Foolproof and Incapable of Error

Die Slides meines Vortrags “Foolproof and Incapable of Error” Why Do Filmic Robots and AIs Always Go Bad?, den ich gestern an der interdisziplinären Tagung Wo/Man, Mind, Machine in Berlin hielt, sind nun online verfügbar.

Leider hat es mit der Aufnahme meines Kommentars nicht geklappt, wodurch der Film meinen Vortrag nur unvollständig wiedergibt. Irgendwann muss ich die Aufnahmefunktion von Keynote besser in den Griff kriegen.

Vortrag

Simon in Action (Bild von lapsimont)

Update: Siehe auch den Blogeintrag von lapsimont.

Wo/Man Mind Machine (13./14. Juni)

 

HAL

Anfang nächster Woche findet in Berlin die interdisziplinäre (englischsprachige) Tagung Wo/Man Mind Machine statt, die sich um die Interaktion zwischen Mensch und Maschine dreht. Ich trete am Montagnachmittag mit einem Vortrag mit dem Titel «Foolproof and Incapable of Error.› – Why Do Filmic Robots and AIs Always Go Bad?» an.

Aus der Tagungsausschreibung:

What are the various interfaces between mind, wo/man, and machine and how can these interfaces be further explored within and across different disciplines? In this conference, we will investigate the complex interaction between humans and machines as well as various ways of reverse-engineering the brain. We will discuss current approaches, theories, and methodologies in this field, and also identify shared research interests, which might lead to future collaborations between the humanities and the sciences, between members of both academies, and beyond.

Das vollständige Tagungsprogramm gibt es hier.

Veranstaltungsort: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW), Einstein-Saal, Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin.

Kontakt & Anmeldung: manmindmachine@diejungeakademie.de

 

 

Leif Randt: Planet Magnon

Erschienen im Quarber Merkur 116.

Das Überraschendste an Leif Randts Planet Magnon ist wohl die Tatsache, dass der Autor die Tradition der literarischen Utopie nach eigener Aussage bestenfalls flüchtig kennt. Das ist erstaunlich, denn Randts zweiter Roman erscheint über weite Strecken wie ein äußerst reflektiertes Spiel mit den Bausteinen der utopischen Tradition.

Schauplatz des Romans ist ein alternatives Sonnensystem, das von einem benevolenten Diktator, einer künstlichen Intelligenz namens ActualSanity, gesteuert wird. ActualSanity ist eine Art Super-Google der Zukunft, das die Daten aller Menschen erfasst und diese zu ihrem Wohle einsetzt. Politik, Wirtschaft und Städtebau werden durch ActualSanity kontrolliert, und das durchaus mit Erfolg: Armut, Krankheit und Kriminalität gehören ebenso weitgehend der Vergangenheit an wie die negativen Begleiterscheinungen des Alterns. Es herrschen durchaus utopische Zustände, wobei keineswegs immer klar ist, wo die künstliche Intelligenz überall ihre Finger mit im Spiel hat.

23899761Gut zwei Drittel der Bewohner dieses Sonnensystems sind in sogenannten »Populären Kollektiven« organisiert, deren Ideologien sich teilweise stark unterscheiden. Im Zentrum des Romans steht das Dolfin-Kollektiv, dem die Hauptfigur Marten Eliot angehört. Die Dolfins zeichnen sich durch eine Art post-postmoderner Coolness aus. Die Mitglieder des Kollektivs streben einen »postpragmatischen Schwebezustand« an, »in dem Rauscherfahrung und Nüchternheit, Selbst- und Fremdbeobachtung, Pflichterfüllung und Zerstreuung ihre scheinbare Widersprüchlichkeit« verlieren. Gefühle im traditionellen Verständnis sind keineswegs tabu, werden aber wie alles andere auch mit einem rational-kühlen Interesse betrachtet. Man könnte diesen Zustand abgeklärt-distanzierten Genießens vielleicht mit dem buddhistischen Konzept des Nirwanas vergleichen. Etwas prosaischer ausgedrückt ist das Ideal der Dolfins gar nicht so weit von dem entfernt, was in gewissen urbanen Szenen der westlichen Wohlstandswelt bereits gelebt wird. Es geht um einen Gestus des ironisch-heiteren Kennen-wir-schon, gewissermaßen um ein potenziertes Hipstertum.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts macht die Gattung der Utopie eine Entwicklung durch, die der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Seeber als »Selbstkritik der Utopie« bezeichnet. Den Anfang machen dabei Dystopien wie Jewgenij Samjatins Wir (1921) oder George Orwells Nineteen-Eightyfour (1949), die den kollektiven Ansatz der klassischen Utopie in Frage stellen und stattdessen die Freiheit des Individuums in den Mittelpunkt rücken. Die nächste Stufe sind die so genannten »kritischen Utopien« der 1960er und 1970er Jahre. Romane wie Ursula K. Le Guins The Dispossessed (1974) oder Samuel R. Delanys Triton (1976) positionieren sich zwar ebenfalls kritisch zur klassischen Utopie, verzichten aber nicht vollständig auf den Entwurf positiver Alternativen. Mögen ihre Gegenentwürfe auch unvollständig und fehlerhaft sein – die utopische Hoffnung auf bessere Verhältnisse bleibt bestehen.

Planet Magnon erscheint wie der nächste oder vielleicht auch erst übernächste Schritt in diesem Evolutionsprozess. Randt erzählt von einer wohl temperierten Welt und der Frage, ob und wie intensiv der Mensch glücklich sein will respektive kann. Die Lebensqualität ist in seinem fiktionalen Kosmos so hoch, die Widerstände des Alltagsleben so gering, dass sich die Fragen, welche traditionell als Motor der Utopie wirkten – welches ist die beste Regierungsform, wie werden die Güter gerecht verteilt, wie kann Frieden und Eintracht sicher gestellt werden? –, gar nicht erst stellen. Wo aber kann die Utopie noch ansetzen, wenn alle materiellen Bedürfnisse befriedigt sind und sich die herkömmlichen ökonomischen und sozialen Spannungen in Wohlgefallen aufgelöst haben? Kommt dann eine »Emotions-Utopie« à la Planet Magnon, in der das Gefühlsleben in ähnlicher Weise rational und effizient organisiert wird wie Gesellschaft und Politik in der klassischen Utopie? Der in Planet Magnon entworfene Kosmos ist nicht bloß postpragmatisch, sondern in gewissem Sinne auch postutopisch.

Leif Randt

Leif Randt.

Trotz aller Vorteile sind nicht alle mit dieser schönen neuen Welt zufrieden. Im Untergrund hat sich das »Kollektiv der gebrochenen Herzen«, auch »Hanks« genannt, gebildet, das mit verschiedenen Aktionen gegen die »fast perfekte Illusion, dass es uns gut geht«, ankämpft. Wie John Savage in Aldous Huxleys Brave New World (1932) haben die Hanks das in Watte verpackte Leben satt und fordern echte Gefühle, echten Schmerz, kurz: »Bewusstsein für das eigene Unglück«. Die Idee, dass ein wahrhaft glückliches Leben nicht ohne Unglück zu haben ist, stellt einen Topos der dystopischen Tradition dar. In der von Randt entworfenen Welt erscheint diese Idee aber in einem neuen Licht. Nicht zuletzt wirft der Roman die Frage auf, ob letztlich nicht auch die gebrochenen Herzen auf die Initiative der ActualSanity zurückgehen. Zeichnet sich die postutopische Utopie mit anderen Worten also gerade dadurch aus, dass sie der Tatsache Rechnung trägt, dass jede Utopie in eine Dystopie umschlagen kann, und initiiert sie deshalb gleich selbst die Rebellion, die in einer Dystopie typischerweise ausbricht?

So reizvoll die Anlage des Romans gerade vor dem Hintergrund der Geschichte der literarischen Utopie sein mag, eine sonderlich mitreißende oder spannende Lektüre ist Planet Magnon dennoch nicht. Das ist teilweise durchaus gewollt, denn als Ich-Erzähler fungiert der Vorzeige-Dolfin Marten, dessen Blick auf die Welt dolfinmäßig kühl und reserviert ist. Allerdings ist es weniger die distanzierte Haltung, die den Roman etwas fade wirken lässt, als vielmehr der doch eher dürftige Plot. Auf der Suche nach dem Mädchen mit der Tigermaske, der geheimnisvollen Anführerin der Hanks, reisen Marten und seine Kollegin Emma Glendale durch das Sonnensystem, bis sie – nicht ganz unerwartet – auf dem Müllplaneten Toadstool fündig werden. Das ist in der Summe leider nicht sonderlich packend und erscheint in erster Linie als Vorwand, um alle Planeten des Sonnensystems vorstellen zu können. Aber im Grunde steht Randt auch damit fest in der utopischen Tradition. Schließlich dient der typische Reisebericht der klassischen Utopie ebenfalls nur als Rahmen, um die jeweilige utopische Welt in allen Details zu präsentieren.

Leif Randt: Planet Magnon. Kiepenheuer & Witsch: Köln, 2015. 304 Seiten, gebunden. 19,99 €. Erhältlich bei Amazon

Dinge, die am Radio kommen

Als Nachschlag zur Berliner Things-to-Come-Tagung, von der hier schon die Rede war, zwei Radiobeiträge des Deutschlandfunks

Zuerst ein Beitrag aus der Sendung Corso; Sigrid Fischer spricht mit mir über Science Fiction im Allgemeinen sowie über Tomorrowland – das Thema meines Vortrags – im Besonderen.

 

Tomorrowland

Tomorrowland: In der Ferne leuchtet die verheissungsvolle Zukunft.

Ausserdem noch eine Sendung, in der verschiedener Redner der Tagung zu Wort kommen (und in der man mich zum Kulturwissenschaftler ernannt hat).

The Liverpool Companion to World Science Fiction Film

Erschienen in der Zeitschrift für Fantasikforschung Nr. 10 2015.

Dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem SF-Kino stark USA-lastig ist, dürfte unbestritten sein, hat aber offensichtliche Gründe. Denn obwohl SF keine genuin amerikanische Erfindung ist, wird sie oft als solche wahrgenommen. Mit dem Film verhält es sich ähnlich. Zumindest die Leinwände der westlichen Welt werden heute von Hollywood dominiert. Dass es daneben auch noch andere Kinoindustrien gibt, deren Produktion teilweise sogar noch umfangreicher ist als die der US-amerikanischen Filmindustrie, wird oft vergessen, da diese meist nur für den heimatlichen Markt produzieren. Im SF-Film kulminieren diese beiden Tendenzen gewissermaßen. Zwar gab und gibt es von Aelita (SU 1924, Regie: Yakov Protazanov) und Metropoli (D 1927, Regie: Fritz Lang) über Fahrenheit 451 (GB 1966, Regie: François Truffaut) und Stalker (SU 1979, Regie: Andrej Tarkowskij) bis Under the Skin (GB/USA/CH 2013, Regie: Jonathan Glazer)1 immer wieder bemerkenswerte europäische SF-Filme, im Gegensatz zu den USA handelt es sich hierbei aber in aller Regel um Einzelwerke. Eigentliche Genretraditionen können sich nur in einem industriellen Kontext herausbilden, die fragmentierte und kleinräumige europäische Filmindustrie bietet hierfür denkbar schlechte Voraussetzungen. Als Ausnahmen ließen sich hier allenfalls England sowie einige osteuropäische Staaten anführen.

The Liverpool Companion to World Science Fiction Film

The Liverpool Companion to World Science Fiction Film

Obwohl Hollywood keineswegs immer an SF interessiert war – vor 1950 war das Genre praktisch inexistent –, spielt diese mittlerweile eine zentrale Rolle in der Blockbuster-Strategie der großen Studios. Außerhalb der USA fehlen meist Geld und Know-how, um mit den Mega-Produktionen mithalten zu können. SF dient somit nicht zuletzt dazu, die Vormachtstellung der amerikanischen Filmindustrie zu zementieren. Freilich gibt es dennoch immer wieder Versuche, außerhalb von Hollywood SF-Filme zu produzieren. Von der Forschung wurden diese bislang aber weitgehend ignoriert. Der Liverpool Companion to World Science Fiction Film schickt sich nun an, diese Lücke zumindest teilweise zu schließen.

Dass die 14 Kapitel des Sammelbands die weltweite SF-Produktion nicht erschöpfend abdecken können, versteht sich von selbst. Das erklärte Ziel von Herausgeberin Sonja Fritzsche ist nicht Vollständigkeit, sondern, «to make visible the incredible variety of science fiction film-making around the world» (5). Vielfältig sind nicht nur die behandelten Filmtraditionen, sondern auch die gewählten Ansätze. So widmen sich Ritch Calvin und Ji Zhang jeweils «ersten» Filmen. Im Falle von Zhang ist das Death Ray on a Coral Island (CN 1980, Regie: Zhang Hongmei), «arguably the first science fiction film produced in post-1949 China» (39), bei Calvin Pumzi (KE 2009, Regie: Wanuri Kahiu), «the first Kenyan science fiction film» (23). Jenseits der Tatsache, dass beide Filme jeweils als «offizielle» erste SF-Filme gelten, haben die Werke freilich wenig gemein. Pumzi, ein mit einem Budget von lediglich 35’000 Dollar gedrehter postapokalyptischer Kurzfilm, der sich mit Wasserknappheit und der Rolle der Frau auseinandersetzt, ist das Werk einer engagierten Künstlerin, produziert in einem Land, in dem weder Film noch SF Tradition haben.2 Death Ray, in dem ein Wissenschaftler eine Superbatterie entwickelt, die westliche Mächte für finstere Zwecke missbrauchen wollen, entstand dagegen während des Golden Age der chinesischen SF, einer kurzen Phase von 1978 bis 1983, in der das Genre vom Regime als Mittel «to popularize scientific knowledge and inspire youths interested in scientific research» (39) offiziell gefördert wurde. In beiden Fällen kommt den Filmen somit eine politische Funktion zu, wenn auch unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen.

Politik spielte auch bei der Stanisław-Lem-Verfilmung Der schweigende Stern (DDR/PL 1960, Regie: Kurt Maetzig), dem ersten osteuropäischen SF-Film, eine entscheidende Rolle, wobei die beteiligten Parteien sehr unterschiedliche Ziele verfolgten. Während man in Moskau die Überlegenheit bei der Eroberung des Alls demonstrieren und die polnischen Produzenten der lemschen Vorlage gerecht werden wollten, war das Ziel der DEFA, «to spread an egalitarian warning to the world that would also encourage more investment in space explorations» (125). Ganz im Sinne dieses pazifistischen Ansatzes ist die Crew in Kurt Maetzigs Film ethnisch und geschlechtsmäßig durchmischt. Wie Evan Torners Analyse zeigt, gelang es den Filmemachern aber insbesondere bei den weiblichen Figuren dennoch nicht, sich von etablierten Stereotypen zu lösen.

Der schweigende Stern.

Der schweigende Stern.

Steht bei den genannten Artikeln jeweils ein Film im Zentrum, sind andere übersichtsartig angelegt. So widmen sich Jessica Lange und Dominic Alessio dem indischen SF-Kino, dessen Tradition bis in die 1950er Jahre zurückreicht. Insbesondere seit der Jahrtausendwende erlebt der indische SF-Film einen Boom; über 30 Filme wurden seither produziert, viele davon mit großem finanziellem und technischem Aufwand. Enthiran (IN 2010, Regie: S. Shankar), auf den die Autoren ausführlicher eingehen, ist sogar die kommerziell erfolgreichste indische Produktion aller Zeiten. Obwohl dieser Film Elemente enthält, die für das indische Kino typisch sind – allen voran musikalische Einlagen –, sind insbesondere die Actionszenen deutlich von Hollywood inspiriert. An den Special Effects – eine besonders überbordende Actionsequenz hat auf YouTube mittlerweile fast vier Millionen Zuschauer gefunden – waren denn auch namhafte US-amerikanische Firmen wie Industrial Light and Magic beteiligt.

An einem Film wie Enthiran tritt eine Tendenz besonders deutlich zutage, die sich in fast allen Artikeln zeigt: Hollywood bleibt als Bezugsgröße stets präsent. Und das gilt sowohl für die Analysen wie auch für die Filmemacher. Sei es im Versuch, mit Hollywood in Sachen exaltierter Action gleichzuziehen wie im Falle von Enthiran oder in der bewussten Abgrenzung gegenüber der US-amerikanischen SF. Derek Johnston macht diese Haltung im britischen Kino aus, das insbesondere in Form der Hammer Studios auf einen, wie man heute sagen würde, transmedialen Ansatz setzte: Durch die Adaption bestehender Radio-, Bühnen- und Fernsehproduktionen kreierte das Studio «a particularly British slant on the genre» (100).

Frankreich als Land, das nicht nur eine reiche Filmtradition besitzt, sondern auch auf eine lange SF-Geschichte zurückblicken kann – zu erwähnen wäre nicht nur Jules Verne, sondern auch der Bereich der Comics –, ist ein besonders aufschlussreiches Beispiel. Wie Daniel Tron in seinem Artikel argumentiert, hat die maßgeblich durch die Nouvelle Vague begründete Tradition des Autorenfilms dazu geführt, dass es im Grunde kein französisches Genrekino gibt. Bekannte französische SF-Filme wie La jetée (FR 1962, Regie: Chris Marker), Alphaville (FR/IT 1965, Regie: Jean-Luc Godard) und Je t’aime, je t’aime (FR 1968, Regie: Alain Resnais) sind deshalb «either first films or remain one-shot experiments in the filmography of each director» (150). Genreaffine Regisseure wie Luc Besson können ihre Filme dagegen nur als internationale Koproduktion realisieren.

Alphaville

Science Fiction ausserhalb der Genretradition: Alphaville von Jean-Luc Godard.

Als erster Versuch, den US-geprägten Kanon des SF-Kinos aufzubrechen, ist der Liverpool Companion zweifellos ein wichtiger Beitrag. Dass das Buch nur einen Anfang darstellt, deklariert Fritzsche bereits in der Einleitung. Damit möchte sie wohl auch Kritik abwehren, bei den behandelten Regionen zu selektiv verfahren zu sein. Völlig entkräften kann sie diesen Vorwurf allerdings nicht. Die Auswahl der untersuchten Länder und Regionen wirkt relativ beliebig und zeigt zudem einen starken westlichen Einschlag. Fast die Hälfte der Beiträge beschäftigt sich mit europäischen Ländern, der afrikanische Kontinent wird dagegen nur mit dem Artikel zu Pumzi bedacht; das im Bereich Genrekino höchst produktive Hongkong wird nicht behandelt, Australien ohnehin nicht, und auch der gesamte arabische Raum ist abwesend.

Für diese Lücken gibt es zweifellos verschiedene Gründe; nicht zuletzt ist es gut möglich, dass die SF in manchen Kulturkreisen nach wie vor nicht Fuß fassen konnte. Solche weißen Flecken zu behandeln, wäre aber ebenfalls interessant gewesen. Überlegungen dazu, warum es keine arabische SF gibt – falls dem so sein sollte –, hätten eine echte Bereicherung dargestellt.

Transmorphers

Billiges Imitat eines schlechten Films: Transmorphers.

Zum Eindruck der Beliebigkeit trägt ausgerechnet einer der interessantesten Beiträge des Bandes mit bei, Paweł Freliks Ausführungen zu «digital audiences». Frelik setzt sich darin mit verschiedenen Phänomenen auseinander, die erst im Zeitalter günstiger digitaler Produktionsmittel entstehen konnten. Da ist zum einen das, was Frelik «science fiction exploitation cinema» (248) nennt, Billigst-Produktionen, die direkt auf DVD vertrieben werden. Neben den «Mockbustern» der Produktionsfirma Asylum wie Transmorphers (US 2007, Regie: Leigh Scott), AVH: Aliens Vs. Hunter (US 2007, Regie: Scott Harper) oder The Day the Earth Stopped (US 2008, Regie: C. Thomas Howell), die im Windschatten großer Produktionen segeln, sind auch wieder auferstandene (trashige) Subgenres wie etwa Giant-mutant-animal-Streifen zu nennen. Diese Filme setzen zwar auf digitale Effekte, haben aber nicht den Anspruch, qualitativ mit Großproduktionen gleichzuziehen; vielmehr setzen sie die Verfahren ein, die ihnen gängige Schnitt- und Effektprogramme von Haus aus zur Verfügung stellen. Das Ergebnis ist in jeder Hinsicht generisch.

Dass die verfügbaren Werkzeuge die Produktion maßgeblich beeinflussen, zeigt auch der Boom von SF-Kurzfilmen, bei denen es nicht selten einzig darum geht, mit visueller Extravaganz zu beeindrucken, während der Plot rudimentär bleibt. Noch einmal ein anderes Gebiet schneidet Frelik schließlich mit Erscheinungen wie Remixes und Fan-Edits an, in denen sich Fans bestehende Filme aneignen und dem Material eine neue Form geben. Wie gesagt: Das sind faszinierende und von der Wissenschaft noch weitgehend unbeackerte Felder, aber obwohl Frelik die Internationalität der SF-Kurzfilmproduktion betont, will sein Beitrag nicht so recht zur Ausrichtung des Bandes passen.

Dass digitale Produktionstechniken und nicht zuletzt die Möglichkeit der Distribution übers Netz gerade für finanzschwache Länder von eminenter Bedeutung sind, wird von verschiedenen Autoren hervorgehoben. Umso unverständlicher ist da, dass Angaben zu zu den online verfügbaren Filmen weitgehend fehlen. In der Bibliografie ist zwar jeweils der Hinweis «Film Short Online» zu lesen, eine URL sucht man aber vergeblich.

Fritzsche, Sonja (Hg.): The Liverpool Companion to World Science Fiction Film. Liverpool: Liverpool University Press, 2014.
277 Seiten, 978-1781380383, € 106. Erhältlich bei Amazon.

  1. Siehe zu Under the Skin auch meine Rezension.[]
  2. Der Film ist auf YouTube verfügbar,[]

Nachricht von Papi – Christopher Nolans «Interstellar»

Ursprünglich erschienen im Science Fiction Jahr 2015.

 

Machen wir es kurz: Interstellar ist – hymnischen Rezensionen wie jener von Dietmar Dath zum Trotz1 – kein guter Film. Es ist im besten Fall ein missglückter Film, was nicht das Gleiche ist wie ein schlechter. Missglückt bedeutet ja, dass man beim Versuch, etwas Ansehnliches zu schaffen, gescheitert ist. Ein gewisses Potenzial wäre also vorhanden. Ein schlechter Film dagegen ist ganz einfach – schlecht.

Wie man Interstellar bewertet, hängt wohl unter anderem damit zusammen, wie man das bisherige Schaffen von Regisseur Christopher Nolan einschätzt. Ist Nolan tatsächlich das große Genie des zeitgenössischen Mainstream-Kinos, als das er seit seiner Batman-Trilogie mancherorts gefeiert wird? Obwohl ich mich seinerzeit auch vom The Dark Knight-Hype anstecken ließ, bin ich mittlerweile etwas skeptisch geworden, was Nolans Qualitäten betrifft. Schon bei The Dark Knight Rises (USA 2012), vor allem aber bei Inception (USA 2010) schienen mir Anspruch und Ergebnis deutlich auseinanderzuklaffen. Nolans Filme sind gut darin, sich smart zu geben, halten einer genaueren Analyse aber oft nicht stand. So verwendet der Regisseur in seinem Traum-Einbruch-Film unglaublich viel Zeit darauf, ein kompliziertes Regelwerk zu etablieren, nur um sich dann im entscheidenden Moment keinen Deut um die zuvor errichteten Leitplanken zu scheren.

Der Limbo in «Inception».

Nur scheinbar ausweglos: Der Limbo in «Inception».

Am gefährlichsten, so erfahren wir früh, ist der Bereich des Limbos, denn aus diesen Traumuntiefen kehrt kein Sterblicher zurück. Denkste! Als es drauf ankommt, kann der von Leonardo DiCaprio gespielte Dominick Cobb dann doch wieder aus dem Limbo aufsteigen. In einem Film, der so offensichtlich clever sein möchte wie Inception, ist ein derartiger Deus ex Somnium ein Kapitalverbrechen.

Schön anzuschauen sind Nolans Filme allemal, sie sind aber oft deutlich weniger raffiniert, als sie vorgeben. Und das scheint mir denn auch die Hauptschwäche des Briten: seine philosophisch-intellektuellen Ambitionen. Nolan ist primär Bild-Handwerker und nicht Denker. Dass praktisch alle seine Filme im Innersten um die glückliche Zusammenführung einer Familie kreisen, trägt auch nicht unbedingt zu ihrer Qualität bei.

Das soll nicht heißen, dass Interstellar keine interessanten Ansätze enthielte. Wenn Philip Theisohn, Professor für Literaturwissenschaft und Experte für Außerirdischen-Literatur, schreibt, dass der Film zeige, was es bedeutet, »außerirdisch zu werden«, spricht er in der Tat ein zentrales – und potenziell auch ertragreiches – Motiv des Films an.2 Kann der Mensch noch Mensch sein, wenn er sein angestammtes Habitat verlässt? Sind wir zur Eroberung des Alls bestimmt, oder müssen wir uns damit abfinden, dass die Menschheit ihre winzige Ecke im Universum nie verlassen wird?

Die Wiedergeburt als Weltraum-Embryo.

Die Wiedergeburt als Weltraum-Embryo.

Zwei große Klassiker des SF-Kinos, mit denen Interstellar nicht zufällig immer wieder in Verbindung gebracht wird, haben sich bereits mit dieser Frage auseinandergesetzt, und beide kommen zu einem nicht sonderlich positiven Schluss. Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (US/GB 1968) endet mit der Transformation des Astronauten David Bowman zum Astral-Embryo. Das kann man zwar positiv verstehen, als Überwindung menschlicher Begrenzungen – der im Film mehrfach erklingende Zarathustra lässt grüßen –, im Grunde ist das Fazit aber ernüchternd und passt so gar nicht ins Zeitalter der Weltraumbegeisterung, in dem der Film entstanden ist: Der Mensch kann das All nur erobern, wenn er aufhört, Mensch zu sein.

Das Ende von «Solaris»

Am Ende kehrt der Protagonist von «Solaris» heim.

Andrei Tarkowski kommt in Solaris (SU 1972), der oft als Gegenentwurf zu Kubricks Weltraum-Epos verstanden wird, zu einem ähnlichen, wenn auch gewissermaßen nach innen gekehrten Schluss: Sein Protagonist Kelvin entdeckt am Ende auf dem rätselhaften titelgebenden Planeten sein Elternhaus. Der Weg in die unendlichen Weiten des Kosmos führt letztlich doch wieder zu uns selbst. Oder in den Worten Stanisław Lems, dessen literarische Vorlage bei allen Unterschieden in dieser Hinsicht einen vergleichbaren Ton anschlägt: »Menschen suchen wir, niemanden sonst. Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel. Mit anderen Welten wissen wir nichts anzufangen.«3

Was bei Lem in erster Linie eine Kritik an unserer Unfähigkeit ist, unsere anthropomorphen Kategorien hinter uns zu lassen, wird bei Tarkowski auf das Individuum heruntergebrochen. So sehr sich die Tonlage von Buch und Film auch unterscheidet, das Resultat bleibt das gleiche: Das All ist kein Ort, in dem die Menschheit heimisch werden kann, es ist uns grundlegend fremd. So gesehen wäre 2001 dann doch die optimistischste Variante, denn hier ist eine Kontaktaufnahme möglich – wenn auch um den Preis des Menschseins.

Nolan schlägt einen anderen Ton an. Der Ausspruch des Protagonisten Cooper, der als Tagline für den Film fungiert, sieht den Menschen in der Rolle des Entdeckers und ist darin deutliches Echo auf den amerikanischen Frontier-Mythos: »Mankind was born on Earth. It was never meant to die here.«4 Allerdings folgt Interstellar diesem Entdecker-Ethos weitaus weniger konsequent, als man meinen würde. Denn im Grunde vereinigt der Film die Positionen von 2001 und Solaris: Im Innern des Schwarzen Lochs findet Cooper sich selbst respektive seine Tochter Murphy – und zugleich eine Menschheit, die so unvorstellbar weit avanciert ist, dass sie Raum und Zeit nach Belieben manipulieren kann. Und hier liegt auch das zentrale – wenn auch längst nicht das einzige – Problem des Films: Er will alles auf einmal sein. Das ganz große kosmische Abenteuer und die Rückkehr an den heimischen Herd. Interstellar verschränkt das »To boldly go where no man has gone before« von Star Trek mit dem »There’s no place like home« aus The Wizard of Oz.

Das Verhalten der Übermenschen der Zukunft wirft dabei einige Fragen auf: Wenn sie in der Lage sind, ein Wurmloch in unserem Sonnensystem zu installieren und zudem ein Schwarzes Loch mit einer fünfdimensionalen Bibliothek möblieren können, müssten doch eigentlich einfachere Wege der Kontaktaufnahme möglich sein. Warum eine derart komplizierte Konstellation, die nur dann funktioniert, wenn Cooper in den vermeintlich sicheren Tod geht?

Im Tesserakt

In der fünfdimensionalen Bibliothek.

Ist das ein Test der intergalaktischen Bibliothekare? Falls ja, wäre das ziemlich dumm, denn die Existenz der Zukunft hinge dann davon ab, dass sich Cooper opfert. Hätte die Crew der Endurance einen anderen Weg gewählt, wäre das Intermezzo auf Manns Planet anders ausgegangen, dann wäre Cooper gar nie auf die Idee gekommen, sich als Schwarzes-Loch-Springer zu versuchen. Und schließlich: Was wäre geschehen, wenn nicht Cooper, sondern ein anderer Astronaut in das Schwarze Loch gestürzt wäre? Wäre er dann auch in der kosmischen Bibliothek gelandet? Obwohl es nie explizit gesagt wird, macht es doch den Anschein, als sei dieser extradimensionale Raum, von dem aus Cooper mit seiner Tochter kommuniziert, einzig für ihn geschaffen worden. Kaum hat er seine Aufgabe erfüllt, zerfällt der Tesserakt bereits wieder. Jeder andere Mensch wäre hier wohl aufgeschmissen gewesen.

Freilich – mit derartigem spitzfindigen Nachbohren kann man auch den schönsten Filmplot zerlegen. Was diese Fragen aber offenbaren, ist, dass das Weltall von Interstellar ganz auf Cooper zugeschnitten ist. Der Film erzählt nicht von einem von physikalischen Gesetzen beherrschten Kosmos, sondern von einem solipsistischen Universum.

Wie David Wittenberg in seiner lesenswerten Studie zum Zeitreise-Motiv festhält, haben Geschichten, die mit dem Zeitreise-Paradox spielen, oft die Tendenz, das gesamte Raum-Zeit-Gefüge auf eine einzige große Ego-Show zu reduzieren, bei der am Schluss alles darauf hinausläuft, dass das, was geschieht, einzig deshalb passiert, weil es geschehen muss respektive schon immer geschehen ist: »Within time travel paradox stories, the historical past tends to preserve or to protect itself, even to ›heal‹ itself when necessary, but in any case to persist as either what is or what it was supposed to have been5 Beispielsweise schickt John Connor in The Terminator (US 1984) Kyle Reese in die Vergangenheit, damit dieser Johns Mutter Sarah schwängern kann. So wie John sich indirekt selbst zeugt, erschaffen sich auch Interstellars Menschen der Zukunft mit der Hilfe von Cooper und Murphy; erst die Informationen, die Cooper seiner Tochter übermittelt – nicht näher spezifizierte »quantum data« –, ermöglichen eine Besiedelung des Alls und somit die Rettung der Menschheit. Diese Art von Selbstzeugung, die man als religiöses Konzept oder als kindliche Allmachtsphantasie verstehen kann, ist in der SF also durchaus nicht ungewöhnlich. Wittenberg bezeichnet Zeitreise-SF denn auch als eine

metaliterature of Oedipus and Narcissus, a literature about encountering (or reencountering) oneself, about meeting (remeeting) one’s progenitors, about negotiating (or renegotiating) one’s personal and historical origins.6

Das Problem bei Interstellar ist, dass der Film vorgibt, etwas ganz anderes zu erzählen: nämlich eine Geschichte kosmischer Exploration, ein Staunen über die Wunder des Universums. In Wirklichkeit geht es aber immer nur um Cooper und um Harmonie in Murphys Kinderzimmer.

Weltformel oder Liebeszauber?

Weltformel oder Liebeszauber?

Wir haben es hier mit zwei grundverschiedenen Welt-Vorstellungen zu tun. Auf der einen Seite ein den Gesetzen der Kausalität folgendes Film-Universum, in dem findige Helden handfeste Probleme bewältigen müssen, auf der anderen Seite Coopers in sich gekrümmter emotionaler Innenraum. Besonders störend ist dabei, wie der Film diese beiden Welten zusammenkleistert: indem er Liebe zur physikalischen Größe erklärt. Der Monolog von Anne Hathaway, in dem sie dafür plädiert, Liebe als physikalisches Phänomen zu verstehen, ist ein Tiefpunkt des Films – und zugleich essenziell für seine Konstruktion.

Wohlverstanden: Ich habe kein Problem mit der Vorstellung, dass eine hoch spezialisierte und jahrelang für ihre Mission ausgebildete Physikerin wie die von Hathaway dargestellte Amelia Brand ein emotionales Wesen ist. Tatsächlich finde ich die Idee, die heroischen Astronauten mit ganz menschlichen Schwächen zu versehen – Brand will zu ihrem Geliebten Edmund, Mann hält die Einsamkeit nicht aus und wird deshalb zum Lügner und Mörder, Cooper hat wegen Murphy ein schlechtes Gewissen –, grundsätzlich vielversprechend. Womit ich allerdings große Mühe habe, ist, dass eine Physikerin allen Ernstes einen Satz wie »Love is the one thing that transcends time and space« von sich gibt, ohne anschließend vor Scham in den Boden zu versinken. Brand mag sich nach Edmund verzehren, sie mag dafür sogar die Mission aufs Spiel setzen – obwohl das kein gutes Licht auf das psychologische Training der NASA werfen würde –, dass sie die Liebe zu jener Kraft erklärt, die das Raum-Zeit-Gefüge zusammenhält, glaube ich aber schlichtweg nicht.

Cooper und Murph

Cooper und Murph: Die Liebe, die die Welt im Innersten zusammenhält.

Für die Gesamtkonstruktion des Films ist diese Herleitung der Liebe als fehlendes Element einer Weltformel allerdings entscheidend. Denn auch wenn es der Film nicht explizit sagt – die Kraft, die es Cooper ermöglicht, im Tesserakt mit seiner Tochter in Kontakt zu treten, ist natürlich die Liebe. Nur weil Papi seinem Töchterchen die Treue hält, kann die Menschheit das All erobern. Weil es so schrecklich ist, zitiere ich hier die Erklärung der Website Den of Geek!, die mir ganz im Sinne des Films scheint:

The futuristic humans knew that it was Murphy Cooper who saved them with an equation, and they made sure that she could do it by communicating with her in the only language that is universal: a parent’s love.7

Spätestens hier überschreitet Interstellar unwiderruflich die Grenze zwischen prätentiösem Zeitreise-Film und pseudowissenschaftlich verbrämtem Esoterik-Kitsch. Nolan erzählt nichts anderes als eine aufgemotzte Version von Ghost (USA 1990); ohne Demi Moore und ohne Töpferszene, dafür aber mit viel Hardware.8 Das wirklich Ärgerliche an dieser Konstruktion ist noch nicht einmal ihre klebrige Süßlichkeit, sondern dass sie als besonders raffinierter Plot-Twist verkauft wird.

Ebenfalls irritierend ist die Vehemenz, mit der das Marketing die angebliche wissenschaftliche Grundierung des Films hervorgehoben hat. Wie mittlerweile wohl jeder SF-Interessierte mitgekriegt hat, fungierte der Astrophysiker Kip Thorne als Berater des Films. Tatsächlich geht das Projekt ursprünglich auf ein Treatment zurück, das Thorne mitverfasst hat. Entsprechend ist er auch als Executive Producer des Films aufgeführt.

Wie Thorne in dem begleitend zum Film erschienenen Buch The Science of Interstellar ausführt, legte er bei der Entwicklung des Stoffes schon früh zwei Regeln fest:

  1. Nothing in the film will violate firmly established laws of physics, or our firmly established knowledge of the universe.
  2. Speculations (often wild) about ill-understood physical laws and the universe will spring from real science, from ideas that at least some »respectable« scientists regard as possible.9

Ohne Thorne, der unbestritten Verdienste als Wissenschaftler hat, zu nahe treten zu wollen: Nach meinem Dafürhalten sind diese beiden Regeln großer Unsinn und letztlich wenig mehr als Marketing-Gewäsch.

Realismus und Plausibilität sind keine absoluten Werte, sondern werden einerseits durch unser Vorwissen, andererseits aber auch maßgeblich über die Haltung eines Films gesteuert. Jeder Film – und jeder Roman – errichtet seine eigene Welt mit ihren spezifischen Regeln. Niemand beschwert sich darüber, dass die Figuren in einem Musical zu singen und zu tanzen beginnen oder dass James Bond jedes noch so haarsträubende Abenteuer unbeschadet übersteht. Dass wir solche »unrealistischen« Eskapaden akzeptieren, hängt vom Tonfall ab, den ein Film anschlägt, davon, wie er sich und seine Welt präsentiert. Oft spielen Genres und deren Konventionen eine wichtige Rolle. Genres fungieren in der Kommunikation zwischen Filmemacher und Publikum als eine Art Kürzel: Als Zuschauer weiß ich, dass in einem Western andere Regeln gelten als in einem SF-Film (was nicht heißt, dass man die beiden nicht miteinander kombinieren kann), folglich muss der Film nicht alles erklären, sondern kann gewisse Dinge voraussetzen. Dabei sind diese Regeln keineswegs festgeschrieben, sondern historisch und je nach kulturellem Hintergrund wandelbar: Fritz Lang ließ seine Astronauten in Die Frau im Mond (DE 1929) noch ohne Raumanzug auf der Mondoberfläche spazieren. Heute würde das niemand mehr wagen. Einerseits wissen wir, dass es auf dem Mond keine Atmosphäre gibt, andererseits ist der Raumanzug ein fest etabliertes, ikonisches Motiv der SF.

Dass SF keineswegs streng wissenschaftlich zu sein hat, sondern dass sie primär den Anschein wissenschaftlich-technischer Plausibilität erzeugen muss, ist im Grunde offensichtlich. Uns allen ist bewusst, dass geläufige SF-Motive wie Zeitreisen, Wurmlöcher und Fortbewegung mit Überlichtgeschwindigkeit unmöglich sind. Daran ändern die von den Medien regelmäßig verbreiteten Meldungen nichts, dass ein Forscherteam wieder einmal nachgewiesen hat, dass die Physik dieses oder jenes SF-Novum theoretisch doch zulassen würde. Denn als Nachtrag kommen jeweils sehr grundlegende Einschränkungen. So in der Art von: »Es wäre theoretisch möglich, die Lichtgeschwindigkeit zu überschreiten, praktisch wäre aber mehr Energie nötig, als das gesamte Universum zur Verfügung stellt.«10 Mit anderen Worten: Es bleibt unmöglich. Und falls es doch einmal möglich werden sollten, dann nicht auf Grundlage der uns heute bekannten physikalischen Gesetze.

Das Schwarze Loch Gargantua

Immerhin: Schön sieht es aus, das Schwarze Loch.

Durchblättert man The Science of Interstellar, zeigt sich nicht ganz unerwartet, dass die Sache mit der vermeintlichen Wissenschaftlichkeit nicht so einfach ist. Zur Frage, ob Wurmlöcher durchquert werden können, schreibt Thorne etwa, dass vieles darauf hindeute, dass dies nicht möglich sei, definitiv beantworten ließe sich das aber noch nicht. Für mich als Zuschauer spielt es aber überhaupt keine Rolle, ob die Reise durch ein Wurmloch komplett unmöglich, praktisch unmöglich oder bloß sehr unwahrscheinlich ist. Es ist SF, also akzeptiere ich Dinge wie ein Wurmloch. Ebenso wenig interessiert mich, wie akkurat die Darstellung eines Schwarzen Lochs ist, da ich ja ohnehin keine Möglichkeit habe nachzuprüfen, wie weit der Film sich von der Realität entfernt.11 Sich zu überlegen, welche Variable einer Gleichung wie manipuliert werden muss, damit ein Wurmloch theoretisch möglich wird, mag für Leute mit besonderem Interesse an Astrophysik interessant sein, für das Funktionieren der Geschichte ist es dagegen irrelevant. Für den Filmzuschauer ist einzig die Rolle in der Story-Mechanik wichtig, und allenfalls noch, ob das Schwarze Loch gut aussieht; zumindest Letzteres ist in Interstellar immerhin der Fall.

Diskussionen über das Wesen richtiger SF finde ich in aller Regel herzlich uninteressant. Die Geschmäcker sind nun einmal verschieden. Ob bunte Space Opera oder superharte Hard SF – entscheidend ist, dass ein Film innerhalb der Parameter bleibt, die er selbst etabliert, dass er in sich konsistent ist. Meine Kritik an Interstellar läuft denn auch nicht darauf hinaus, dass ich dem Film vorhalte, keine echte SF zu sein, sondern dass Nolan gleich in mehrfacher Hinsicht Etikettenschwindel betreibt. Der Film wuchert mit seinen wissenschaftlichen Pfunden, gibt sich unglaublich clever und raffiniert, kümmert sich letztlich aber kein bisschen darum. Am Ende wird der liebesgetriebene Tesserakt aus dem Hut respektive ins Schwarze Loch gezaubert, und alles ist gut. Nolan hat mit Interstellar ein Rührstück über die alles überwindende väterliche Liebe gedreht, traut sich aber offensichtlich nicht, dazu zu stehen.

  1. Dietmar Dath: »Interstellar im Kino: Fliehkraft liebt Schwerkraft«. In: FAZ (4. 11. 2015), S. 9. Online hier.[]
  2. Philip Theisohn: »Theisohns Sci-Fi-Tipp«. In: Zürcher Studienzeitung 6 (2014). Online hier.[]
  3. Stanisław Lem: Solaris. Aus dem Polnischen von Irmtraud Zimmermann-Göllheim. München: dtv, 2002, S. 85.[]
  4. Zum Frontier-Mythos in Interstellar siehe Eileen Jones: »Reactionaries in Space«. In: Jacobin (12. 10. 2014). Online hier.[]
  5. Wittenberg, David: Time Travel. The Popular Philosophy of Narrative. New York: Fordham University Press, 2013, S. 150.[]
  6. Ebd., S. 64. Die konsequenteste Version einer solchen Ego-Zeitreise zeigt der Film Predestination (AU 2014) nach der Erzählung »– All You Zombies –« von Robert A. Heinlein aus dem Jahre 1959.[]
  7. Crow, David: »Explaining the Interstellar Ending«. Den of Geek! (13. 3. 2015). Online hier.[]
  8. Den Vergleich mit Ghost verdanke ich Patrick Karpiczenko.[]
  9. Kip Thorne: The Science of Interstellar. New York: W. W. Norton, 2014.[]
  10. So schreibt der Physiker Jean-Pierre Luminet über die Möglichkeit, ein Wurmloch künstlich aufrechtzuerhalten: »Of course, all of this is highly speculative, but not theoretically impossible – even if the amount of negative energy required maintaining the wormhole open would be greater than the total energy emitted by the Sun during one full year …« Jean-Pierre Luminet: »The Warped Science of Interstellar«. In: ArXiv e-prints (2015). arXiv: 1503.08305 [physics.pop-ph], S. 3f.[]
  11. Wie Jean-Pierre Luminet erklärt, sind bei der Darstellung des schwarzen Lochs in Interstellar verschiedene Verzerrungseffekte nicht sichtbar, die ein Beobachter sehen würde. Eine wirklich akkurate Darstellung wäre für die Zuschauer zu verwirrend gewesen. Luminet hält zudem leicht pikiert fest, dass seine eigene bereits 1979 veröffentlichte Darstellung eines Schwarzen Lochs akkurater gewesen sei als jene in Interstellar. Luminets Simulation ist nicht nicht bewegt und in relativ grobkörnigem Schwarz-Weiß (Quelle): Luminets SimulationEine farbige Animation, die auf Luminets Arbeit aufbaut, gibt es auf YouTube: []

«Demand the Impossible»

In der neuen Ausgabe der SFRA Review ist eine Rezension von mir zu Tom Moylans Demand the Impossible: Science Fiction and the Utopian Imagination enthalten, das vergangenes Jahr in der Reihe Ralahine Utopian Studies neu aufgelegt wurde. Moylans 1986 erstmals erschienenes Buch, von dem 1990 auch eine deutsche Übersetzung veröffentlicht wurde,1 gehört mittlerweile zu den Klassikern der Utopieforschung und das darin entwickelte Konzept der kritischen Utopie ist fester Teil des wissenschaftlichen Vokabulars geworden. Obwohl mir Moylans Überlegungen schon in diversen anderen Texten begegnet sind, muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich das Buch bisher nicht gelesen hatte. Die Neuauflage war somit ein guter Anlass, diese Bildungslücke zu schließen.

Das Cover von «Demand the Impossible»Ich möchte hier nicht die ganze Rezension wiederholen, deshalb nur kurz: Moylan untersucht in Demand the Impossible vier in den 1970er Jahren erschienene (Science-Fiction-)Romane, nämlich Joanna Russ’ The Female Man, Ursula K. Le Guins The Dispossessed, Marge Piercys Woman on the Edge of Time und Samuel R. Delanys Triton. Was diese Bücher verbindet, ist, dass sie in Moylans Augen die utopische Tradition weiterführen und transformieren. Nachdem die klassische – statische – Utopie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in eine Krise geraten ist, werden utopische Totalentwürfe spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich verdächtig. Die Idee einer umfassenden Neuen Weltordnung hat zu diesem Zeitpunkt viel von ihrer Attraktivität verloren. Hier haken die Romane ein, indem sie keine abgeschlossenen Baupläne mehr präsentieren, sondern vielmehr dynamische Szenarien entwerfen, die zudem innerhalb des Romans kritisch hinterfragt werden. Die Utopie kritisiert nicht mehr nur die Gegenwart, vielmehr wird sich die Gattung ihrer eigenen Beschränkungen und Probleme bewusst und setzt sich mit diesen auseinander; in Moylans Worten – der meistzitierten Passage des Buchs – klingt das so:

[a] central concern in the critical utopia is the awareness of the limitations of the utopian tradition, so that these texts reject utopia as blueprint while preserving it as a dream (10).

Das Konzept der critical utopia ist heute fester Bestandteil der “offiziellen” Gattungsgeschichte und wurde mittlerweile um weitere Varianten ergänzt. Moylan selbst hat in Scraps Of The Untainted Sky (2000) den Begriff der critical dystopia hinzugefügt.

Ein Grund, weshalb ich bislang einen Bogen um Moylans Buch gemacht habe, war, dass ich einen Jargon-Exzess befürchtete. Wissenschaftliche Klassiker zeichnen sich ja nicht selten durch Unverständlichkeit aus, und gerade bei einem in den 1970er Jahren entstandenen Buch – obwohl Demand the Impossible 1986 erschien, ist es, wie Moylan selbst schreibt, ein Kinder der 1970er – ist marxistisch-kritisches Geschwurbel leider keine Seltenheit. Umso größer meine Freude, dass sich das Buch als erstaunlich gut lesbar entpuppte. Insbesondere Moylans Ausführungen zur klassischen Utopie sind erfreulich kompakt und klar; inhaltlich lässt sich ebenfalls kaum etwas aussetzen. Was Moylan hier schreibt, hat auch knapp 30 Jahre später noch Gültigkeit.

Das Cover von «The Dispossessed»Da ich von den untersuchten Romanen einzig den Le Guins kenne – an The Female Man bin ich beim ersten Versuch gescheitert, vor Triton habe ich Angst –, kann ich nicht allzu viel zu den eigentlichen Analysen sagen. Grundsätzlich scheinen diese aber sehr konzise. Wie ich in der Rezension schreibe, ist es interessant, dass mit The Dispossessed das zweifellos erfolgreichste der vier besprochenen Bücher die härteste Kritik einstecken muss. Inwieweit diese begründet ist, darüber kann man wohl streiten.

Die Neuauflage kommt mit über hundert Seiten neuem Material daher. Davon ist nicht alles gleich aufschlussreich. Die Idee, dass Kollegen Moylans etwas zu seinem Buch schreiben, ist zwar nett, nicht alle der Beiträge tragen aber wirklich zu neuen Erkenntnissen bei. Vermisst habe ich einen Blick nach vorne: Was ist in den folgenden Jahrzehnten aus der kritischen Utopie geworden, wo steht die Gattung heute? Dazu findet man leider wenig. Man kann dies damit erklären, dass sich Moylan in seinen  späteren Büchern genau diesen Fragen widmet, ein paar Ausblicke wären aber dennoch angebracht gewesen. Denn dass die Idee der kritischen Utopie weiterentwickelt wurde, scheint mir offensichtlich. Kim Stanley Robinsons Mars-Romane etwa stehen eindeutig in dieser Tradition.

Trotz dieser Kritik ist das Fazit eindeutig positiv. Ein Klassiker, der diesen Titel zurecht trägt; ein Buch, das jeder, der sich mit der Utopie beschäftigt, gelesen haben sollte.

Ausgabe 311 der SFRA Review mit der besagten Rezension ist auf der Website der Zeitschrift erhältlich.

Literatur

Moylan, Tom: Demand the Impossible. Science Fiction and the Utopian Imagination. Hg. von Raffaella Baccolini. Oxford/Bern/Berlin 2014 (11986).
Moylan, Tom: Scraps of the Untainted Sky: Science Fiction, Utopia, Dystopia. Boulder 2000.

  1. Moylan, Tom: Das Unmögliche verlangen: Science-fiction als kritische Utopie. Hamburg/Berlin: Argument 1990.[]

Neue Aufgaben

Die aktuelle Ausgabe der ZFF

Die aktuelle Ausgabe der ZFF

Seit Montag ist es offiziell: Ich bin neu an der Seite von Jacek Rzeszotnik, Lars Schmeink (beide bisher) und Laura Muth (ebenfalls neu) Herausgeber der Zeitschrift für Fantastikforschung. Die ZFF, in der schon mehrfach Beiträge von mir erschienen sind – zuletzt mein Mystery-Artikel –, ist das offizielle Organ der Gesellschaft für Fantastikforschung und erscheint zweimal im Jahr. Ich freue mich sehr auf diese neue Aufgabe  und hoffe, dass ich ein bisschen dazu beitragen kann, dass die ZFF noch erfolgreicher wird.

Alles Weitere zur ZFF hier im ständigen Call for Papers:

Die Zeitschrift für Fantastikforschung (ZFF) ist interdisziplinär angelegt und erscheint zweimal jährlich, jeweils im Mai und im November. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, der wissenschaftlichen Diskussion rund um die Fantastik als kultureller Formation ein Forum zu bieten. Das ‹Fantastische› wird dabei als ein Oberbegriff verstanden, der Horror und Gothic ebenso umfasst wie Utopien, Science Fiction, Fantasy und Speculative Fiction, aber auch Märchen, Fabeln und Mythen. Im deutschsprachigen Raum ist die von der Gesellschaft für Fantastikforschung e.V. (GFF) herausgegebene Zeitschrift die einzige wissenschaftliche Publikation in deutscher Sprache, die regelmäßig erscheint und sich ganz der Auseinandersetzung mit dem Fantastischen widmet.
Publiziert werden Originalbeiträge aus den verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Fantastischen in Literatur, Kunst, Theater, Film, Comic und Computerspiel beschäftigen, einzelne Aspekte der Geschichte, Theorie und Ästhetik der Fantastik behandeln oder das Fantastische als soziales und gesamtkulturelles Phänomen untersuchen (z.B. in Fan- und Subkulturen). Zusätzlich dazu veröffentlicht die ZFF regelmäßig Übersetzungen von kanonischen Texten der internationalen Fantastikforschung, die bislang nicht auf Deutsch erschienen sind, deren Publikation aber für die Beförderung der Fantastikforschung in deutscher Sprache notwendig erscheint. Darüber hinaus erscheinen in der ZFF Rezensionen zu wichtigen Neuerscheinungen wissenschaftlicher Arbeiten.

Die Herausgeber rufen interessierte Forscher auf, sich mit Artikeln aus dem oben beschriebenen Gebiet an der Zeitschrift für Fantastikforschung zu beteiligen. Beiträge können jederzeit als Word-File unter zff@fantastikforschung.de eingereicht werden. Sie sollten (inkl. Leerzeichen, Fußnoten und Literaturverzeichnis) zwischen 40.000 und 70.000 Zeichen umfassen, einen originären Beitrag zur Fantastikforschung darstellen und noch nicht anderweitig veröffentlicht sein. Sämtliche Texte werden einem Peer-Review-Verfahren unterzogen, auf dessen Grundlage über ihre Publikation entschieden wird. Wer als Rezensent oder Übersetzer für die Zeitschrift tätig werden möchte, wende sich bitte ebenfalls an oben genannte Adresse. Informationen zur Form der Rezension erhalten Sie nach Bestätigung eines entsprechenden Auftrages.

The Maze Runner als Utopie

Wie immer gilt ein genereller Spoilervorbehalt.1

The Maze Runner ist zwar beileibe kein Meisterwerk, das die Zeit überdauern wird, der Film hat mich insgesamt aber positiv überrascht und war kurzweiliger und weniger kitschig, als ich es erwartet hatte (siehe meine Kritik). Zudem bot er in Sachen Utopie einige interessante Elemente.

Wes Balls Film erzählt von einem jungen Mann, der in einem Fahrstuhl zu sich kommt, welcher ihn zu einem von hohen Mauern eingeschlossenen Stück Grünfläche – der Glade – transportiert. Thomas, so der Name des Protagonisten, hat wie die anderen Bewohner der Glade, die ihn bereits erwarten, sein Gedächtnis verloren. Er weiss weder, wer oder was er vorher war, noch, wer ihn hierher gebracht hat. Wie wir bald erfahren, wird die Lichtung jeden Monat via Fahrstuhl mit Nahrungsmitteln und Utensilien versorgt. Zusammen mit dem Nachschub ist jeweils auch ein neuer Junge ohne Erinnerung mit dabei.

Als wäre das nicht bereits mysteriös genug, öffnet sich jeden Morgen eine Türe in der Wand, die den Weg in ein riesiges Labyrinth frei gibt. Dieses Labyrinth führt zu einem Ausgang – zumindest sind die Bewohner der Lichtung davon überzeugt, gefunden hat man ihn bislang noch nicht. Deshalb machen sich die sogenannten Runners jeden Tag auf, um das Labyrinth abzulaufen. In der Hoffnung, dereinst den sagenumwobenen Ausgang zu finden.

Das Leben der kleinen Gemeinschaft ist derweil gut organisiert. Jeder hat seine Aufgabe, es werden Nahrungsmittel angepflanzt und Unterkünfte gebaut, man isst und feiert gemeinsam. Im Grunde gar nicht so schlecht, wenn da nicht die grosse Ungewissheit wäre sowie die unheimlichen Geräusche, die des Nachts aus den Tiefen des Labyrinths widerhallen. Diese stammen von den Grievers, die sich später als eine Art riesenhafte Cyborg-Spinnen entpuppen werden.

Lord of the Flies in der Verfilmung von 1963

Lord of the Flies in der Verfilmung von 1963

Die Halbwüchsigen-Kolonie erinnert an William Goldings mehrfach verfilmten Roman Lord of the Flies (1954). Bei Golding stranden britische Jugendliche auf einer pazifischen Insel und errichten dort bald ein Terrorregime. Die pessimistische Botschaft des Romans: Der Mensch ist eine Bestie, und selbst bestens erzogene britische Jünglinge werden zu Ungeheuern, wenn die normalen gesellschaftlichen Normen wegfallen. Der Roman kann in diesem Sinne als eine Art Radikaldystopie verstanden werden: Es braucht gar keinen Big Brother oder eine übermächtige Partei, um ein Schreckensregime zu errichten. Die Protagonisten des Romans besorgen das alleine – notabene vor dem Hintergrund eines Südseeparadieses.

Verglichen mit Lord of the Flies erscheint The Maze Runner als regelrechte Utopie. Zwar deutet Alby, der unbestrittene Anführer an, dass es in der Vergangenheit nicht immer so friedlich zu und her ging, mittlerweile scheinen die Bewohner der Glade aber eingesehen zu haben, dass sie nur durch Kooperation weiterkommen. So gibt es zwar kleine Rivalitäten und Rangeleien, insgesamt funktioniert das Gemeinwesen aber recht gut. Und es finden sich die üblichen utopischen Elemente wieder. Da wäre einmal ein radikaler Neuanfang. Das unausgesprochene Problem der meisten Utopien ist bekanntlich, wie man mit all den Menschen verfahren soll, die noch im degenerierten vor-utopischen System aufgewachsen sind und denen die richtige utopische Gesinnung fehlt. Die Antwort von Maze Runner: Indem man auch hier Tabula rasa macht und jede Erinnerung an die Vergangenheit auslöscht. Darin zeigt sich auch die für Utopie und Dystopie gleichermassen typische Geschichtslosigkeit.2  Weitere altbekannte Details sind die zentrale Organisation und Güterverteilung (eine Gesellschaft ohne Geld!) sowie gemeinsame Speise- und Wohnbereiche.

Die utopische Ordnung der Glade ruht auf mehreren Pfeilern: Zum einen sorgt der Fahrstuhl für den Nachschub lebenswichtiger Güter. Die Jungen-Kolonie scheint stets so gut versorgt zu sein, dass kein Kampf ums Essen stattfinden muss, zugleich herrscht aber auch kein Überfluss, der dazu führen könnte, dass jemand mehr besitzt. Die unsichtbaren Herrscher über Fahrstuhl und Labyrinth sind hier ganz und gar utopische Herrscher, die dafür sorgen, dass alle echten Bedürfnisse befriedigt werden.

Unbestrittener Anführer der Gemeinschaft ist Alby, der als erster mit dem Fahrstuhl nach oben geschickt wurde und einen ganzen Monat alleine überleben musste. Obwohl Probleme in der Gruppe diskutiert werden, ist er es am Ende, der kraft seiner Seniorität beschliesst, was zu tun ist. Was die Gemeinschaft zusätzlich zusammenhält, ist die Hoffnung, dereinst aus dem Labyrinth zu finden.

Da eine funktionierende Jungen-Utopie kein Thema für ein Film wäre, werden diese drei stützenden  Faktoren im Laufe des Films nach und nach ausser Kraft gesetzt: Nach der Ankunft von Thomas kommt der Fahrstuhl nur noch einmal nach oben. Dieses Mal mit einer jungen Frau sowie der Nachricht, dass dies die letzte Lieferung war.3

Kurz darauf erfährt Thomas, den es natürlich ins Labyrinth zieht, dass die Runner den Irrgarten längst abgelaufen haben – ohne einen Ausgang zu finden. Die Hoffnung auf Flucht war somit umsonst. Und schliesslich stirbt Alby. Die Folge: Ein Streit um das weitere Vorgehen und schliesslich um die Führerschaft.

Die Szene, in der Alby Thomas offenbart, dass er und die Runner schon lange wissen, dass es keinen Ausweg aus dem Labyrinth gibt, erinnert an das Konzept der edlen Lüge bei Plato. In dessen Politeia bedient sich die herrschende Philosophenkaste bei verschiedenen Gelegenheiten der Lüge, um die Bürger zu lenken. So wird etwa Paaren vorgegaukelt, dass sie durch einen göttlicher Zufall zusammengeführt wurden, in Wirklichkeit wurden sie von den Herrschern nach Zuchtkriterien ausgewählt. Es gibt nach Plato Situationen, in denen der weise Herrscher das Volk belügen muss, um den richtigen Entscheid umsetzen zu können. Offensichtlich ist Alby ebenso der Meinung, dass er im Interesse der Gemeinschaft handelt, wenn er geheim hält, dass es keinen Ausweg gibt (dass Thomas dann doch einen Ausgang finden wird, versteht sich von selbst).

Gally will die bestehende Ordnung aufrecht erhalten

Gally will die bestehende Ordnung aufrecht erhalten

Alby scheint davon überzeugt, dass die Gemeinschaft ohne die Hoffnung auf Rettung nicht funktionieren kann, allzu viel Zeit wendet der Film für dieses moralische Dilemma allerdings nicht auf. Auch Gallys Motivation, der nach Albys Tod zum Gegenspieler Thomas’ wird, wird nicht gross ausgeleuchtet. Dabei ist dessen Handeln durchaus nachvollziehbar. Denn bis zu Thomas’ Ankunft war das Leben in der Glade ja ganz angenehm; Thomas aber scheint die Ordnung aus dem Gleichewicht zu bringen. Mit dem Ergebnis, dass die Grievers in der Nacht die Glade heimsuchen. Die klassische Utopie ist statisch und ihr natürlicher Feind ist der Utopist, der eine neue Ordnung herbeiführen will – in diesem Falle Thomas, dem es gelingt, einen Griever zu zerstören. Es ist nur konsequent, dass Gally, der an Albys Ordnung glaubt, auf dem Status quo beharrt.

Und tatsächlich behält Gally Recht: Die zerstörte Welt, welche die wenigen Überlebenden am Ende des Films betreten, scheint in jeder Hinsicht schlechter als die Oase der Glade. Aber wir können wohl davon ausgehen, dass am Ende der Trilogie dann doch ein bessere Welt auf die Labyrinthläufer warten wird.

  1. Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie leidet, sollte die entsprechenden Einträge somit besser meiden.[]
  2. Paradigmatisch hierfür ist Nineteen Eighty-Four, wo die regierende Partei laufend die Geschichtsschreibung an die Gegenwart anpasst. Aber auch Utopien interessieren sich nicht sonderlich für die Vergangenheit, denn diese ist bloss eine minderwertige Vorstufe der bestehenden Gesellschaft und deshalb für die Gegenwart kaum noch von Relevanz. Mit der Errichtung der Utopie kommt die Geschichte an ihr Ende; «and if for many of us Utopia is grasped as political fulfillment of history, we tend to overlook an ‹end of history› internal to the Utopian texts» (Fredric Jameson: Archaeologies of the Future: The Desire Called Utopia and Other Science Fictions. London/New York 2007, 186).[]
  3. Die Figur von Teresa offenbart eine prüde Schwachstelle des Films: Sex ist in dieser Welt kein Thema. Es wäre ja durchaus interessant, wie eine Gruppe Jugendlicher, die alle voll im pubertären Saft stehen, mit ihren Trieben umgeht. Das Thema wird aber nicht einmal angedeutet. Und obwohl die Ankunft Teresas für Aufruhr sorgt, sind körperliche Begierden auch hier kein Thema. Für einen Moment dachte ich ja, dass die Nachricht, dass mit Teresa die letzte Lieferung erfolgt sei, als Aufforderung zu verstehen sei, dass sich die Gemeinschaft nun selber fortpflanzen müsse. Aber da habe ich den Film offensichtlich überschätzt.[]

«Weltraumforschung ist eine Erdwissenschaft»

Gibt es zeitgenössische Utopien? Literarische Entwürfe einer besseren Gesellschaft, die man auch nur halbwegs ernst nehmen kann? Utopien, die sich der problematischen Geschichte der Gattung bewusst sind, etwa ihrer Tendenz zu totalitären Systemen? Kann ein vernünftiger Mensch heute überhaupt noch Utopien schreiben, oder befinden wir uns – wie es Linke oft beklagen und Konservative jubelnd verkünden – in einem post-utopischen Zeitalter?

Als wir diese Frage kürzlich an der SF/F Now in Warwick diskutierten und uns den Kopf zerbrachen, wer heute als utopischer Autor gelten kann, fiel sehr schnell der Name Kim Stanley Robinson. Und er blieb der einzige.

Bislang habe ich zwar nur zwei Romane Robinsons gelesen habe: Red Mars und Green Mars, die ersten beiden Bände der Mars-Trilogie. Aber diese beiden Bücher reichen, um zu erkennen, dass Robinson eine Ausnahmeerscheinung ist – in der Science Fiction, aber auch innerhalb der zeitgenössischen Literatur.

Red Mars

Green Mars Mars
Blue MarsDie Mars-Trilogie

Die Mars-Bücher beschreiben die Besiedlung des roten Planeten, beginnend in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts. Sie tun dies mit einer unerhörten Detailversessenheit; Robinson kann seitenlang über die Geologie des Mars oder Flechten und Algen schreiben. Das ist oft erschlagend, nicht selten nervtötend, aber dennoch stets auf eine eigenartige Weise faszinierend (Veronica Hollinger hat es in Warwick schön formuliert: «Even when Robinson is tedious, he’s great.»). Denn der Effekt dieses Verfahrens ist, dass die Bücher nicht wie typische SF wirken, sondern wie eine plausible Beschreibung. So könnte eine Kolonisierung des Mars tatsächlich ablaufen.

Nun ist Plausibilität keineswegs notwendig für gute SF, für Robinsons Projekt ist sie aber eine wichtige Voraussetzung. Denn nur dank ihrer ausgeprägten realistischen Grundierung können die Mars-Romane als glaubhafte Utopien funktionieren. Und genau darum geht es Robinson: Durchzuspielen, wie der Versuch, eine bessere Gesellschaft zu errichten, vonstatten gehen könnte. Das geschieht stets mit dem Bewusstsein, dass jede Utopie am Ende scheitern muss, auch im besten Fall nur teilweise umgesetzt werden kann, dass es keine Reissbrett-Lösungen gibt, dass die Realität immer komplizierter ist.

Entsprechend gross war deshalb meine Freude, als ich erfuhr, dass dieser letzte Utopist für eine Lesung nach Zürich kommt. Und sie stieg fast ins Grenzenlose, als ich die Gelegenheit zu einem längeren Gespräch mit Robinson erhielt. Im Folgenden Auszüge daraus, mit ganz herzlichem Dank an Philipp Theisohn, der das Treffen eingefädelt hat.1

Kim Stanley Robinson, Sie haben ursprünglich Literatur studiert. Ihre Romane offenbaren aber ein grosses Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen. Haben Sie ein naturwissenschaftliches Studium je ernsthaft in Betracht gezogen?

Nein, nie. Ich bin mathematisch nicht sonderlich begabt, und letztlich stand für mich immer die Literatur im Vordergrund. Wenn ich nicht Literatur studiert hätte, dann am ehesten Archäologie, Ethnologie, Geologie oder eine andere Erdwissenschaft. Archäologie fasziniert mich noch immer. Die Verbindung von Naturwissenschaft und Geschichte und vor allem das Interpretieren von Objekten, also von Hinweisen, die nicht textlicher Natur sind. Ich liebe es, Ausgrabungsstätten zu besuchen. Meine Reisen nach Kreta und Orkney, zwei Inseln mit vielen Ausgrabungen, gehören zu den metaphysischen Erfahrungen meines Lebens.

Sie haben Ihr Studium mit einer Dissertation über Philip K. Dick abgeschlossen.2 Das überrascht auf den ersten Blick. Dick und Sie erscheinen wie zwei Pole auf dem SF-Spektrum.

Das war ursprünglich die Idee von Fredric Jameson, meinem Betreuer. Ich hatte SF als Genre ungefähr ein Jahr vorher entdeckt und wollte etwas dazu machen. Jameson, der heute als einer der führenden linken US-Intellektuellen gilt, war damals ein junger Professor. Er beschäftigte sich bereits zehn Jahre mit SF und schlug mir vor, dass ich zu Dick arbeiten sollte. Ich kannte damals nur Galactic Pot-Healer, einen von Dicks kürzeren Romanen. Ziemlich schludrig geschrieben und recht bizarr, aber durchaus interessant. Dick hat eine Zeit lang unglaublich viele Romane geschrieben. Oft für lächerliche Gagen wie 1500 Dollar. Er ging dabei von bestehenden Kurzgeschichten aus und schrieb nicht selten innerhalb von zwei Wochen einen Roman. Dazu schluckte er Amphetamine. Manchmal war das Ergebnis überzeugend, manchmal nicht. Nur wenige seiner Romane sind wirklich sorgfältig ausgearbeitet, etwa The Man in the High Castle und Valis.

Inwiefern hat Dick Ihr Schreiben beeinflusst?

Ich hatte kürzlich ein interessantes Gespräch mit dem Schriftsteller Jonathan Lethem zur Frage, was Dick für uns bedeutet (online verfügbar). Lethem ist an Dicks Surrealismus interessiert, am Zusammenbrechen der Realität. Für mich stehen dagegen andere Dinge im Vordergrund. Inhaltlich ist das vor allem die Figur des kleinen Mannes als Held. Daneben ist aber auch die Struktur wichtig, das Wechseln der Perspektive von Szene zu Szene. Diese Technik eignet sich sehr gut, um dreidimensionale Protagonisten zu entwerfen, denn man sieht die Figuren sowohl von innen wie von aussen. Dick hat dieses Verfahren natürlich nicht erfunden, aber er setzt es konsequent ein. Und ich habe es von ihm übernommen und nutze es seither.

In Ihrer Dissertation stützen Sie sich unter anderem auf den SF-Theoretiker Darko Suvin, der im Verfahren der Verfremdung das entscheidende Moment der SF sieht.3 Wenn man Ihre Romane betrachtet, scheint diese Einschätzung nicht unbedingt zuzutreffen. In der Mars-Trilogie machen Sie im Grunde das Gegenteil. Der rote Planet erscheint nicht als etwas Fremdes, sondern vielmehr als alltäglich. Die Bücher fühlen sich eher wie realistische Romane an. Müsste man in Ihrem Fall nicht von Naturalisierung oder Normalisierung sprechen?

Mein Vorgehen ist in der Tat, dass ich Dinge, die fremd erscheinen sollten, als normal präsentiere. Von einem Roman über den Mars erwartet man, dass dort alles anders ist. Und dann liest man das Buch und merkt: Mein Gott, das geht ja um mich. Suvin spricht nur von einer Hälfte der SF. SF muss eine Art stereoskopischen Effekt erzeugen wie bei einer 3D-Brille. Die eine Linse schaut nach vorne und spricht über die Zukunft, während die andere die Gegenwart beschreibt. Es braucht beide Linsen, damit die SF ihren charakteristischen 3D-Effekt erzeugen kann. Der SF-Forscher Roger Luckhurst hat im Zusammenhang mit meinen Romanen den Ausdruck «proleptischer Realismus», also vorausschauender Realismus, gebraucht, den ich sehr passend finde.4 Ich sehe mich durchaus in der Tradition des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts; Autoren wie Balzac, die versuchten, die gesamte Gesellschaft abzubilden, und auch politisch Position bezogen.

Christianopolis

Christianopolis von Johann Valentin Andreae von 1619

Viele Ihrer Romane stehen zudem in der utopischen Tradition und verhandeln die Frage, wie eine bessere Gesellschaft aussehen könnte. In den Mars-Romanen gibt es zahlreiche Anspielungen auf die Klassiker der utopischen Literatur; etwa die Siedlung Christianopolis, benannt nach einer Utopie des frühen 17. Jahrhunderts, oder eine andere namens Fourier, in Anlehnung an den französischen Frühsozialisten und Utopisten. Sehen Sie sich selbst als Utopisten?

Ich bin SF-Autor, kehre aber immer wieder zur Utopie zurück. Das hängt mit den Inhalten zusammen, die mich interessieren, aber auch mit formalen Fragen. Mittlerweile würde ich mich als utopischen SF-Schriftsteller bezeichnen. Ich bin diesbezüglich eine Ausnahme. Viele Autoren schreiben in ihrem Leben nur eine einzige Utopie und lassen die Gattung dann hinter sich.

Haben Sie sich je systematisch mit der Geschichte der literarischen Utopie beschäftigt?

Als ich Pacific Edge schrieb, habe ich mich sehr intensiv mit der Gattung befasst, begonnen bei Plato und Morus. Pacific Edge war mein erster Versuch einer realistischen Utopie. Meine Leitfrage war, wie ein glaubhaftes utopisches Kalifornien in 50 Jahren aussehen könnte. Zugleich war vieles durch die beiden vorhergehenden Kalifornien-Romane The Wild Shore und The Gold Coast vorbestimmt. Das Ergebnis ist ein seltsames Biest, definitiv nicht eines meiner besten Bücher. Es führte aber direkt zu den Mars-Romanen. Ich war mit Pacific Edge unzufrieden und versuchte dann, das Problem einer glaubhaften Utopie mit der Mars-Trilogie zu lösen. Eines der Bücher, das mir dabei half, war H. G. Wellsʼ A Modern Utopia von 1905. Wells spricht in der Einleitung davon, dass eine moderne Utopie dynamisch sein müsse, da das klassische statische Modell nicht mehr funktioniert.5

In der Utopieforschung wird immer wieder diskutiert, ob eine Utopie ernst gemeint sein muss. Ist die Utopie wirklich als Anleitung für eine bessere Gesellschaft gedacht oder dient sie primär als kritische Reflexion der Gegenwart. Zumindest im Falle von Morusʼ Utopia dürfte Letzteres der Fall sein. Wo situieren Sie sich in dieser Diskussion?

Ich habe kein Problem damit, wenn man meine Romane als Bauplan für eine bessere Welt versteht. Sie sind nicht bloss als Kritik oder Zerrspiegel gedacht. Ich bringe darin meine Überzeugung zum Ausdruck, dass wir in einer besseren Welt leben könnten, wenn wir manche Dinge anders machen würden.

Ich glaube nicht, dass sich viele zeitgenössische Schriftsteller trauen, so etwas offen zu sagen.

Das ist mir bewusst, und ich fühle mich auch seltsam dabei. In ästhetischer Hinsicht ist mein Schaffen merkwürdig. Es gibt ein weit verbreitetes Verständnis von Literatur, das besagt, dass jemand, der so explizit und so explizit politisch schreibt wie ich, künstlerisch etwas falsch machen muss. Dazu kann ich nur sagen: Dem mag so sein, aber es ist nun mal meine Art zu schreiben. Ich habe hier so etwas wie eine ökologische Nische gefunden und die Leute reagieren positiv darauf.

Kim Stanley Robinson

Robinson liest am Loncon.

Desmond, besser bekannt als Coyote, sagt an einer Stelle in Green Mars Folgendes: «Anyone can agree things should be fair, and the world just. The way to get there is always the real problem.» Wäre es übertrieben zu sagen, dass dies der Kern ist, um den sich ein Grossteil Ihrer Bücher dreht.

Das stimmt durchaus. In diesem Punkt widerspreche ich übrigens meinem Lehrer Fredric Jameson. Jameson hat in einem oft zitierten Artikel 6  argumentiert, dass wir letztlich gar nicht in der Lage sind, uns eine Utopie vorzustellen. Dabei ist es die einfachste Sache der Welt, ein utopisches System zu beschreiben: Die Ärmsten sind ausreichend versorgt sind und die Reichen besitzen nur zehn mal mehr als die Ärmsten. Dafür reicht ein Satz. Was wir uns dagegen nicht vorstellen können, ist, wie wir dorthin gelangen. Dazu sieht unsere aktuelle Situation zu verfahren aus, entwickeln sich zu viele Dinge in die falsche Richtung. Hinzu kommt, dass im Spätkapitalismus die Vorstellung des Menschen als habgieriges, gewinnsüchtiges, kompetitives und betrügerisches Wesen vorherrscht. – Ich habe die 1960er Jahre erlebt, als wir noch an die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Revolution glaubten. In den 1980ern krachten wir aber gegen eine Wand. Damals wurde unser Glaube an eine Revolution und an die Möglichkeit, dass sich die Dinge schnell zum Guten wenden würden, zerstört. Wie geht man nun damit um, wenn man den Glauben an die Revolution verloren hat, aber nach wie vor an Utopien festhält? Dann muss man sich eben überlegen, was dennoch funktionieren könnte. Und deshalb erzähle ich Geschichte um Geschichte und erfinde immer neue Varianten, wie es klappen könnte.

In der Utopie steht typischerweise die soziale Organisation und nicht das Individuum im Vordergrund; im Zentrum steht die Frage, wie eine Gesellschaft organisiert sein sollte. Das gilt zwar auch für Ihre Romane, zugleich geht es aber immer auch um Einzelfiguren. Die Geschichte des Mars würde sich anders entwickeln, wenn nicht John Boone oder Ann Clayborne an entscheidenden Momenten eingriffen. Ist das durch die Form des Romans gegeben oder hängen politische und soziale Entwicklungen am Ende doch stark von Individuen ab.

Das ist eine interessante Frage. Die Form ist zweifellos wichtig. Ein Roman braucht Figuren, und als Autor bemühe ich mich darum, dass sie exemplarisch für etwas stehen. Es geht nicht nur um John, Ann oder Frank, sondern um die Standpunkte, welche diese Figuren repräsentieren. Zugleich bin ich überzeugt, dass es keine übermenschlichen historischen Kräfte gibt, sondern nur Ansammlungen von Menschen. Diese Menschen sind zwar durch ihre jeweilige Kultur und ihre Umgebung geprägt, sie treffen aber dennoch individuelle Entscheide. Ich denke, dass es durchaus Situationen gibt, in denen ein einzelner Mensch ausschlaggebend sein kann. Wie in The Man in the High Castle: Nobusuke Tagomi ist ein kleiner Bürokrat, aber es kommt zu einer Situation, in der das, was er tut, wichtig wird. Vielleicht ist das nur die Sichtweise eines Romanautors, aber der Einzelne ist keineswegs komplett unbedeutend. Wir beide machen zusammen zwei Siebenmilliardstel der Menschheit aus. Das scheint wenig, es ist aber nicht nichts. Meine Frau arbeitet als Chemikerin ständig mit so kleinen Einheiten. Der milliardste Teil kann entscheidend sein; er kann tödlich sein oder impfend wirken.

Der Mars ist seit einiger Zeit wieder in den Medien. Halten Sie es für sinnvoll, zum Mars zu reisen, lohnt sich der Aufwand?

Der Aufwand würde sich wohl nur knapp lohnen. Es wäre zweifellos eine interessante technische Aufgabe, von der man einiges lernen könnte. Unsere grössten Herausforderungen sind aber hier auf der Erde: der Klimawandel und des Etablieren einer Permakultur, die ökologisch und sozial nachhaltig ausgerichtet ist. Der Mars könnte dabei als Vergleichswert sinnvoll sein, denn es handelt sich um einen giftigen, unbewohnbaren Planeten; quasi als Teil einer vergleichenden Planetologie. Weltraumforschung ist letztlich ja immer eine Erdwissenschaft. Aber die Besiedelung des Mars hat sicher keine Priorität. Der Mars wird uns nicht retten, wie manche behaupten.

Es gibt verschiedene Szenarien, wie man zum Mars reisen könnte, unter anderem das private Mars-One-Projekt.

Mars One ist Unsinn, den Leuten wird etwas vorgegaukelt. Ich weiss nicht, ob die Initianten auch sich selbst etwas vormachen, aber im Grunde ist es Betrug. Zu viele technische Fragen sind noch nicht gelöst.

Wenn es die Möglichkeit gäbe, zum Mars zu reisen – und ich spreche nicht von der berühmten Reise ohne Retourticket –, würden Sie sie wahrnehmen?

Das wäre primär eine Frage des Zeitaufwands. Mit dem heutigen Stand der Technik müssen wir von rund fünf Jahren ausgehen. Das ist mir zu lange. Ich habe zu viele Verpflichtungen hier. Aber nehmen wir mal an, es wären nur je zwei Wochen Hin- und Rückflug nötig, um einen Monat auf dem Mars zu verbringen – ich wäre sofort dabei. Wer würde das nicht wollen?

  1. Robinsons Lesung fand im Rahmen des von Philipp Theisohn geleiteten Forschungsprojekt Conditio extraterrestis statt.[]
  2. Kim Stanley Robinson: The Novels of Philip K. Dick. Ann Arbor 1984. Auf Deutsch verfügbar als:Die Romane des Philip K. Dick. Eine Monographie. Berlin 2005.[]
  3. Siehe zur Verfremdung auch meinen Artikel: «Der Begriff der Verfremdung in der Science-Fiction-Theorie. Ein Klärungsversuch». In: Quarber Merkur. Franz Rottensteiners Literaturzeitschrift für Science Fiction und Phantastik. Nr. 103/104, 2006, 13-40. Erhältlich hier.[]
  4. Roger Luckhurst: «The Politics of the Network: The Science in the Capital Trilogy». In: Burling, William J. (Hg.): Kim Stanley Robinson Maps the Unimaginable. Critical Essays. Jefferson/London 2009, 170–180.[]
  5. Wells schreibt Folgendes in der Einleitung: «The Utopia of a modern dreamer must needs differ in one fundamental aspect from the Nowheres and Utopias men planned before Darwin quickened the thought of the world. Those were all perfect and static States, a balance of happiness won for ever against the forces of unrest and disorder that inhere in things. […] Change and development were dammed back by invincible dams for ever. But the Modern Utopia must be not static but kinetic, must shape not as permanent state but as a hopeful stage, leading to a long ascent of stages. Nowadays we do not resist and overcome the great stream of things, but rather float upon it» (H. G. Wells: Tono-Bungay and A Modern Utopia. London 1908, S. 315).[]
  6. Fredric Jameson: «Progress Versus Utopia; Or, Can We Imagine the Future?». In: Science Fiction Studies. Jg. 9.2, Nr. 27, 1982, 147–168. Erhältlich hier.[]