei­gent­li­chen Thema bei­trägt. Indem er auf die ver­schie­de­nen Al­li­an­zen und Kon­flik­te ein­geht, will Stop­pe zei­gen, dass Po­li­tik ein wich­ti­ger Fak­tor in Star Trek ist. Wenn das al­ler­dings be­reits uto­pisch ist, müss­te auch Game of Thro­nes als Uto­pie gel­ten.

Für mich hat Un­ter­wegs zu neuen Wel­ten letzt­lich nur be­stä­tigt, dass Star Trek trotz ein­zel­ner uto­pi­scher Ele­men­te ins­ge­samt nicht als po­si­ti­ve Uto­pie gel­ten kann.

Meine «of­fi­zi­el­le» Re­zen­si­on wird in einer der kom­men­den Aus­ga­ben des Jour­nal of the Fan­tas­tic in the Arts er­schei­nen.

Up­date: Die Re­zen­si­on ist mitt­ler­wei­le er­schie­nen und hier ver­füg­bar.

Stop­pe, Se­bas­ti­an: Un­ter­wegs zu neuen Wel­ten. Star Trek als po­li­ti­sche Uto­pie. Darm­stadt: büch­ner 2014.
Bei Ama­zon kau­fen.

  1. Orth, Do­mi­nik: «Me­dia­le Zu­kunft — Die Er­reich­bar­keit des (Anti-)Uto­pi­schen». In: Me­di­en­ob­ser­va­tio­nen, 2008. http://​www.​med​ieno​bser​vati​onen.​lmu.​de/​artikel/​kino/ ki­no­_pdf/orth_zu­kunft.pdf[]
  2. Zirn­stein, Chloé: Zwi­schen Fakt und Fik­ti­on. Die po­li­ti­sche Uto­pie im Film. Mün­chen: Utz, 2006; Mül­ler, André: Film und Uto­pie. Po­si­tio­nen des fik­tio­na­len Films zwi­schen Gat­tungs­tra­di­tio­nen und ge­sell­schaft­li­chen Zu­kunfts­dis­kur­sen. Ber­lin: Lit, 2010; End­ter, Heike: Öko­no­mi­sche Uto­pi­en und ihre vi­su­el­le Um­set­zung in Sci­ence-Fic­tion-Fil­men. Nürn­berg: Ver­lag für mo­der­ne Kunst Nürn­berg, 2011.[]

20. Internationales Bremer Symposium zum Film

Eine klei­ne An­kün­di­gung: Vom 6. bis 10. Mai fin­det die­ses Jahr das 20. In­ter­na­tio­na­le Bre­mer Sym­po­si­um zum Film statt. Thema der Ver­an­stal­tung ist «Die Zu­kunft ist jetzt. Sci­ence Fic­tion Kino als au­dio-vi­su­el­ler Ent­wurf von Ge­schich­te(n), Räu­men und Klän­gen». Im Rah­men des Sym­po­si­ums werde ich neben so il­lus­tren Damen wie Vi­vi­an Sob­chack und Sher­ryl Vint eine Keyno­te hal­ten.

Geht unter die Haut: «Under the Skin».

Geht unter die Haut: «Under the Skin».

Der Titel mei­nes Vor­trags lau­tet «An der Gren­ze des Frem­den. Na­tu­ra­li­sie­rung und Ver­frem­dung im neue­ren Sci­ence-Fic­tion-Ki­no». Ich werde darin auf­bau­end auf den Über­le­gun­gen zur Ver­frem­dung in mei­ner Dis­ser­ta­ti­on vor allem Ava­tar und Jo­na­than Gla­zers phä­no­me­na­len Under the Skin ana­ly­sie­ren.

Das kom­plet­te Pro­gramm des Sym­po­si­ums fin­det sich hier.