Leif Randt: Planet Magnon

Er­schie­nen im Quar­ber Mer­kur 116.

Das Über­ra­schends­te an Leif Randts Pla­net Ma­gnon ist wohl die Tat­sa­che, dass der Autor die Tra­di­ti­on der li­te­ra­ri­schen Uto­pie nach ei­ge­ner Aus­sa­ge bes­ten­falls flüch­tig kennt. Das ist er­staun­lich, denn Randts zwei­ter Roman er­scheint über weite Stre­cken wie ein äu­ßerst re­flek­tier­tes Spiel mit den Bau­stei­nen der uto­pi­schen Tra­di­ti­on.

Schau­platz des Ro­mans ist ein al­ter­na­ti­ves Son­nen­sys­tem, das von einem be­ne­vo­len­ten Dik­ta­tor, einer künst­li­chen In­tel­li­genz na­mens Ac­tu­al­Sa­ni­ty, ge­steu­ert wird. Ac­tu­al­Sa­ni­ty ist eine Art Su­per-Goog­le der Zu­kunft, das die Daten aller Men­schen er­fasst und diese zu ihrem Wohle ein­setzt. Po­li­tik, Wirt­schaft und Städ­te­bau wer­den durch Ac­tu­al­Sa­ni­ty kon­trol­liert, und das durch­aus mit Er­folg: Armut, Krank­heit und Kri­mi­na­li­tät ge­hö­ren eben­so weit­ge­hend der Ver­gan­gen­heit an wie die ne­ga­ti­ven Be­gleit­erschei­nun­gen des Al­terns. Es herr­schen durch­aus uto­pi­sche Zu­stän­de, wobei kei­nes­wegs immer klar ist, wo die künst­li­che In­tel­li­genz über­all ihre Fin­ger mit im Spiel hat.

23899761Gut zwei Drit­tel der Be­woh­ner die­ses Son­nen­sys­tems sind in so­ge­nann­ten »Po­pu­lä­ren Kol­lek­ti­ven« or­ga­ni­siert, deren Ideo­lo­gi­en sich teil­wei­se stark un­ter­schei­den. Im Zen­trum des Ro­mans steht das Dol­fin-Kol­lek­tiv, dem die Haupt­fi­gur Mar­ten Eliot an­ge­hört. Die Dol­fins zeich­nen sich durch eine Art post-post­mo­der­ner Cool­ness aus. Die Mit­glie­der des Kol­lek­tivs stre­ben einen »post­prag­ma­ti­schen Schwe­be­zu­stand« an, »in dem Rau­scher­fah­rung und Nüch­tern­heit, Selbst- und Fremd­be­ob­ach­tung, Pflicht­er­fül­lung und Zer­streu­ung ihre schein­ba­re Wi­der­sprüch­lich­keit« ver­lie­ren. Ge­füh­le im tra­di­tio­nel­len Ver­ständ­nis sind kei­nes­wegs tabu, wer­den aber wie alles an­de­re auch mit einem ra­tio­nal-küh­len In­ter­es­se be­trach­tet. Man könn­te die­sen Zu­stand ab­ge­klärt-dis­tan­zier­ten Ge­nie­ßens viel­leicht mit dem bud­dhis­ti­schen Kon­zept des Nir­wa­nas ver­glei­chen. Etwas pro­sai­scher aus­ge­drückt ist das Ideal der Dol­fins gar nicht so weit von dem ent­fernt, was in ge­wis­sen ur­ba­nen Sze­nen der west­li­chen Wohl­stands­welt be­reits ge­lebt wird. Es geht um einen Ges­tus des iro­nisch-hei­te­ren Ken­nen-wir-schon, ge­wis­ser­ma­ßen um ein po­ten­zier­tes Hips­ter­tum.

Seit Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts macht die Gat­tung der Uto­pie eine Ent­wick­lung durch, die der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Hans Ul­rich See­ber als »Selbst­kri­tik der Uto­pie« be­zeich­net. Den An­fang ma­chen dabei Dys­to­pi­en wie Je­w­ge­nij Samja­tins Wir (1921) oder Ge­or­ge Or­wells Ni­n­e­teen-Eigh­ty­four (1949), die den kol­lek­ti­ven An­satz der klas­si­schen Uto­pie in Frage stel­len und statt­des­sen die Frei­heit des In­di­vi­du­ums in den Mit­tel­punkt rü­cken. Die nächs­te Stufe sind die so ge­nann­ten »kri­ti­schen Uto­pi­en« der 1960er und 1970er Jahre. Ro­ma­ne wie Ur­su­la K. Le Guins The Dis­pos­ses­sed (1974) oder Sa­mu­el R. De­la­nys Tri­ton (1976) po­si­tio­nie­ren sich zwar eben­falls kri­tisch zur klas­si­schen Uto­pie, ver­zich­ten aber nicht voll­stän­dig auf den Ent­wurf po­si­ti­ver Al­ter­na­ti­ven. Mögen ihre Ge­gen­ent­wür­fe auch un­voll­stän­dig und feh­ler­haft sein – die uto­pi­sche Hoff­nung auf bes­se­re Ver­hält­nis­se bleibt be­ste­hen.

Pla­net Ma­gnon er­scheint wie der nächs­te oder viel­leicht auch erst über­nächs­te Schritt in die­sem Evo­lu­ti­ons­pro­zess. Randt er­zählt von einer wohl tem­pe­rier­ten Welt und der Frage, ob und wie in­ten­siv der Mensch glück­lich sein will re­spek­ti­ve kann. Die Le­bens­qua­li­tät ist in sei­nem fik­tio­na­len Kos­mos so hoch, die Wi­der­stän­de des All­tags­le­ben so ge­ring, dass sich die Fra­gen, wel­che tra­di­tio­nell als Motor der Uto­pie wirk­ten – wel­ches ist die beste Re­gie­rungs­form, wie wer­den die Güter ge­recht ver­teilt, wie kann Frie­den und Ein­tracht si­cher ge­stellt wer­den? –, gar nicht erst stel­len. Wo aber kann die Uto­pie noch an­set­zen, wenn alle ma­te­ri­el­len Be­dürf­nis­se be­frie­digt sind und sich die her­kömm­li­chen öko­no­mi­schen und so­zia­len Span­nun­gen in Wohl­ge­fal­len auf­ge­löst haben? Kommt dann eine »Emo­ti­ons-Uto­pie« à la Pla­net Ma­gnon, in der das Ge­fühls­le­ben in ähn­li­cher Weise ra­tio­nal und ef­fi­zi­ent or­ga­ni­siert wird wie Ge­sell­schaft und Po­li­tik in der klas­si­schen Uto­pie? Der in Pla­net Ma­gnon ent­wor­fe­ne Kos­mos ist nicht bloß post­prag­ma­tisch, son­dern in ge­wis­sem Sinne auch pos­tu­to­pisch.

Leif Randt

Leif Randt.

Trotz aller Vor­tei­le sind nicht alle mit die­ser schö­nen neuen Welt zu­frie­den. Im Un­ter­grund hat sich das »Kol­lek­tiv der ge­bro­che­nen Her­zen«, auch »Hanks« ge­nannt, ge­bil­det, das mit ver­schie­de­nen Ak­tio­nen gegen die »fast per­fek­te Il­lu­si­on, dass es uns gut geht«, an­kämpft. Wie John Sa­va­ge in Al­dous Hux­leys Brave New World (1932) haben die Hanks das in Watte ver­pack­te Leben satt und for­dern echte Ge­füh­le, ech­ten Schmerz, kurz: »Be­wusst­sein für das ei­ge­ne Un­glück«. Die Idee, dass ein wahr­haft glück­li­ches Leben nicht ohne Un­glück zu haben ist, stellt einen Topos der dys­to­pi­schen Tra­di­ti­on dar. In der von Randt ent­wor­fe­nen Welt er­scheint diese Idee aber in einem neuen Licht. Nicht zu­letzt wirft der Roman die Frage auf, ob letzt­lich nicht auch die ge­bro­che­nen Her­zen auf die In­itia­ti­ve der Ac­tu­al­Sa­ni­ty zu­rück­ge­hen. Zeich­net sich die pos­tu­to­pi­sche Uto­pie mit an­de­ren Wor­ten also ge­ra­de da­durch aus, dass sie der Tat­sa­che Rech­nung trägt, dass jede Uto­pie in eine Dys­to­pie um­schla­gen kann, und in­iti­iert sie des­halb gleich selbst die Re­bel­li­on, die in einer Dys­to­pie ty­pi­scher­wei­se aus­bricht?

So reiz­voll die An­la­ge des Ro­mans ge­ra­de vor dem Hin­ter­grund der Ge­schich­te der li­te­ra­ri­schen Uto­pie sein mag, eine son­der­lich mit­rei­ßen­de oder span­nen­de Lek­tü­re ist Pla­net Ma­gnon den­noch nicht. Das ist teil­wei­se durch­aus ge­wollt, denn als Ich-Er­zäh­ler fun­giert der Vor­zei­ge-Dol­fin Mar­ten, des­sen Blick auf die Welt dol­fin­mä­ßig kühl und re­ser­viert ist. Al­ler­dings ist es we­ni­ger die dis­tan­zier­te Hal­tung, die den Roman etwas fade wir­ken lässt, als viel­mehr der doch eher dürf­ti­ge Plot. Auf der Suche nach dem Mäd­chen mit der Ti­ger­mas­ke, der ge­heim­nis­vol­len An­füh­re­rin der Hanks, rei­sen Mar­ten und seine Kol­le­gin Emma Glenda­le durch das Son­nen­sys­tem, bis sie – nicht ganz un­er­war­tet – auf dem Müll­pla­ne­ten Toads­tool fün­dig wer­den. Das ist in der Summe lei­der nicht son­der­lich pa­ckend und er­scheint in ers­ter Linie als Vor­wand, um alle Pla­ne­ten des Son­nen­sys­tems vor­stel­len zu kön­nen. Aber im Grun­de steht Randt auch damit fest in der uto­pi­schen Tra­di­ti­on. Schließ­lich dient der ty­pi­sche Rei­se­be­richt der klas­si­schen Uto­pie eben­falls nur als Rah­men, um die je­wei­li­ge uto­pi­sche Welt in allen De­tails zu prä­sen­tie­ren.

Leif Randt: Pla­net Ma­gnon. Kie­pen­heu­er & Witsch: Köln, 2015. 304 Sei­ten, ge­bun­den. 19,99 €. Er­hält­lich bei Ama­zon

«Demand the Impossible»

In der neuen Aus­ga­be der SFRA Re­view ist eine Re­zen­si­on von mir zu Tom Mo­ylans De­mand the Im­pos­si­ble: Sci­ence Fic­tion and the Uto­pi­an Ima­gi­na­ti­on ent­hal­ten, das ver­gan­ge­nes Jahr in der Reihe Ralahi­ne Uto­pi­an Stu­dies neu auf­ge­legt wurde. Mo­ylans 1986 erst­mals er­schie­ne­nes Buch, von dem 1990 auch eine deut­sche Über­set­zung ver­öf­fent­licht wurde,1 ge­hört mitt­ler­wei­le zu den Klas­si­kern der Uto­pie­for­schung und das darin ent­wi­ckel­te Kon­zept der kri­ti­schen Uto­pie ist fes­ter Teil des wis­sen­schaft­li­chen Vo­ka­bu­lars ge­wor­den. Ob­wohl mir Mo­ylans Über­le­gun­gen schon in di­ver­sen an­de­ren Tex­ten be­geg­net sind, muss ich zu mei­ner Schan­de ge­ste­hen, dass ich das Buch bis­her nicht ge­le­sen hatte. Die Neu­auf­la­ge war somit ein guter An­lass, diese Bil­dungs­lü­cke zu schlie­ßen.

Das Cover von «Demand the Impossible»Ich möch­te hier nicht die ganze Re­zen­si­on wie­der­ho­len, des­halb nur kurz: Mo­y­lan un­ter­sucht in De­mand the Im­pos­si­ble vier in den 1970er Jah­ren er­schie­ne­ne (Sci­ence-Fic­tion-)Ro­ma­ne, näm­lich Jo­an­na Russ’ The Fe­ma­le Man, Ur­su­la K. Le Guins The Dis­pos­ses­sed, Marge Pier­cys Woman on the Edge of Time und Sa­mu­el R. De­la­nys Tri­ton. Was diese Bü­cher ver­bin­det, ist, dass sie in Mo­ylans Augen die uto­pi­sche Tra­di­ti­on wei­ter­füh­ren und trans­for­mie­ren. Nach­dem die klas­si­sche – sta­ti­sche – Uto­pie be­reits zu Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts in eine Krise ge­ra­ten ist, wer­den uto­pi­sche To­tal­ent­wür­fe spä­tes­tens mit dem Zwei­ten Welt­krieg grund­sätz­lich ver­däch­tig. Die Idee einer um­fas­sen­den Neuen Welt­ord­nung hat zu die­sem Zeit­punkt viel von ihrer At­trak­ti­vi­tät ver­lo­ren. Hier haken die Ro­ma­ne ein, indem sie keine ab­ge­schlos­se­nen Bau­plä­ne mehr prä­sen­tie­ren, son­dern viel­mehr dy­na­mi­sche Sze­na­ri­en ent­wer­fen, die zudem in­ner­halb des Ro­mans kri­tisch hin­ter­fragt wer­den. Die Uto­pie kri­ti­siert nicht mehr nur die Ge­gen­wart, viel­mehr wird sich die Gat­tung ihrer ei­ge­nen Be­schrän­kun­gen und Pro­ble­me be­wusst und setzt sich mit die­sen aus­ein­an­der; in Mo­ylans Wor­ten – der meist­zi­tier­ten Pas­sa­ge des Buchs – klingt das so:

[a] cen­tral con­cern in the cri­ti­cal uto­pia is the awa­ren­ess of the li­mi­ta­ti­ons of the uto­pi­an tra­di­ti­on, so that these texts re­ject uto­pia as blue­print while pre­ser­ving it as a dream (10).

Das Kon­zept der cri­ti­cal uto­pia ist heute fes­ter Be­stand­teil der “of­fi­zi­el­len” Gat­tungs­ge­schich­te und wurde mitt­ler­wei­le um wei­te­re Va­ri­an­ten er­gänzt. Mo­y­lan selbst hat in Scraps Of The Un­tain­ted Sky (2000) den Be­griff der cri­ti­cal dys­to­pia hin­zu­ge­fügt.

Ein Grund, wes­halb ich bis­lang einen Bogen um Mo­ylans Buch ge­macht habe, war, dass ich einen Jar­gon-Ex­zess be­fürch­te­te. Wis­sen­schaft­li­che Klas­si­ker zeich­nen sich ja nicht sel­ten durch Un­ver­ständ­lich­keit aus, und ge­ra­de bei einem in den 1970er Jah­ren ent­stan­de­nen Buch – ob­wohl De­mand the Im­pos­si­ble 1986 er­schien, ist es, wie Mo­y­lan selbst schreibt, ein Kin­der der 1970er – ist mar­xis­tisch-kri­ti­sches Ge­schwur­bel lei­der keine Sel­ten­heit. Umso grö­ßer meine Freu­de, dass sich das Buch als er­staun­lich gut les­bar ent­pupp­te. Ins­be­son­de­re Mo­ylans Aus­füh­run­gen zur klas­si­schen Uto­pie sind er­freu­lich kom­pakt und klar; in­halt­lich lässt sich eben­falls kaum etwas aus­set­zen. Was Mo­y­lan hier schreibt, hat auch knapp 30 Jahre spä­ter noch Gül­tig­keit.

Das Cover von «The Dispossessed»Da ich von den un­ter­such­ten Ro­ma­nen ein­zig den Le Guins kenne – an The Fe­ma­le Man bin ich beim ers­ten Ver­such ge­schei­tert, vor Tri­ton habe ich Angst –, kann ich nicht allzu viel zu den ei­gent­li­chen Ana­ly­sen sagen. Grund­sätz­lich schei­nen diese aber sehr kon­zi­se. Wie ich in der Re­zen­si­on schrei­be, ist es in­ter­es­sant, dass mit The Dis­pos­ses­sed das zwei­fel­los er­folg­reichs­te der vier be­spro­che­nen Bü­cher die här­tes­te Kri­tik ein­ste­cken muss. In­wie­weit diese be­grün­det ist, dar­über kann man wohl strei­ten.

Die Neu­auf­la­ge kommt mit über hun­dert Sei­ten neuem Ma­te­ri­al daher. Davon ist nicht alles gleich auf­schluss­reich. Die Idee, dass Kol­le­gen Mo­ylans etwas zu sei­nem Buch schrei­ben, ist zwar nett, nicht alle der Bei­trä­ge tra­gen aber wirk­lich zu neuen Er­kennt­nis­sen bei. Ver­misst habe ich einen Blick nach vorne: Was ist in den fol­gen­den Jahr­zehn­ten aus der kri­ti­schen Uto­pie ge­wor­den, wo steht die Gat­tung heute? Dazu fin­det man lei­der wenig. Man kann dies damit er­klä­ren, dass sich Mo­y­lan in sei­nen  spä­te­ren Bü­chern genau die­sen Fra­gen wid­met, ein paar Aus­bli­cke wären aber den­noch an­ge­bracht ge­we­sen. Denn dass die Idee der kri­ti­schen Uto­pie wei­ter­ent­wi­ckelt wurde, scheint mir of­fen­sicht­lich. Kim Stan­ley Ro­bin­sons Mars-Ro­ma­ne etwa ste­hen ein­deu­tig in die­ser Tra­di­ti­on.

Trotz die­ser Kri­tik ist das Fazit ein­deu­tig po­si­tiv. Ein Klas­si­ker, der die­sen Titel zu­recht trägt; ein Buch, das jeder, der sich mit der Uto­pie be­schäf­tigt, ge­le­sen haben soll­te.

Aus­ga­be 311 der SFRA Re­view mit der be­sag­ten Re­zen­si­on ist auf der Web­site der Zeit­schrift er­hält­lich.

Li­te­ra­tur

Mo­y­lan, Tom: De­mand the Im­pos­si­ble. Sci­ence Fic­tion and the Uto­pi­an Ima­gi­na­ti­on. Hg. von Raf­fa­el­la Bac­co­li­ni. Ox­ford/Bern/Ber­lin 2014 (11986).
Mo­y­lan, Tom: Scraps of the Un­tain­ted Sky: Sci­ence Fic­tion, Uto­pia, Dys­to­pia. Boul­der 2000.

  1. Mo­y­lan, Tom: Das Un­mög­li­che ver­lan­gen: Sci­ence-fic­tion als kri­ti­sche Uto­pie. Ham­burg/Ber­lin: Ar­gu­ment 1990.[]

«Weltraumforschung ist eine Erdwissenschaft»

Gibt es zeit­ge­nös­si­sche Uto­pi­en? Li­te­ra­ri­sche Ent­wür­fe einer bes­se­ren Ge­sell­schaft, die man auch nur halb­wegs ernst neh­men kann? Uto­pi­en, die sich der pro­ble­ma­ti­schen Ge­schich­te der Gat­tung be­wusst sind, etwa ihrer Ten­denz zu to­ta­li­tä­ren Sys­te­men? Kann ein ver­nünf­ti­ger Mensch heute über­haupt noch Uto­pi­en schrei­ben, oder be­fin­den wir uns – wie es Linke oft be­kla­gen und Kon­ser­va­ti­ve ju­belnd ver­kün­den – in einem post-uto­pi­schen Zeit­al­ter?

Als wir diese Frage kürz­lich an der SF/F Now in War­wick dis­ku­tier­ten und uns den Kopf zer­bra­chen, wer heute als uto­pi­scher Autor gel­ten kann, fiel sehr schnell der Name Kim Stan­ley Ro­bin­son. Und er blieb der ein­zi­ge.

Bis­lang habe ich zwar nur zwei Ro­ma­ne Ro­bin­sons ge­le­sen habe: Red Mars und Green Mars, die ers­ten bei­den Bände der Mars-Tri­lo­gie. Aber diese bei­den Bü­cher rei­chen, um zu er­ken­nen, dass Ro­bin­son eine Aus­nah­me­er­schei­nung ist – in der Sci­ence Fic­tion, aber auch in­ner­halb der zeit­ge­nös­si­schen Li­te­ra­tur.

Red Mars

Green Mars Mars
Blue MarsDie Mars-Tri­lo­gie

Die Mars-Bü­cher be­schrei­ben die Be­sied­lung des roten Pla­ne­ten, be­gin­nend in der ers­ten Hälf­te des 21. Jahr­hun­derts. Sie tun dies mit einer un­er­hör­ten De­tail­ver­ses­sen­heit; Ro­bin­son kann sei­ten­lang über die Geo­lo­gie des Mars oder Flech­ten und Algen schrei­ben. Das ist oft er­schla­gend, nicht sel­ten nerv­tö­tend, aber den­noch stets auf eine ei­gen­ar­ti­ge Weise fas­zi­nie­rend (Ve­ro­ni­ca Hol­lin­ger hat es in War­wick schön for­mu­liert: «Even when Ro­bin­son is te­dious, he’s great.»). Denn der Ef­fekt die­ses Ver­fah­rens ist, dass die Bü­cher nicht wie ty­pi­sche SF wir­ken, son­dern wie eine plau­si­ble Be­schrei­bung. So könn­te eine Ko­lo­ni­sie­rung des Mars tat­säch­lich ab­lau­fen.

Nun ist Plau­si­bi­li­tät kei­nes­wegs not­wen­dig für gute SF, für Ro­bin­sons Pro­jekt ist sie aber eine wich­ti­ge Vor­aus­set­zung. Denn nur dank ihrer aus­ge­präg­ten rea­lis­ti­schen Grun­die­rung kön­nen die Mars-Ro­ma­ne als glaub­haf­te Uto­pi­en funk­tio­nie­ren. Und genau darum geht es Ro­bin­son: Durch­zu­spie­len, wie der Ver­such, eine bes­se­re Ge­sell­schaft zu er­rich­ten, von­stat­ten gehen könn­te. Das ge­schieht stets mit dem Be­wusst­sein, dass jede Uto­pie am Ende schei­tern muss, auch im bes­ten Fall nur teil­wei­se um­ge­setzt wer­den kann, dass es keine Reiss­brett-Lö­sun­gen gibt, dass die Rea­li­tät immer kom­pli­zier­ter ist.

Ent­spre­chend gross war des­halb meine Freu­de, als ich er­fuhr, dass die­ser letz­te Uto­pist für eine Le­sung nach Zü­rich kommt. Und sie stieg fast ins Gren­zen­lo­se, als ich die Ge­le­gen­heit zu einem län­ge­ren Ge­spräch mit Ro­bin­son er­hielt. Im Fol­gen­den Aus­zü­ge dar­aus, mit ganz herz­li­chem Dank an Phil­ipp Thei­sohn, der das Tref­fen ein­ge­fä­delt hat.1

Kim Stan­ley Ro­bin­son, Sie haben ur­sprüng­lich Li­te­ra­tur stu­diert. Ihre Ro­ma­ne of­fen­ba­ren aber ein gros­ses In­ter­es­se an na­tur­wis­sen­schaft­li­chen Fra­gen. Haben Sie ein na­tur­wis­sen­schaft­li­ches Stu­di­um je ernst­haft in Be­tracht ge­zo­gen?

Nein, nie. Ich bin ma­the­ma­tisch nicht son­der­lich be­gabt, und letzt­lich stand für mich immer die Li­te­ra­tur im Vor­der­grund. Wenn ich nicht Li­te­ra­tur stu­diert hätte, dann am ehes­ten Ar­chäo­lo­gie, Eth­no­lo­gie, Geo­lo­gie oder eine an­de­re Erd­wis­sen­schaft. Ar­chäo­lo­gie fas­zi­niert mich noch immer. Die Ver­bin­dung von Na­tur­wis­sen­schaft und Ge­schich­te und vor allem das In­ter­pre­tie­ren von Ob­jek­ten, also von Hin­wei­sen, die nicht text­li­cher Natur sind. Ich liebe es, Aus­gra­bungs­stät­ten zu be­su­chen. Meine Rei­sen nach Kreta und Or­kney, zwei In­seln mit vie­len Aus­gra­bun­gen, ge­hö­ren zu den me­ta­phy­si­schen Er­fah­run­gen mei­nes Le­bens.

Sie haben Ihr Stu­di­um mit einer Dis­ser­ta­ti­on über Phi­lip K. Dick ab­ge­schlos­sen.2 Das über­rascht auf den ers­ten Blick. Dick und Sie er­schei­nen wie zwei Pole auf dem SF-Spek­trum.

Das war ur­sprüng­lich die Idee von Fred­ric Ja­me­son, mei­nem Be­treu­er. Ich hatte SF als Genre un­ge­fähr ein Jahr vor­her ent­deckt und woll­te etwas dazu ma­chen. Ja­me­son, der heute als einer der füh­ren­den lin­ken US-In­tel­lek­tu­el­len gilt, war da­mals ein jun­ger Pro­fes­sor. Er be­schäf­tig­te sich be­reits zehn Jahre mit SF und schlug mir vor, dass ich zu Dick ar­bei­ten soll­te. Ich kann­te da­mals nur Ga­lac­tic Pot-Hea­ler, einen von Dicks kür­ze­ren Ro­ma­nen. Ziem­lich schlud­rig ge­schrie­ben und recht bi­zarr, aber durch­aus in­ter­es­sant. Dick hat eine Zeit lang un­glaub­lich viele Ro­ma­ne ge­schrie­ben. Oft für lä­cher­li­che Gagen wie 1500 Dol­lar. Er ging dabei von be­ste­hen­den Kurz­ge­schich­ten aus und schrieb nicht sel­ten in­ner­halb von zwei Wo­chen einen Roman. Dazu schluck­te er Am­phet­ami­ne. Manch­mal war das Er­geb­nis über­zeu­gend, manch­mal nicht. Nur we­ni­ge sei­ner Ro­ma­ne sind wirk­lich sorg­fäl­tig aus­ge­ar­bei­tet, etwa The Man in the High Cast­le und Valis.

In­wie­fern hat Dick Ihr Schrei­ben be­ein­flusst?

Ich hatte kürz­lich ein in­ter­es­san­tes Ge­spräch mit dem Schrift­stel­ler Jo­na­than Le­them zur Frage, was Dick für uns be­deu­tet (on­line ver­füg­bar). Le­them ist an Dicks Sur­rea­lis­mus in­ter­es­siert, am Zu­sam­men­bre­chen der Rea­li­tät. Für mich ste­hen da­ge­gen an­de­re Dinge im Vor­der­grund. In­halt­lich ist das vor allem die Figur des klei­nen Man­nes als Held. Da­ne­ben ist aber auch die Struk­tur wich­tig, das Wech­seln der Per­spek­ti­ve von Szene zu Szene. Diese Tech­nik eig­net sich sehr gut, um drei­di­men­sio­na­le Prot­ago­nis­ten zu ent­wer­fen, denn man sieht die Fi­gu­ren so­wohl von innen wie von aus­sen. Dick hat die­ses Ver­fah­ren na­tür­lich nicht er­fun­den, aber er setzt es kon­se­quent ein. Und ich habe es von ihm über­nom­men und nutze es seit­her.

In Ihrer Dis­ser­ta­ti­on stüt­zen Sie sich unter an­de­rem auf den SF-Theo­re­ti­ker Darko Suvin, der im Ver­fah­ren der Ver­frem­dung das ent­schei­den­de Mo­ment der SF sieht.3 Wenn man Ihre Ro­ma­ne be­trach­tet, scheint diese Ein­schät­zung nicht un­be­dingt zu­zu­tref­fen. In der Mars-Tri­lo­gie ma­chen Sie im Grun­de das Ge­gen­teil. Der rote Pla­net er­scheint nicht als etwas Frem­des, son­dern viel­mehr als all­täg­lich. Die Bü­cher füh­len sich eher wie rea­lis­ti­sche Ro­ma­ne an. Müss­te man in Ihrem Fall nicht von Na­tu­ra­li­sie­rung oder Nor­ma­li­sie­rung spre­chen?

Mein Vor­ge­hen ist in der Tat, dass ich Dinge, die fremd er­schei­nen soll­ten, als nor­mal prä­sen­tie­re. Von einem Roman über den Mars er­war­tet man, dass dort alles an­ders ist. Und dann liest man das Buch und merkt: Mein Gott, das geht ja um mich. Suvin spricht nur von einer Hälf­te der SF. SF muss eine Art ste­reo­sko­pi­schen Ef­fekt er­zeu­gen wie bei einer 3D-Bril­le. Die eine Linse schaut nach vorne und spricht über die Zu­kunft, wäh­rend die an­de­re die Ge­gen­wart be­schreibt. Es braucht beide Lin­sen, damit die SF ihren cha­rak­te­ris­ti­schen 3D-Ef­fekt er­zeu­gen kann. Der SF-For­scher Roger Luckhurst hat im Zu­sam­men­hang mit mei­nen Ro­ma­nen den Aus­druck «pro­lep­ti­scher Rea­lis­mus», also vor­aus­schau­en­der Rea­lis­mus, ge­braucht, den ich sehr pas­send finde.4 Ich sehe mich durch­aus in der Tra­di­ti­on des rea­lis­ti­schen Ro­mans des 19. Jahr­hun­derts; Au­to­ren wie Balz­ac, die ver­such­ten, die ge­sam­te Ge­sell­schaft ab­zu­bil­den, und auch po­li­tisch Po­si­ti­on be­zo­gen.

Christianopolis

Chris­tia­no­po­lis von Jo­hann Va­len­tin An­d­reae von 1619

Viele Ihrer Ro­ma­ne ste­hen zudem in der uto­pi­schen Tra­di­ti­on und ver­han­deln die Frage, wie eine bes­se­re Ge­sell­schaft aus­se­hen könn­te. In den Mars-Ro­ma­nen gibt es zahl­rei­che An­spie­lun­gen auf die Klas­si­ker der uto­pi­schen Li­te­ra­tur; etwa die Sied­lung Chris­tia­no­po­lis, be­nannt nach einer Uto­pie des frü­hen 17. Jahr­hun­derts, oder eine an­de­re na­mens Fou­rier, in An­leh­nung an den fran­zö­si­schen Früh­so­zia­lis­ten und Uto­pis­ten. Sehen Sie sich selbst als Uto­pis­ten?

Ich bin SF-Au­tor, kehre aber immer wie­der zur Uto­pie zu­rück. Das hängt mit den In­hal­ten zu­sam­men, die mich in­ter­es­sie­ren, aber auch mit for­ma­len Fra­gen. Mitt­ler­wei­le würde ich mich als uto­pi­schen SF-Schrift­stel­ler be­zeich­nen. Ich bin dies­be­züg­lich eine Aus­nah­me. Viele Au­to­ren schrei­ben in ihrem Leben nur eine ein­zi­ge Uto­pie und las­sen die Gat­tung dann hin­ter sich.

Haben Sie sich je sys­te­ma­tisch mit der Ge­schich­te der li­te­ra­ri­schen Uto­pie be­schäf­tigt?

Als ich Pa­ci­fic Edge schrieb, habe ich mich sehr in­ten­siv mit der Gat­tung be­fasst, be­gon­nen bei Plato und Morus. Pa­ci­fic Edge war mein ers­ter Ver­such einer rea­lis­ti­schen Uto­pie. Meine Leit­fra­ge war, wie ein glaub­haf­tes uto­pi­sches Ka­li­for­ni­en in 50 Jah­ren aus­se­hen könn­te. Zu­gleich war vie­les durch die bei­den vor­her­ge­hen­den Ka­li­for­ni­en-Ro­ma­ne The Wild Shore und The Gold Coast vor­be­stimmt. Das Er­geb­nis ist ein selt­sa­mes Biest, de­fi­ni­tiv nicht eines mei­ner bes­ten Bü­cher. Es führ­te aber di­rekt zu den Mars-Ro­ma­nen. Ich war mit Pa­ci­fic Edge un­zu­frie­den und ver­such­te dann, das Pro­blem einer glaub­haf­ten Uto­pie mit der Mars-Tri­lo­gie zu lösen. Eines der Bü­cher, das mir dabei half, war H. G. Wellsʼ A Mo­dern Uto­pia von 1905. Wells spricht in der Ein­lei­tung davon, dass eine mo­der­ne Uto­pie dy­na­misch sein müsse, da das klas­si­sche sta­ti­sche Mo­dell nicht mehr funk­tio­niert.5

In der Uto­pie­for­schung wird immer wie­der dis­ku­tiert, ob eine Uto­pie ernst ge­meint sein muss. Ist die Uto­pie wirk­lich als An­lei­tung für eine bes­se­re Ge­sell­schaft ge­dacht oder dient sie pri­mär als kri­ti­sche Re­fle­xi­on der Ge­gen­wart. Zu­min­dest im Falle von Morusʼ Uto­pia dürf­te Letz­te­res der Fall sein. Wo si­tu­ie­ren Sie sich in die­ser Dis­kus­si­on?

Ich habe kein Pro­blem damit, wenn man meine Ro­ma­ne als Bau­plan für eine bes­se­re Welt ver­steht. Sie sind nicht bloss als Kri­tik oder Zerr­spie­gel ge­dacht. Ich brin­ge darin meine Über­zeu­gung zum Aus­druck, dass wir in einer bes­se­ren Welt leben könn­ten, wenn wir man­che Dinge an­ders ma­chen wür­den.

Ich glau­be nicht, dass sich viele zeit­ge­nös­si­sche Schrift­stel­ler trau­en, so etwas offen zu sagen.

Das ist mir be­wusst, und ich fühle mich auch selt­sam dabei. In äs­the­ti­scher Hin­sicht ist mein Schaf­fen merk­wür­dig. Es gibt ein weit ver­brei­te­tes Ver­ständ­nis von Li­te­ra­tur, das be­sagt, dass je­mand, der so ex­pli­zit und so ex­pli­zit po­li­tisch schreibt wie ich, künst­le­risch etwas falsch ma­chen muss. Dazu kann ich nur sagen: Dem mag so sein, aber es ist nun mal meine Art zu schrei­ben. Ich habe hier so etwas wie eine öko­lo­gi­sche Ni­sche ge­fun­den und die Leute re­agie­ren po­si­tiv dar­auf.

Kim Stanley Robinson

Ro­bin­son liest am Lon­con.

Des­mond, bes­ser be­kannt als Co­yo­te, sagt an einer Stel­le in Green Mars Fol­gen­des: «An­yo­ne can agree things should be fair, and the world just. The way to get there is al­ways the real pro­blem.» Wäre es über­trie­ben zu sagen, dass dies der Kern ist, um den sich ein Gross­teil Ihrer Bü­cher dreht.

Das stimmt durch­aus. In die­sem Punkt wi­der­spre­che ich üb­ri­gens mei­nem Leh­rer Fred­ric Ja­me­son. Ja­me­son hat in einem oft zi­tier­ten Ar­ti­kel 6  ar­gu­men­tiert, dass wir letzt­lich gar nicht in der Lage sind, uns eine Uto­pie vor­zu­stel­len. Dabei ist es die ein­fachs­te Sache der Welt, ein uto­pi­sches Sys­tem zu be­schrei­ben: Die Ärms­ten sind aus­rei­chend ver­sorgt sind und die Rei­chen be­sit­zen nur zehn mal mehr als die Ärms­ten. Dafür reicht ein Satz. Was wir uns da­ge­gen nicht vor­stel­len kön­nen, ist, wie wir dort­hin ge­lan­gen. Dazu sieht un­se­re ak­tu­el­le Si­tua­ti­on zu ver­fah­ren aus, ent­wi­ckeln sich zu viele Dinge in die fal­sche Rich­tung. Hinzu kommt, dass im Spät­ka­pi­ta­lis­mus die Vor­stel­lung des Men­schen als hab­gie­ri­ges, ge­winn­süch­ti­ges, kom­pe­ti­ti­ves und be­trü­ge­ri­sches Wesen vor­herrscht. – Ich habe die 1960er Jahre er­lebt, als wir noch an die Mög­lich­keit und Not­wen­dig­keit einer Re­vo­lu­ti­on glaub­ten. In den 1980ern krach­ten wir aber gegen eine Wand. Da­mals wurde unser Glau­be an eine Re­vo­lu­ti­on und an die Mög­lich­keit, dass sich die Dinge schnell zum Guten wen­den wür­den, zer­stört. Wie geht man nun damit um, wenn man den Glau­ben an die Re­vo­lu­ti­on ver­lo­ren hat, aber nach wie vor an Uto­pi­en fest­hält? Dann muss man sich eben über­le­gen, was den­noch funk­tio­nie­ren könn­te. Und des­halb er­zäh­le ich Ge­schich­te um Ge­schich­te und er­fin­de immer neue Va­ri­an­ten, wie es klap­pen könn­te.

In der Uto­pie steht ty­pi­scher­wei­se die so­zia­le Or­ga­ni­sa­ti­on und nicht das In­di­vi­du­um im Vor­der­grund; im Zen­trum steht die Frage, wie eine Ge­sell­schaft or­ga­ni­siert sein soll­te. Das gilt zwar auch für Ihre Ro­ma­ne, zu­gleich geht es aber immer auch um Ein­zel­fi­gu­ren. Die Ge­schich­te des Mars würde sich an­ders ent­wi­ckeln, wenn nicht John Boone oder Ann Clay­bor­ne an ent­schei­den­den Mo­men­ten ein­grif­fen. Ist das durch die Form des Ro­mans ge­ge­ben oder hän­gen po­li­ti­sche und so­zia­le Ent­wick­lun­gen am Ende doch stark von In­di­vi­du­en ab.

Das ist eine in­ter­es­san­te Frage. Die Form ist zwei­fel­los wich­tig. Ein Roman braucht Fi­gu­ren, und als Autor be­mü­he ich mich darum, dass sie ex­em­pla­risch für etwas ste­hen. Es geht nicht nur um John, Ann oder Frank, son­dern um die Stand­punk­te, wel­che diese Fi­gu­ren re­prä­sen­tie­ren. Zu­gleich bin ich über­zeugt, dass es keine über­mensch­li­chen his­to­ri­schen Kräf­te gibt, son­dern nur An­samm­lun­gen von Men­schen. Diese Men­schen sind zwar durch ihre je­wei­li­ge Kul­tur und ihre Um­ge­bung ge­prägt, sie tref­fen aber den­noch in­di­vi­du­el­le Ent­schei­de. Ich denke, dass es durch­aus Si­tua­tio­nen gibt, in denen ein ein­zel­ner Mensch aus­schlag­ge­bend sein kann. Wie in The Man in the High Cast­le: No­bus­u­ke Ta­go­mi ist ein klei­ner Bü­ro­krat, aber es kommt zu einer Si­tua­ti­on, in der das, was er tut, wich­tig wird. Viel­leicht ist das nur die Sicht­wei­se eines Ro­man­au­tors, aber der Ein­zel­ne ist kei­nes­wegs kom­plett un­be­deu­tend. Wir beide ma­chen zu­sam­men zwei Sie­ben­mil­li­ards­tel der Mensch­heit aus. Das scheint wenig, es ist aber nicht nichts. Meine Frau ar­bei­tet als Che­mi­ke­rin stän­dig mit so klei­nen Ein­hei­ten. Der mil­li­ards­te Teil kann ent­schei­dend sein; er kann töd­lich sein oder imp­fend wir­ken.

Der Mars ist seit ei­ni­ger Zeit wie­der in den Me­di­en. Hal­ten Sie es für sinn­voll, zum Mars zu rei­sen, lohnt sich der Auf­wand?

Der Auf­wand würde sich wohl nur knapp loh­nen. Es wäre zwei­fel­los eine in­ter­es­san­te tech­ni­sche Auf­ga­be, von der man ei­ni­ges ler­nen könn­te. Un­se­re gröss­ten Her­aus­for­de­run­gen sind aber hier auf der Erde: der Kli­ma­wan­del und des Eta­blie­ren einer Per­ma­kul­tur, die öko­lo­gisch und so­zi­al nach­hal­tig aus­ge­rich­tet ist. Der Mars könn­te dabei als Ver­gleichs­wert sinn­voll sein, denn es han­delt sich um einen gif­ti­gen, un­be­wohn­ba­ren Pla­ne­ten; quasi als Teil einer ver­glei­chen­den Pla­ne­to­lo­gie. Welt­raum­for­schung ist letzt­lich ja immer eine Erd­wis­sen­schaft. Aber die Be­sie­de­lung des Mars hat si­cher keine Prio­ri­tät. Der Mars wird uns nicht ret­ten, wie man­che be­haup­ten.

Es gibt ver­schie­de­ne Sze­na­ri­en, wie man zum Mars rei­sen könn­te, unter an­de­rem das pri­va­te Mars-One-Pro­jekt.

Mars One ist Un­sinn, den Leu­ten wird etwas vor­ge­gau­kelt. Ich weiss nicht, ob die In­iti­an­ten auch sich selbst etwas vor­ma­chen, aber im Grun­de ist es Be­trug. Zu viele tech­ni­sche Fra­gen sind noch nicht ge­löst.

Wenn es die Mög­lich­keit gäbe, zum Mars zu rei­sen – und ich spre­che nicht von der be­rühm­ten Reise ohne Re­tour­ti­cket –, wür­den Sie sie wahr­neh­men?

Das wäre pri­mär eine Frage des Zeit­auf­wands. Mit dem heu­ti­gen Stand der Tech­nik müs­sen wir von rund fünf Jah­ren aus­ge­hen. Das ist mir zu lange. Ich habe zu viele Ver­pflich­tun­gen hier. Aber neh­men wir mal an, es wären nur je zwei Wo­chen Hin- und Rück­flug nötig, um einen Monat auf dem Mars zu ver­brin­gen – ich wäre so­fort dabei. Wer würde das nicht wol­len?

  1. Ro­bin­sons Le­sung fand im Rah­men des von Phil­ipp Thei­sohn ge­lei­te­ten For­schungs­pro­jekt Con­di­tio ex­tra­ter­res­tis statt.[]
  2. Kim Stan­ley Ro­bin­son: The No­vels of Phi­lip K. Dick. Ann Arbor 1984. Auf Deutsch ver­füg­bar als:Die Ro­ma­ne des Phi­lip K. Dick. Eine Mo­no­gra­phie. Ber­lin 2005.[]
  3. Siehe zur Ver­frem­dung auch mei­nen Ar­ti­kel: «Der Be­griff der Ver­frem­dung in der Sci­ence-Fic­tion-Theo­rie. Ein Klä­rungs­ver­such». In: Quar­ber Mer­kur. Franz Rot­ten­stei­ners Li­te­ra­tur­zeit­schrift für Sci­ence Fic­tion und Phan­tas­tik. Nr. 103/104, 2006, 13-40. Er­hält­lich hier.[]
  4. Roger Luckhurst: «The Po­li­tics of the Net­work: The Sci­ence in the Ca­pi­tal Tri­lo­gy». In: Bur­ling, Wil­li­am J. (Hg.): Kim Stan­ley Ro­bin­son Maps the Uni­ma­ginable. Cri­ti­cal Es­says. Jef­fer­son/Lon­don 2009, 170–180.[]
  5. Wells schreibt Fol­gen­des in der Ein­lei­tung: «The Uto­pia of a mo­dern drea­mer must needs dif­fer in one fun­da­men­tal as­pect from the Now­he­res and Uto­pi­as men plan­ned be­fo­re Dar­win qui­cke­ned the thought of the world. Those were all per­fect and sta­tic Sta­tes, a ba­lan­ce of hap­pi­ness won for ever against the forces of un­rest and dis­or­der that in­he­re in things. […] Chan­ge and de­ve­lop­ment were dam­med back by in­vin­ci­b­le dams for ever. But the Mo­dern Uto­pia must be not sta­tic but ki­ne­tic, must shape not as per­ma­nent state but as a hope­ful stage, lea­ding to a long as­cent of sta­ges. No­wa­days we do not re­sist and over­co­me the great stream of things, but ra­ther float upon it» (H. G. Wells: To­no-Bun­gay and A Mo­dern Uto­pia. Lon­don 1908, S. 315).[]
  6. Fred­ric Ja­me­son: «Pro­gress Ver­sus Uto­pia; Or, Can We Ima­gi­ne the Fu­ture?». In: Sci­ence Fic­tion Stu­dies. Jg. 9.2, Nr. 27, 1982, 147–168. Er­hält­lich hier.[]

News from Nowhere

Ein Le­se­zir­kel im sf-netz­werk war für mich der An­lass, eine lange be­ste­hen­de Lücke zu schlies­sen und end­lich Wil­li­am Mor­ris’ News from Now­he­re zu lesen. Im Fol­gen­den ei­ni­ge un­ge­ord­ne­te Ein­drü­cke und Über­le­gun­gen.

In der Uto­pie­for­schung er­scheint das 1890 er­schie­ne­ne News from Now­he­re oft als eine der letz­ten „klas­si­schen“ Uto­pi­en. Ge­mein­sam mit Ed­ward Bel­l­amys Loo­king Back­ward: 2000-1887 (1888) bil­det es Ende des 19. Jahr­hun­dert ge­wis­ser­mas­sen den Ab­schluss der Ära po­si­ti­ver Ent­wür­fe; das fol­gen­de Jahr­hun­dert wird dann von dys­to­pi­schen Schre­ckens­staa­ten do­mi­niert.

William Morris (1834–1896)

Wil­li­am Mor­ris (1834–1896)

Diese Dar­stel­lung ist al­ler­dings sehr ver­kürzt, denn mit Mor­ris kommt die klas­si­sche uto­pi­sche Tra­di­ti­on kei­nes­wegs zu ihrem Ende. Auch im 20. Jahr­hun­dert er­schie­nen zahl­rei­che klas­si­sche – im Sinne von pri­mär po­si­tiv – Uto­pi­en. H. G. Wells, um einen be­kann­ten Namen zu nen­nen, hat zahl­rei­che – fik­tio­na­le und nicht­fik­tio­na­le – Bü­cher ver­fasst, die mehr oder we­ni­ger ex­plzit in der uto­pi­schen Tra­di­ti­on ste­hen; unter an­de­rem A Mo­dern Uto­pia (1905), The Work, Wealth, and Hap­pi­ness of Man­kind (1931) und The Shape of Things to Come (1933).1 Da­ne­ben gibt zahl­rei­che Texte, viele aus gutem Grund aus­ser­halb von Fach­krei­sen längst ver­ges­sen, die dem von Tho­mas Morus eta­blier­ten Mo­dell mehr oder we­ni­ger genau fol­gen.2

Den­noch ge­hört News from Now­he­re zwei­fel­los zu den be­kann­tes­ten die­ser spä­ten Uto­pi­en. Die Hand­lung ist schnell er­zählt: Der na­men­lo­se Ich-Er­zäh­ler, der weit­ge­hend mit Mor­ris iden­tisch ist und sich spä­ter Guest nennt, kommt des Abends nach hit­zi­ger Dis­kus­si­on in der So­cia­list Le­ague nach Hause, legt sich zu Bett und er­wacht am nächs­ten Mor­gen im Jahr 2102. Mor­ris’ Eng­land des 22. Jahr­hun­derts ent­spricht al­ler­dings nicht dem, was man ge­mein­hin unter Zu­kunft ver­steht. Es gibt keine tech­ni­schen Wun­der­wer­ke, keine Au­to­ma­ti­sie­rung und keine Me­ga­städ­te. Die Zu­kunft in News from Now­he­re er­in­nert viel­mehr an ein idea­li­sier­tes Mit­te­al­ter, ge­säu­bert von allen Sün­den der In­dus­tria­li­sie­rung.

Mor­ris hat seine «Uto­pi­an Ro­mance» be­wusst als Ge­gen­ent­wurf zu Bel­l­amys äus­serst er­folg­rei­chem Loo­king Back­ward kon­zi­piert. Ob­wohl beide Au­to­ren ihre Ent­wür­fe als so­zia­lis­tisch be­zeich­ne­ten, war Mor­ris von Bel­l­amys Buch – das er auch re­zen­siert hat – re­gel­recht ab­ge­stos­sen. Bel­l­amys Vi­si­on kann etwas po­le­misch for­mu­liert als eine Art zen­tra­lis­ti­scher Kon­sum-So­zia­lis­mus be­zeich­net wer­den. Im weit­ge­hend au­to­ma­ti­sier­ten Jahr 2000 wer­den alle Güter und Dienst­leis­tun­gen zen­tral or­ga­ni­siert und pro­du­ziert und kön­nen von jedem mit­tels eines Kre­dit­kar­ten-Sys­tems er­wor­ben wer­den. Sinn­bild­lich für diese Welt steht das rie­si­ge Kauf­haus, in das der Ich-Er­zäh­ler ge­führt wird und wo rie­si­ger Über­fluss zum Ver­kauf be­reit steht.

Au­to­ma­ti­sie­rung und Mas­sen­her­stel­lung sind nun aber genau das, was Mor­ris ver­ab­scheut. Sein Ideal ist der Hand­wer­ker, der mit sei­nen ei­ge­nen Hän­den und aus ei­ge­nem An­trieb und Be­dürf­nis ein hoch­wer­ti­ges Ein­zel­stück an­fer­tigt. Da diese Art von Ar­beit im Ver­ständ­nis von Mor­ris oh­ne­hin er­fül­lend ist, be­steht auch kein Grund für die ma­schi­nel­le Her­stel­lung von Gü­tern. Die Re­duk­ti­on der Ar­beits­zeit ist in vie­len Uto­pi­en ein Thema – nicht so bei Mor­ris. Die Zu­kunft von News from Now­he­re ist zwar nicht gänz­lich frei von mo­der­ner Tech­nik – so gibt es elek­trisch an­ge­trie­be­ne Schif­fe –, sie er­setzt aber nicht das tra­di­tio­nel­le Hand­werk.

In Mor­ris’ Re­zen­si­on von Loo­king Back­ward ist fol­gen­der Satz zu lesen: «The only safe way of rea­ding a Uto­pia is to con­sider it as the ex­pres­si­on of the tem­pe­ra­ment of its aut­hor.»3 – Diese Fest­stel­lung gilt eben­so für Mor­risʼ ei­ge­nen Ent­wurf, der die Vor­lie­ben und Ab­nei­gun­gen sei­nes Ver­fas­sers deut­lich zu Trage tre­ten lässt. Mor­ris war näm­lich nicht nur und aus sei­ner Sicht wohl auch nicht in ers­ter Linie Schrift­stel­ler, son­dern ein un­glaub­li­cher viel­sei­ti­ger und ta­len­tier­ter Mensch, der sich als De­si­gner von Tex­ti­li­en, als Ar­chi­tekt und Kunst­hand­wer­ker her­vor­tat. Er ent­warf Tep­pi­che, Mö­bel­stü­cke, Ta­pe­ten und Bunt­glas­fens­ter, baute Häu­ser, druck­te er­le­se­ne Bü­cher und noch Et­li­ches mehr. Was er in sei­nem Roman pro­pa­giert, die Freu­de am Hand­werk, das lebte er vor (zur Mor­risʼ Leben siehe die auf­schluss­rei­che Ein­lei­tung in der deut­schen Neu­aus­ga­be des Gol­kon­da-Ver­lags).

Die In­dus­tria­li­sie­rung, wie sie sich im Ka­pi­ta­lis­mus voll­zog, war für Mor­ris in zwei­fa­cher Hin­sicht vom Bösen. Zum einen zwang sie den Ar­bei­ter zu stu­pi­der Fliess­band­ar­beit und ent­frem­de­te ihn so von sei­nem Pro­dukt; zum an­de­ren brach­te sie mehr Häss­lich­keit in die Welt. Denn in der Logik des Ka­pi­ta­lis­mus muss ein Ge­brauchs­ge­gen­stand kei­nes­wegs hoch­wer­tig sein; viel­mehr ist es im In­ter­es­se des Sys­tems, wenn Güter mög­lichst schnell durch neue Güter er­setzt wer­den. Nur so bleibt der ka­pi­ta­lis­ti­sche Kreis­lauf in Be­we­gung. Ent­spre­chend führt Mas­sen­fer­ti­gung zu einer Schwem­me min­der­wer­ti­ger Pro­duk­te.

Ein Tapeten-Design von Morris.

Ein Ta­pe­ten-De­sign von Mor­ris.

Bei der Lek­tü­re von News from Now­he­re fiel mir vor allem auf, wie sehr Mor­ris den äs­the­ti­schen As­pekt sei­ner Welt be­tont. Seien es Klei­der, Ge­bäu­de, Brü­cken und – nicht zu­letzt – die Frau­en; in die­ser Zu­kunft ist alles bunt, ver­spielt, schön. Das ist ein ziem­li­cher Kon­trast zur mo­rus­schen Tra­di­ti­on, bei der Schön­heit meist der Nütz­lich­keit un­ter­ge­ord­net ist. Ge­bäu­de, Klei­der etc. sind bei Morus und Co. in der Regel sim­pel und funk­tio­nal. Zwar kei­nes­wegs häss­lich, aber zu­meist von schlich­ter Schön­heit. Bei Mor­ris ist das an­ders. Die fol­gen­de Pas­sa­ge, in wel­cher der Ich-Er­zäh­ler das Ge­schirr und die Mö­blie­rung eines Ess­zim­mers, in dem er sein Früh­stück ein­nimmt, be­schreibt, ist ty­pisch:

The glass, cro­cke­ry, and plate were very be­au­ti­ful to my eyes, used to the study of me­di­ae­val art; but a ni­n­e­teenth cen­tu­ry club-haun­ter would, I dar­esay, have found them rough and lacking in fi­nish; the cro­cke­ry being lead-gla­zed pot-wa­re. though be­au­ti­ful­ly or­na­men­ted; the only porce­lain being here and there a piece of old ori­en­tal ware. The glass, again, though ele­gant and quaint, and very va­ried in form, was so­mew­hat bub­b­led and hor­nier in tex­tu­re than the com­mer­ci­al ar­ti­cles of the ni­n­e­teenth cen­tu­ry. The fur­ni­tu­re and ge­ne­ral fit­tings of the hall were much of a piece with the ta­ble-ge­ar, be­au­ti­ful in form and high­ly or­na­men­tal, but wi­thout the com­mer­ci­al ‹fi­nish› of the joi­ners and ca­bi­net-ma­kers of our time. Wi­thal, there was a total ab­sence of what the ni­n­e­teenth cen­tu­ry calls ‹com­fort› – that is, stuf­fy in­con­ve­ni­ence; so that, even apart from the de­light­ful ex­ci­te­ment of the day I had never eaten my din­ner so plea­s­ant­ly be­fo­re.4

Ich kenne keine an­de­re Uto­pie, die so viel Zeit damit ver­brin­gen würde, ein sim­ples Trink­glas zu be­schrei­ben. In­ter­es­sant auch, dass Mor­ris kei­nes­wegs ver­schweigt, dass Ge­schirr und Möbel nicht un­be­dingt den Stan­dards des 19. Jahr­hun­derts ent­spre­chen. Aus sei­ner Sicht spricht das frei­lich nicht gegen diese Welt. Ganz im Ge­gen­teil.

Un­ty­pisch ist News from Now­he­re auch darin, dass die cha­rak­te­ris­ti­schen lan­gen Aus­füh­run­gen über po­li­ti­sches Sys­tem, Wirt­schaft und Er­zie­hung weit­ge­hend feh­len. Was wir im We­sent­li­chen er­fah­ren, ist, dass es alle diese Dinge zwar gibt, dass sie aber auf ein Mi­ni­mum re­du­ziert wur­den. Es wer­den durch­aus Dorf­ver­samm­lun­gen ab­ge­hal­ten, wie diese von­stat­ten gehen, wird aber nicht wei­ter aus­ge­führt. Die Wirt­schaft kommt wie schon bei Morus ohne Geld aus, ist aber nicht zen­tra­li­siert. Man hilft sich ge­gen­sei­tig aus und jeder tut, wo­nach ihm der Sinn steht. Und da in Mor­risʼ Zu­kunft kör­per­li­che Ar­beit als etwas Lust­vol­les ver­stan­den wird, be­deu­tet das unter an­de­rem, dass sich junge Men­schen mit Be­geis­te­rung zur Heu­ern­te mel­den. Wenn aber je­mand lie­ber Wo­chen mit dem An­fer­ti­gen eines Fres­kos ver­bringt, ist das auch in Ord­nung. Ir­gend­wie re­gu­liert sich die­ses Sys­tem auf ma­gi­sche Weise selbst.

Eine in ir­gend­ei­ner Form in­sti­tu­tio­na­li­sier­te Er­zie­hung scheint es nicht zu geben; Kin­der ver­brin­gen die meis­te Zeit im Frei­en und wer­den er­mun­tert das zu tun, was sie in­ter­es­siert. Auch hier wird das Hand­fes­te, das Prak­ti­sche be­tont. Klas­si­sche Bil­dung gilt in die­ser Welt wenig, das Lesen von Bü­chern ist eher etwas für Exo­ten und über his­to­ri­sches Wis­sen ver­fü­gen die we­nigs­ten. Das ist be­mer­kens­wert, da sich Mor­ris nicht nur für mit­tel­al­ter­li­che Hand­werks­kunst in­ter­es­sier­te, son­dern auch als Über­set­zer an­ti­ker Texte sowie is­län­di­scher Saa­gen und mit­tel­al­ter­li­cher Epen tätig war.5 Diese Ge­schichts­ver­ges­sen­heit ist wahr­schein­lich damit zu er­klä­ren, dass diese Welt einen Ide­al­zu­stand er­reicht hat und zur Ruhe ge­kom­men ist; eine «Epoch of Rest», wie es im Uner­ti­tel heisst. In die­ser fort­schritts­ver­nei­nen­den Sta­tik stellt sich Mor­ris sehr deut­lich gegen den herr­schen­den Zeit­geist.

Völ­lig per­fekt ist aber auch die Welt von News of Now­he­re nicht. Wäh­rend des Auf­ent­halts von Guest ge­schieht unter an­de­rem ein Mord. Na­tür­lich ist es ein Ver­bre­chen aus Lei­den­schaft und nicht aus Hab­gier, denn Letz­te­re ist aus­ge­stor­ben. Es gibt somit wei­ter­hin Ge­walt­ver­bre­chen. Diese sind aber so sel­ten, dass Guests Be­glei­ter gar nicht recht wis­sen, wie sie mit dem Mör­der – wel­cher sich für seine Tat mass­los schämt – ver­fah­ren sol­len. In­ter­es­sant auch eine Pas­sa­ge, in wel­cher der Ich-Er­zäh­ler auf einen alten Mie­se­pe­ter trifft, dem seine Ge­gen­wart kei­nes­wegs be­hagt. Sie ist ihm zu fried­lich:

«[…] You see, I have read not a few books of the past days, and cer­tain­ly they are much more alive than those which are writ­ten now; and good sound un­li­mi­ted com­pe­ti­ti­on was the con­di­ti­on under which they were writ­ten, – if we didn’t know that from the re­cord book of his­to­ry, we should know it from the books them­sel­ves. There is a spi­rit of ad­ven­ture in them and signs of a ca­pa­ci­ty to extract good out of evil which our li­te­ra­tu­re quite lacks now; and I can­not help thin­king that our mo­ra­lists and his­to­ri­ans exag­ge­ra­te hu­ge­ly the un­hap­pi­ness of the past days, in which such sple­ndid works of ima­gi­na­ti­on and in­tel­lect were pro­du­ced.»6

Macht Mor­ris hier dar­auf auf­merk­sam, dass es für das von ihm er­träum­te Ar­ka­di­en einen Preis zu zah­len gibt? Oder will er viel­mehr zei­gen, dass die Be­woh­ner die­ser Zu­kunft nicht mehr in der Lage sind sich vor­zu­stel­len, wie schreck­lich die Ver­gan­gen­heit wirk­lich war? Für mich ist kei­nes­wegs ein­deu­tig, wie diese Pas­sa­ge genau zu ver­ste­hen ist.

Ob­wohl auch News from Now­he­re unter der ty­pi­schen uto­pi­schen Hand­lungs­ar­mut lei­det und ich mich stel­len­wei­se re­gel­recht durch­beis­sen muss­te, war es den­noch eine in­ter­es­san­te Lek­tü­re. Mor­ris geht es we­ni­ger darum, eine plau­si­ble Zu­kunft zu er­fin­den. Er tut viel­mehr etwas, was in der uto­pi­schen Li­te­ra­tur er­schre­ckend sel­ten ge­schieht: Er ent­wirft eine lust­vol­le Welt vol­ler Schön­heit und Freu­de, eine Welt, in der man tat­säch­lich auch leben möch­te.

  1. Ob­wohl Wells sich selbst nicht als Uto­pis­ten sah, kann ein gros­ser Teil sei­nes Schaf­fens nach der Jahr­hun­dert­wen­de als Teil eines uto­pi­schen Pro­jek­tes ge­se­hen. Wells pro­pa­gier­te eine «open con­spi­ra­cy» (so auch der Titel eines 1928 er­schie­nen Bu­ches), die zur Er­rich­tung eines so­zia­lis­ti­schen Welt­staa­tes füh­ren soll­te.[]
  2. Um hier re­la­tiv wahl­los ei­ni­ge Titel zu nen­nen: Aleksan­dr Bog­da­nov: Der rote Stern: Ein uto­pi­scher Roman (1908); Char­lot­te Per­kins Gil­man: Her­land (1915); Wal­ter Mül­ler: Wenn wir 1918 …: Eine re­al­po­li­ti­sche Uto­pie (1930).[]
  3. Wil­li­am Mor­ris: «‹Loo­king Back­ward›A Re­view of Loo­king Back­ward by Ed­ward Bel­l­amy. In: Ders.: News from Now­he­re and Other Wri­tings. Hg. von Clive Wil­mer. Lon­don 1998, 354.[]
  4. Wil­li­am Mor­ris: «News from Now­he­re». In: Ders.: News from Now­he­re and Other Wri­tings. Hg. von Clive Wil­mer. Lon­don 1998, 131.[]
  5. Mor­ris hat zudem meh­re­re in mit­tel­al­ter­li­chen Fan­ta­sie­wel­ten an­ge­sie­del­te «prose ro­man­ces» ver­fasst und gilt ge­mein­hin als einer der Vor­vä­ter der mo­der­nen Fan­ta­sy-Li­te­ra­tur.[]
  6. Wil­li­am Mor­ris: «News from Now­he­re». In: Ders.: News from Now­he­re and Other Wri­tings. Hg. von Clive Wil­mer. Lon­don 1998, 174.[]

Noch einmal «Starship Troopers»

In der FAZ ist ein Ar­ti­kel zur Em­batt­led-Hea­vens-Ta­gung er­schie­nen (on­line er­hält­lich). Der Autor Ulf von Rauch­haupt geht darin in einem Ab­satz auch auf mei­nen Vor­trag ein und schreibt:

Für Simon Spie­gel (Zü­rich) er­füllt der Roman [Star­ship Tro­o­pers] alle Kri­te­ri­en einer klas­si­schen Uto­pie, al­ler­dings einer, in der die Uto­pi­er das Uni­ver­sum «sehen, wie es ist, und nicht wie wir wol­len, dass es ist». Damit könne das Buch als an­ti­uto­pi­sche Uto­pie ge­le­sen wer­den.

So for­mu­liert ist das ein wenig ir­re­füh­rend, denn das Be­son­de­re an Hein­leins Roman ist nicht die Be­haup­tung, das be­schrie­be­ne Ge­sell­schafts­sys­tem ent­spre­che dem wah­ren Wesen des Uni­ver­sums (resp. des Men­schen). Diese Ar­gu­men­ta­ti­on ist mehr oder we­ni­ger ty­pisch für uto­pi­sche Ent­wür­fe. Die meis­ten Uto­pi­en ar­gu­men­tie­ren – oder viel­mehr: be­haup­ten –, dass der von ihnen pro­pa­gier­te Ent­wurf nicht ir­gend­ei­ner Laune folgt, son­dern eben der mensch­li­chen Natur ent­sprä­che.

Un­ge­wöhn­lich an der Uto­pie von Star­ship Tro­o­pers ist ei­ner­seits ihr Prag­ma­tis­mus; immer wie­der wird be­tont, dass das Ge­sell­schafts­sys­tem des Ro­mans kei­nes­wegs per­fekt sei – aber es ist gut genug. It works. Noch wich­ti­ger ist aber, dass sich der Roman ex­pli­zit gegen die Vor­stel­lung rich­tet, Men­schen seien zu ra­tio­na­ler Ein­sicht fähig. Für Morus und des­sen Nach­fol­ger ist Er­zie­hung ein zen­tra­les Ele­ment des Ge­sell­schafts­ent­wurfs: Die Uto­pie braucht ver­nünf­ti­ge uto­pi­sche Bür­ger, die kraft ihrer Ra­tio­na­li­tät er­ken­nen, dass das herr­schen­de Ge­sell­schafts­sys­tem das best­mög­li­che ist. Bei Star­ship Tro­o­pers da­ge­gen gleicht Er­zie­hung eher dem Ab­rich­ten eines Tiers (ent­spre­chen­de Ver­glei­che fal­len mehr­mals). Der Mensch wird ex­pli­zit als «wild ani­mal» be­zeich­net, dem kor­rek­tes Ver­hal­ten ein­ge­prü­gelt wer­den muss. Und genau hier zeigt sich der an­ti-uto­pi­sche und – in Bezug auf Morus – auch an­ti-hu­ma­nis­ti­sche Cha­rak­ter des Ro­mans. Das Ziel sei­ner Kri­tik sind all die «do goo­ders and well-mea­ning old Aunt Nel­lies», die mei­nen, Men­schen seien zur Ein­sicht fähig. Am schlimms­ten sind hier die ver­blen­de­ten Na­iv­lin­ge, die mei­nen, man könne ju­gend­li­chen Straf­tä­tern an­ders be­geg­nen als mit Prü­geln, jene «pre-sci­en­ti­fic pseu­do-pro­fes­sio­nal class who cal­led them­sel­ves ‹so­ci­al workers› or so­me­ti­mes ‹child psy­cho­lo­gists›».

Das zen­tra­le Prin­zip von Hein­leins uto­pi­schem Ent­wurf ist Ge­walt. Am Ende setzt sich der Ge­walt­tä­ti­ge­re durch, und wer sich durch­setzt, der hat auch Recht. Es gilt das Sur­vi­val of the fit­test. Diese Ar­gu­men­ta­ti­on ist in­so­fern wie­der klas­sisch, als sie auf einer (pseu­do-)wis­sen­schaft­li­chen Be­grün­dung be­ruht: So funk­tio­niert die Natur eben, und ein er­folg­rei­ches Ge­sell­schafts­sys­tem muss dem Rech­nung tra­gen.

Die so­zi­al­dar­wi­nis­ti­sche Fun­die­rung der uto­pi­schen Ge­sell­schaft ist kei­nes­wegs eine Er­fin­dung Hein­leins. Zu Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts sind eu­ge­ni­sche Ideen – auch und ge­ra­de auf der lin­ken Seite des po­li­ti­schen Spek­trums – weit ver­brei­tet.1 Bei H. G. Wells etwa sind eu­ge­ni­sche Kon­zep­te von zen­tra­ler Be­deu­tung.2 Wells kann man im­mer­hin zu­gu­te hal­ten, dass er seine Ideen for­mu­lier­te, bevor die Nazis Ernst mach­ten mit der Aus­mer­zung an­geb­lich un­wer­ten Le­bens. Hein­lein da­ge­gen schrieb sei­nen Roman zu einem Zeit­punkt, als für jeden hätte of­fen­sicht­lich sein müs­sen, wo eu­ge­ni­sches Den­ken in letz­ter Kon­se­quenz hin­führt.

 

  1. Die mo­der­ne Eu­ge­nik ent­steht erst Ende des 19. Jahr­hun­derts. Züch­tungs­ide­en fin­den sich aber be­reits in Pla­tons Po­li­teia und tau­chen in der Ge­schich­te der Uto­pie immer wie­der auf. In Cam­pa­nellas Ci­vi­tas Solis ist die Ob­rig­keit bei­spiels­wei­se darum be­müht, be­son­ders be­leib­te Frau­en mit dün­nen Män­nern zu paa­ren, um so eine mög­lichst aus­ge­gli­che­ne Nach­kom­men­schaft zu ga­ran­tie­ren.[]
  2. Eine Spe­zia­li­tät Hein­leins scheint mir die Gleich­set­zung von na­tür­li­cher Aus­le­se und Ge­walt zu sein. Hein­lein in­ter­pre­tiert das Sur­vi­val of the fit­test als Sur­vi­val of the most vio­lent . Hier­in zeigt sich ein völ­li­ges Miss­ver­ständ­nis der dar­win­schen Evo­lu­ti­ons­leh­re. Die fi­tes­te Spe­zi­es ist bei Dar­win jene, die am bes­ten an das je­wei­li­ge Bio­top an­ge­passt ist. Mit Ge­walt hat gar nichts zu tun. Di­no­sau­ri­er sind nicht aus­ge­stor­ben, weil sie we­ni­ger ge­walt­tä­tig waren als Säu­ge­tie­re. Oh­ne­hin ist Ge­walt ein Kon­zept, das nur bei be­wusst han­deln­den Ak­teu­ren sinn­voll ist. Ein Tier kann eben­so wenig ge­walt­tä­tig sein wie ein Klein­kind.[]

Umkämpfte Himmel

Nächs­te Woche fin­det in Ber­lin die Ta­gung Em­batt­led Hea­vens: The Mi­li­ta­riza­t­i­on of Space in Sci­ence, Fic­tion, and Po­li­tics statt, an der ich einen Vor­trag hal­ten werde  – na­tür­lich zur Uto­pie. Das Thema der Ta­gung ist zwar nicht un­be­dingt uto­pisch, ich habe es aber den­noch ge­schafft, mich rein­zu­schmug­geln, und zwar mit einem Vor­trag zu Ro­bert A. Hein­leins  Star­ship Tro­o­pers (1959). Der Roman er­zählt die Ge­schich­te des jun­gen Sol­da­ten John­nie Rico, der in der Zu­kunft gegen aus­ser­ir­di­sche Bugs kämpft. Wie diese Zu­kunft im De­tail aus­sieht, wie die Ge­sell­schaft or­ga­ni­siert ist, er­fah­ren wir kaum, le­dig­lich ein As­pekt wird her­vor­ge­ho­ben: Wahl­be­rech­tigt ist in der Welt von Star­ship Tro­o­pers nur, wer Mi­li­tär­dienst ge­leis­tet hat.1

StarshipTroopersCoverStar­ship Tro­o­pers ist eines der be­kann­tes­ten Bü­chern Hein­leins und zu­gleich sein um­strit­tens­tes. Wem es lang­wei­lig ist, braucht nur in einem SF-Fo­rum sei­ner Wahl eine Dis­kus­si­on zum Thema «Ist Star­ship Tro­o­pers fa­schis­tisch?» zu star­ten – genug Un­ter­hal­tung für die fol­gen­den Tage dürf­te ga­ran­tiert sein. So ganz konn­te und kann ich diese hef­ti­gen Re­ak­tio­nen nie nach­voll­zie­hen, denn in mei­nen Augen ist der Roman nicht nur ziem­lich dumm, son­dern auch er­staun­lich lang­wei­lig. Vor­der­hand wird zwar die Ge­schich­te John­nie Ricos er­zählt, im Grund fehlt aber ein ech­ter Plot. Statt­des­sen gibt es – nach einem durch­aus ra­sen­ten Auf­takt mit einer Schlach­ten­sze­ne – ka­pi­tel­lan­ge Aus­füh­run­gen über mi­li­tä­ri­sche Aus­bil­dung, kin­di­sche Recht­fer­ti­gun­gen von To­des­stra­fe und kör­per­li­cher Züch­ti­gung und viel mi­li­ta­ris­ti­sches Ma­cho-Ge­schwätz.

Den­noch be­schäf­tigt mich der Roman schon län­ger, nicht zu­letzt wegen Paul Ver­hoevens gross­ar­ti­ger Ver­fil­mung. Denn Ver­hoeven und sein Dreh­buch­au­tor Ed Neu­mei­er – Ver­hoeven selbst hat den Roman nach ei­ge­ner Aus­sa­ge gar nie zu Ende ge­le­sen – haben etwas sehr un­ge­wöhn­li­ches ge­macht, zumal für Hol­ly­wood­pro­duk­tio­nen: Ihr Star­ship Tro­o­pers ist keine Ver­fil­mung im Geis­te der Vor­la­ge, son­dern viel­mehr eine Sa­ti­re auf diese. Der Film nimmt die Aus­gangs­la­ge des Ro­mans und über­treibt alles ein biss­chen – das Er­geb­nis ist eine zwar nicht son­der­lich sub­ti­le, aber sehr un­ter­halt­sa­me schwar­ze Sa­ti­re.2 Eine Sa­ti­re, die über die Länge eines Films hin­weg funk­tio­niert und nicht nach 30 Mi­nu­ten ver­pufft, ge­hört in mei­nen Augen zu den schwie­rigs­ten Din­gen, die es im Me­di­um Spiel­film gibt; Star­ship Tro­o­pers ist eines der we­ni­gen Bei­spie­le, die nicht schei­tern.

StarshipTroopersGerichIch will schon seit ge­rau­mer Zeit einen Ar­ti­kel dar­über schrei­ben, dass Star­ship Tro­o­pers ei­gent­lich eine Uto­pie ist. Denn zahl­rei­che Ele­men­te sei­ner Zu­kunfts­ge­sell­schaft sind uto­pisch, und dies  im dop­pel­ten Sinn: Ei­ner­seits zeigt der Film eine Ge­sell­schaft, in der – mit Aus­nah­me die­ses blö­den Kriegs mit den Bugs – alle mehr oder we­ni­ger zu­frie­den schei­nen, zum an­de­ren be­dient sich der Film ver­schie­de­ner Topoi, die zum fes­ten Be­stand­teil der uto­pi­schen Li­te­ra­tur ge­hö­ren. An die­ser Stel­le sei nur ein Bei­spiel er­wähnt: Die Klage dar­über, dass die Ge­set­ze und das Jus­tiz­we­sen ge­ne­rell zu kom­pli­ziert seien und dass vor Ge­richt am Ende nicht ge­winnt, wer Recht hat, son­dern wer den raf­fi­nier­te­ren An­walt auf­bie­tet, fin­det sich be­reits bei Morus. Viele Uto­pi­en re­agie­ren dar­auf mit einer ra­di­ka­len Ver­ein­fach der Ge­set­ze. Was rich­tig und falsch ist, ist ja oh­ne­hin  klar, also braucht es auch keine kom­pli­zier­ten Pro­zes­se. Die­ses Motiv nimmt Star­ship Tro­o­pers in einem sei­ner Nach­rich­ten-Ein­spreng­sel auf. So ganz ne­ben­bei er­fah­ren wir, dass ein Mör­der am glei­chen Tag vor Ge­richt ge­stellt und zu Tode ver­ur­teilt wurde. Die Exe­ku­ti­on ist für den Abend an­ge­setzt.

Als Bar­tho­lo­mä­us Fi­ga­tow­ski ver­gan­ge­nes Jahr einen Call for Pa­pers für einen Hein­lein-Sam­mel­band lan­cier­te,3 schien das die idea­le Ge­le­gen­heit, um diese Idee end­lich aus­zu­ar­bei­ten. Um über den Film zu schrei­ben, muss­te ich mich aber zu­erst ge­nau­er mit dem Roman be­schäf­ti­gen, und zu mei­ner gros­sen Über­ra­schung stell­te sich her­aus, dass be­reits Hein­leins Roman zahl­rei­che uto­pi­sche Ele­men­te ent­hält. Al­ler­dings ist die Uto­pie nicht etwa die zi­vi­le Ge­sell­schaft – denn über diese er­fah­ren wir so gut wie nichts –, son­dern die John­nies Ein­heit, die Mo­bi­le In­f­an­try.4 Am Ende er­wies sich die Ana­ly­se von Star­ship Tro­o­pers als klas­si­sche Uto­pie als so er­gie­big, dass ich fast aus­schliess­lich über den Roman schrieb und kaum noch auf Ver­hoevens Film ein­ge­hen konn­te. Und davon wird mein Vor­trag «Uto­pi­an Sol­diers. Ro­bert Hein­lein’s Star­ship Tro­o­pers as Uto­pi­an Novel» nächs­te Woche han­deln.

  1. Zur Ver­tei­di­gung des Ro­mans wird immer wie­der ar­gu­men­tiert, dass sich der civil ser­vice kei­nes­wegs auf Mi­li­tär­dienst be­schrän­ken würde. Hein­lein selbst ver­tritt diese An­sicht in Ex­pan­ded Uni­ver­se. Wie James Gif­ford, an­sons­ten ein gros­ser Be­wun­de­rer des Au­tors, aber nach­ge­wie­sen hat, wird diese Ein­schät­zung durch den Roman selbst nicht ge­stützt. Siehe: Gif­ford, James: The Na­tu­re of «Fe­deral Ser­vice» in Ro­bert A. Hein­lein’s Star­ship Tro­o­pers. 1996.[]
  2. Das wirft auch die Frage nach dem Ver­hält­nis von Sa­ti­re und Uto­pie auf. Dass die bei­den Gat­tun­gen eng mit­ein­an­der ver­bun­den sind, dürf­te un­be­strit­ten sein. Bis­lang scheint aber noch nie­mand die­sen Zu­sam­men­hang auf grund­le­gen­der Ebene un­ter­sucht zu haben. Zu­min­dest ist mir kein ent­spre­chen­der Text be­kannt.[]
  3. Das Buch soll­te im Laufe des Jah­res er­schei­nen.[]
  4. Diese Idee ist kei­nes­wegs völ­lig neu. Phil Go­chenour hat sie in sei­nem Auf­satz «Uto­pia of Pain: Ado­lescent An­xie­ty and Nar­ra­ti­ve Ideo­lo­gy in Ro­bert A. Hein­lein’s Star­ship Tro­o­pers» be­reits ent­wi­ckelt. Al­ler­dings fasse ich das Kon­zept der Uto­pie enger als Go­chenour.[]