Von falschen und richtigen Bedürfnissen [Newtopia 2]

Ich bin nicht hier, um auf Luxus zu verzichten.

Reality-Shows folgen ebenso dramaturgischen Grundsätzen wie fiktionale Programme und sind deshalb auf Figuren mit klaren Konturen angewiesen, die möglichst im Konflikt miteinander stehen. Nur so entsteht Dramatik, Handlung. Entsprechend werden die 15 Pioniere von Newtopia inszeniert. Fitness-Trainer und Modell Hans kommt derzeit die Rolle des egoistischen Idioten zu, der sich schon mit seinem ersten Statement – dem Wunsch nach Trainingsanzug und Joggingschuhen – unmöglich gemacht hat. Im gleichen Stil geht es weiter: Hans nimmt keine Rücksicht auf die anderen und isst, wozu er Lust hat – Eier, Bohnen, etc. Das führt natürlich zu Konflikten.1

Im Vordergrund steht bei Newtopia die Unterhaltung, doch wird im zugrunde liegenden Konflikt und in Hans’ Aussage, dass er nicht auf Luxus verzichten will, ein typisches Motiv der klassischen Utopie sichtbar. Luxus ist den klassischen Utopien suspekt. Die Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Bedürfnissen ist fester Bestandteil der Gattung. Während in der realen Welt alle nur an Geld, Ruhm und Macht interessiert sind, werden im utopischen Staat die wahren Werte hoch gehalten. Alle kriegen, was sie wirklich brauchen, falsche Bedürfnisse, die einem ohnehin nur von der fehlgeleiteten Gesellschaft eingeimpft werden, sind unbekannt.

Hans frisiert seinen Bart.

Hans plädiert für die Luxus-Utopie.

Es gibt eine lange Tradition der utopischen Genügsamkeit; Güter werden gleichmässig durch den Staat verteilt, Kleider und Bauten sind zweckmässig und schlicht – oft auch einheitlich gehalten. Es herrscht ein spartanisches Schönheitsideal. Schmuck und anderer Tand ist meist verpönt. In Utopia wird Gold so gering geschätzt, dass man daraus Nachttöpfe fertigt.

Es gibt durchaus Ausnahmen; in Francis Bacons Fragment Nova Atlantis, einem der frühesten Nachfolger Morus’, werden ausführlich die aufwendig gewirkten, mit Edelsteinen besetzten Kleider der Würdenträger beschrieben. Und später, Ende des 19. Jahrhunderts, ist man einem nicht-asketischen Lebensstil auch nicht mehr so kategorisch abgeneigt. In Edward Bellamys Looking Backward (1888) wird ein riesiges Warenhaus als der glückselig machende Ort schlechthin inszeniert, der Kaufrausch wird zum utopischen Gefühl. William Morris lehnt die von Bellamy zelebrierte Massenfertigung in seinem News from Nowhere (1890) zwar entschieden ab, auch er ist aber das Gegenteil von sinnesfeindlich. Vielmehr zeichnet sich seine Welt gerade durch ihre Schönheit aus.

Insgesamt überwiegt aber die Idee der Beschränkung. Wenn alle optimal versorgt werden, gehören viele soziale Probleme der Vergangenheit an, dann gibt es keinen Grund mehr, sich auf Kosten anderer zu bereichern. Die Schwierigkeit liegt allerdings darin, dass die Meinungen auseinandergehen, welches nun die wahren Bedürfnisse sind – wie auch das Beispiel Newtopia zeigt: Hans will zum Frühstück ein Ei, egal, was die anderen wollen. Dass die Ernährung einer der Hauptkonfliktpunkte, ist freilich nicht weiter erstaunlich. Nur weniges macht so sauer wie Unzufriedenheit über das Essen. Das kennt man bereits aus dem Schullager.  Unter den Frauen ist dagegen  – so viel Sexismus muss sein – bereits ein Streit um Make-up entbrannt.

Während sich ein Teil der Pioniere also um Eier und Rouge streitet, beharren andere unverdrossen darauf, dass der Aufbau einer neuen Gesellschaft mit neuen Werten einhergehen muss. Politologie-Penner Candy formuliert das Problem folgendermassen: «Jeder transportiert seine Bedürfnisse von aussen in die neue Welt.» Und Hans würde dem wohl auch nicht widersprechen. Sehr schön seine Aussage, am besten wäre es doch, wenn die Pioniere so viel Geld verdienen würden, dass sie sich das ganze Essen von aussen bestellen könnte. Utopie ist für Hans, wenn ich im bestehenden System genug Geld habe.

Legte ebenfalls Wert auf Bartpflege: Francis Bacon.

Legte ebenfalls Wert auf Bartpflege: Francis Bacon.

Die klassischen Utopien sehen das freilich etwas anders, und wissen auch, wie man die richtigen Werte in einer Gesellschaft verankert. Eine zentrale Rolle kommt der Erziehung zu. Wenn einem von klein auf die richtigen Werte beigebracht werden, wenn man in einer Welt aufwächst, in der alle gleich gekleidet sind und ihr Geschäft auf goldenen Nachttöpfen verrichten, ist immun gegen alle Versuchungen. Der utopische Glaube an die Pädagogik ist fast grenzenlos (eigentlich hat man uns doch beigebracht, dass Geld nicht glücklich macht). Worüber sich die meisten Autoren ausschweigen, ist, was in der Zeit geschah, bevor die utopische Ordnung schon installiert wurde. Was ist mit all jenen, die noch die falschen Werte internalisiert haben. Mit anderen Worten: Wo bleibt Hans, wenn die Utopie dereinst Wirklichkeit ist? Im Grunde gibt es nur eine Lösung – wer sich nicht an die utopische Ordnung anpassen will, muss gehen oder wird liquidiert. Trübe Aussichten für Hans …

  1. Da die rund 50-minütige Sendung, die Sat.1 jeden Abend zeigt, einen Spannungsbogen haben muss, werden entsprechende Szenen natürlich besonders gerne gezeigt. Es wäre durchaus interessant, ob sich aus dem vorhandenen Material auch eine Gegenerzählung konstruieren liesse; etwa Hans als fürsorglicher Freund, der allen uneigennützig beisteht.[]

Utopia Is Televised

In der Utopieforschung gehört es zu den Standard-Wendungen, darauf zu beharren, dass die Utopie entgegen anders lautenden Behauptungen alles andere als tot sei. Und tatsächlich: Vielleicht liegt es ja nur an meiner erhöhten Sensibilität für das Thema, aber mir scheint, dass keine Woche vergeht, in der ich nicht über einen Feuilleton-Artikel, eine Ausstellung oder sonst eine Veranstaltung stolpere, in der es um Utopien geht. Und als hätte es noch der Bestätigung bedurft, dass die Utopie allgegenwärtig ist, hat Thomas Morus’ altehrwürdige Gattung nun auch noch die Niederungen des Reality-TVs erreicht.

Das Newtopia-Logo

Wenn das Thomas Morus wüsste …

Newtopia, das seit Anfang dieser Woche auf Sat.1 läuft, ist ein Format der Firma Endemol, mit Big Brother für die Mutter aller Reality-TV-Formate zuständig (Bruder – Mutter, ist das nun ein besonders cleveres oder ein besonders doofes Wortspiel?).1 Newtopia ist der Versuch, dieses nicht mehr ganz taufrische Sendungkonzept mit neuen Ingredienzen wieder attraktiv zu machen. Zu diesem Zwecke werden 15 Freiwillige ein Jahr lang auf ein abgetrenntes Gelände verbannt, das mit rudimentärster Infrastruktur – ein Stall, zwei Kühe, ein paar Hühner, ein Teich, Ackerland, Mobiltelefon, 5000 Euro – ausgerüstet ist. Einziger Hightech: Es hat überall Kameras. Was das Grüppchen daraus macht, wie sie sich organisieren, ist ihre Sache – «Totales oder Glück oder totales Chaos», wie es zu Beginn der ersten Folge so schön heisst.

Der utopische Gehalt der Joggingschuhe

Natürlich liegt der Reiz von Newtopia wie bei anderen Reality-TV-Formaten auch primär im Zwischenmenschlichen. Hinter der Auswahl der Kandidaten steht einiges Kalkül; gewisse Fähigkeiten müssen abgedeckt sein, deshalb gehören unter anderem ein Landwirt, ein Koch und ein Handwerker zur Truppe. Ebenso klar ist aber, dass gewisse Leute nur mit dabei sind, weil sie für Reibereien sorgen werden. So etwa der 44-jährige Candy – ausgesprochen «Sandy» –, der sich selbst zwar als Politikwissenschaftler bezeichnet, der aber mehr wie eine Mischung aus faulem Althippie und asozialem Penner wirkt. Oder die Studentin Karolina, die zum Auftakt gleich verkündet, dass sie es nicht zulassen wird, dass in Newtopia Tiere geschlachtet werden. Der Konflikt mit Bauer Christian scheint vorprogrammiert. Und dann dürfen natürlich auch Leute vom Schlag eines Hans – Modell, Fotograf und Fitness-Trainer – nicht fehlen, die durch sagenhaft dumme Statements auffallen. Im Falle von Hans die Aussage, dass er vor allem anderen einen Trainingsanzug und Joggingschuhe brauche (logisch: Ist eine bessere Gesellschaft ohne fachkundig durchgeführte körperliche Ertüchtigung denkbar?). Soweit als das bekannte Prinzip: Als Zuschauer lehnt man sich bei Nüsschen und Bier zurück und mokiert sich über die Beschränktheit der Newtopier.

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Candy, der arbeitsscheue Politologe

Zwar geht es in Newtopia vorderhand um den Aufbau einer neuen Gesellschaft, da dies aber wohl nicht interessant genug ist, hat man alle möglichen Schikanen eingebaut. So wird jeden Monat ein Pionier durch das Publikum abgewählt und mit einem neuen ersetzt, was sehr deutlich zeigt, dass typische Gameshow-Aspekte letztlich wichtiger sind als der Aufbau einer neuen Gesellschaft. Zudem ist die Anlage weder mit Strom oder Wasser verbunden – beides müssen die Pioniere, wie sie offiziell heissen, selbst besorgen. Auch sonst gibt es allerhand Beschränkungen, die nicht aus der Anlage des Experiments – so die Selbstzeichnung – folgen, sondern einzig dramaturgische Gründe haben. Beispielsweise das erste Treffen vor Ort, wo den Pionieren eröffnet wird, das sie noch einmal nach Hause gehen dürfen, um lebenswichtige Dinge einzupacken. Der Haken: Um sich abzusprechen haben sie lediglich eine halbe Stunde Zeit, für die eigentliche Packaktion dann nur noch 15 Minuten,. Zudem darf jeder nur so viel mitnehmen, wie in eine nicht allzu große Kiste passt. Man würde ja meinen, dass für die Gründung einer neuen Gesellschaft etwas mehr Vorarbeit und Absprache nötig wäre, aber mit klaren Deadlines erzeugt nun mal mehr fernsehtaugliche Dramatik.

Sieht man mal über die offensichtliche Idiotie des Settings hinweg und betrachtet das Ganze mit dem Wissen über die Geschichte der Utopie im Hinterkopf, zeigen sich dennoch ein paar interessante Dinge. Da wären einmal die typischen Phrasen: «Ich träume von einer besseren Welt.» – «Es gibt eine bessere Welt als die  draussen». Und so weiter. Ernst Bloch wird’s freuen: Der utopische Impetus ist lebendig.

Utopie im Aufbau

Newtopia zeigt eine Phase, die in den literarischen Utopien typischerweise fehlt, nämlich die des Aufbaus. Normalerweise sind die utopischen Staaten bereits fertig und voll funktionsfähig – wie sie zustande gekommen sind, bleibt unklar. Newtopia ist diesbezüglich durchaus instruktiv, weil sich bereits hier das Grundproblem der klassischen Utopie zeigt: Die Ansichten über die ideale Gesellschaftsform gehen auseinander, und das eigentliche Problem liegt darin, hier einen Konsens zu erreichen.

Kriegsrat in Newtopia

Die Pioniere beim «Demokratie-Scheiß-Gelaber».

Sehr schön in diesem Zusammenhang eine der ersten Gruppensitzungen in der zweiten Folge: Eigentlich sollen praktische Dinge besprochen werden, aber sogleich landen einige Pioniere bei grundsätzlichen Fragen: Was für ein System haben wir eigentlich? Wird demokratisch abgestimmt, gibt es Hierarchien, Führungspositionen? Und soll man solche Fragen gleich zu Beginn diskutieren, weil aus ihnen alles andere folgt, oder wäre es nicht besser, sich mal aufs nackte Überleben zu konzentrieren und derartige Luxusprobleme später anzugehen. Ebenfalls sehr schön die Reaktion von Jogging-Enthusiast Hans: Nach kurzer Zeit hat er genug und läuft davon – «Ihr habt die Diskussion kaputt gemacht mit Eurem Demokratie-Scheiss-Gelaber». Ein bisschen mehr Debattierfreude ist wohl nötig, wenn man eine neue Gesellschaft errichten will.

Was ebenfalls schnell klar wird: Die Rahmenbedingungen sind so gesetzt, dass der effektive Gestaltungsspielraum für die Newtopier sehr eingeschränkt ist. Da die Ressourcen knapp sind, wird es nicht ohne Handel mit der Außenwelt gehen. Dazu braucht es Geld und dieses kriegt man nur mit Geschäftsideen. Mit anderen Worten: Eine echte Alternative zu einem kapitalistischen System haben die Pioniere gar nicht. Als autarke, von der Umwelt weitgehend abgetrennte Inseln umgehen die klassischen Utopien dieses Problem, Newtopia dagegen ist so konzipiert, dass es nicht selbstversorgend ist.

Zumindest zwei Pionieren ist dieses Problem durchaus bewusst. Sowohl der verpennte Candy als auch der äußerst rührige Steffen (Beruf: Hartz-IV-Empfänger) fragen immer wieder, ob es denn wirklich darum gehen kann, die Werte von «draußen» zu reproduzieren, oder ob eine neue Gesellschaft nicht auch neue Werte braucht. Auch damit sind wir wieder bei einem Grundproblem jeder Utopie.

Anders als die US-Version wird Newtopia täglich ausgestrahlt. Mal schauen, wie lange ich am Ball bleibe.

  1. Newtopiaist bereits der dritte Aufguss der Sendung. Das holländische Original läuft anscheinend nach wie vor mit großem Erfolg. Die US-amerikanische Version von Fox, die wie das Original noch Utopia hieß, wurde nach anfänglichem großem Tamtam bereits nach wenigen Folgen eingestellt.[]

«Demand the Impossible»

In der neuen Ausgabe der SFRA Review ist eine Rezension von mir zu Tom Moylans Demand the Impossible: Science Fiction and the Utopian Imagination enthalten, das vergangenes Jahr in der Reihe Ralahine Utopian Studies neu aufgelegt wurde. Moylans 1986 erstmals erschienenes Buch, von dem 1990 auch eine deutsche Übersetzung veröffentlicht wurde,1 gehört mittlerweile zu den Klassikern der Utopieforschung und das darin entwickelte Konzept der kritischen Utopie ist fester Teil des wissenschaftlichen Vokabulars geworden. Obwohl mir Moylans Überlegungen schon in diversen anderen Texten begegnet sind, muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich das Buch bisher nicht gelesen hatte. Die Neuauflage war somit ein guter Anlass, diese Bildungslücke zu schließen.

Das Cover von «Demand the Impossible»Ich möchte hier nicht die ganze Rezension wiederholen, deshalb nur kurz: Moylan untersucht in Demand the Impossible vier in den 1970er Jahren erschienene (Science-Fiction-)Romane, nämlich Joanna Russ’ The Female Man, Ursula K. Le Guins The Dispossessed, Marge Piercys Woman on the Edge of Time und Samuel R. Delanys Triton. Was diese Bücher verbindet, ist, dass sie in Moylans Augen die utopische Tradition weiterführen und transformieren. Nachdem die klassische – statische – Utopie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in eine Krise geraten ist, werden utopische Totalentwürfe spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich verdächtig. Die Idee einer umfassenden Neuen Weltordnung hat zu diesem Zeitpunkt viel von ihrer Attraktivität verloren. Hier haken die Romane ein, indem sie keine abgeschlossenen Baupläne mehr präsentieren, sondern vielmehr dynamische Szenarien entwerfen, die zudem innerhalb des Romans kritisch hinterfragt werden. Die Utopie kritisiert nicht mehr nur die Gegenwart, vielmehr wird sich die Gattung ihrer eigenen Beschränkungen und Probleme bewusst und setzt sich mit diesen auseinander; in Moylans Worten – der meistzitierten Passage des Buchs – klingt das so:

[a] central concern in the critical utopia is the awareness of the limitations of the utopian tradition, so that these texts reject utopia as blueprint while preserving it as a dream (10).

Das Konzept der critical utopia ist heute fester Bestandteil der “offiziellen” Gattungsgeschichte und wurde mittlerweile um weitere Varianten ergänzt. Moylan selbst hat in Scraps Of The Untainted Sky (2000) den Begriff der critical dystopia hinzugefügt.

Ein Grund, weshalb ich bislang einen Bogen um Moylans Buch gemacht habe, war, dass ich einen Jargon-Exzess befürchtete. Wissenschaftliche Klassiker zeichnen sich ja nicht selten durch Unverständlichkeit aus, und gerade bei einem in den 1970er Jahren entstandenen Buch – obwohl Demand the Impossible 1986 erschien, ist es, wie Moylan selbst schreibt, ein Kinder der 1970er – ist marxistisch-kritisches Geschwurbel leider keine Seltenheit. Umso größer meine Freude, dass sich das Buch als erstaunlich gut lesbar entpuppte. Insbesondere Moylans Ausführungen zur klassischen Utopie sind erfreulich kompakt und klar; inhaltlich lässt sich ebenfalls kaum etwas aussetzen. Was Moylan hier schreibt, hat auch knapp 30 Jahre später noch Gültigkeit.

Das Cover von «The Dispossessed»Da ich von den untersuchten Romanen einzig den Le Guins kenne – an The Female Man bin ich beim ersten Versuch gescheitert, vor Triton habe ich Angst –, kann ich nicht allzu viel zu den eigentlichen Analysen sagen. Grundsätzlich scheinen diese aber sehr konzise. Wie ich in der Rezension schreibe, ist es interessant, dass mit The Dispossessed das zweifellos erfolgreichste der vier besprochenen Bücher die härteste Kritik einstecken muss. Inwieweit diese begründet ist, darüber kann man wohl streiten.

Die Neuauflage kommt mit über hundert Seiten neuem Material daher. Davon ist nicht alles gleich aufschlussreich. Die Idee, dass Kollegen Moylans etwas zu seinem Buch schreiben, ist zwar nett, nicht alle der Beiträge tragen aber wirklich zu neuen Erkenntnissen bei. Vermisst habe ich einen Blick nach vorne: Was ist in den folgenden Jahrzehnten aus der kritischen Utopie geworden, wo steht die Gattung heute? Dazu findet man leider wenig. Man kann dies damit erklären, dass sich Moylan in seinen  späteren Büchern genau diesen Fragen widmet, ein paar Ausblicke wären aber dennoch angebracht gewesen. Denn dass die Idee der kritischen Utopie weiterentwickelt wurde, scheint mir offensichtlich. Kim Stanley Robinsons Mars-Romane etwa stehen eindeutig in dieser Tradition.

Trotz dieser Kritik ist das Fazit eindeutig positiv. Ein Klassiker, der diesen Titel zurecht trägt; ein Buch, das jeder, der sich mit der Utopie beschäftigt, gelesen haben sollte.

Ausgabe 311 der SFRA Review mit der besagten Rezension ist auf der Website der Zeitschrift erhältlich.

Literatur

Moylan, Tom: Demand the Impossible. Science Fiction and the Utopian Imagination. Hg. von Raffaella Baccolini. Oxford/Bern/Berlin 2014 (11986).
Moylan, Tom: Scraps of the Untainted Sky: Science Fiction, Utopia, Dystopia. Boulder 2000.

  1. Moylan, Tom: Das Unmögliche verlangen: Science-fiction als kritische Utopie. Hamburg/Berlin: Argument 1990.[]

Diss online

Buchcover «Die Konstitution des Wunderbaren»Anfang Jahr kam eine E-Mail vom Schüren-Verlag: Alle Exemplare meiner Dissertation Die Konstitution des Wunderbaren sind verkauft, das Buch gilt nun als vergriffen. Meine Reaktion darauf war zwiespältig. Einerseits ist es keineswegs selbstverständlich, dass bei einer Dissertation die ganze Auflage weggeht. Mit einer Auflage von 600 Exemplaren bin ich natürlich weit von Bestseller-Zahlen entfernt, bei vielen ähnlich gelagerten Büchern bleibt es aber im Wesentlichen bei den Pflichtexemplaren und -käufen (von Unibibliotheken und ähnlichen Institutionen). Soweit also Grund zur Freude: Mein Buch wurde also tatsächlich gekauft – und vielleicht sogar gelesen.

Aber natürlich kratzt es auch am Autorenego, dass mein Opus nun nicht mehr erhältlich ist. Was tun? Von Schüren kam diesbezüglich eine klare Antwort: Eine Folgeauflage ist für den Verlag finanziell uninteressant, zumal kein Druckkostenbeitrag vom SNF in Aussicht steht. Damit fallen nun sämtliche Rechte an dem Titel an mich zurück. Ich habe mich deshalb dazu entschlossen, das Buch digital zugänglich zu machen. Alle Interessierten können es hier herunterladen.

Zugleich denke ich aber auch über eine Neuauflage nach. Ich bin diesbezüglich bereits im Gespräch mit einem anderen Verlag. Derzeit bin ich noch am Hirnen, wie diese Ausgabe aussehen soll. Seit der Veröffentlichung der Konstitution ist in der SF-Forschung – gerade auch im Filmbereich – viel passiert; das Feld ist regelrecht explodiert. Aber obwohl in den vergangenen Jahren viel publiziert wurde, haben nur wenige Arbeiten die von Darko Suvin ausgehenden Theorietradition, die im Zentrum meines Buches steht, aufgenommen. Ob das nun für oder gegen mein Buch spricht, weiss ich nicht, auf jeden Fall scheint es mir damit noch nicht obsolet. Den Text vollständig zu aktualisieren, wäre allerdings ein grosses Unterfangen. Für ein solches Projekt fehlt mir momentan schlicht die Zeit.

Dennoch habe ich vor, für die Neuausgabe einige Dinge zu ergänzen. Wahrscheinlich wird es neben der Korrektur offensichtlicher Fehler am Ende auf ein zusätzliches Kapitel herauslaufen, in dem ich einige neuere Entwicklungen aufgreife. Ganz nach dem Motto: «Was seither geschah».

Aber das ist noch Zukunftsmusik, vorerst können sich alle Interessierten, die es noch nicht getan haben, das Buch gratis zu Gemüte führen (die DVD, die dem Buch beilag, fehlt allerdings).

Things to Come

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Ein zeitgenössisches Plakat – zuoberst thront Wells’ Name.

In der neuen Ausgabe des Quarber Merkurs, Franz Rottensteiners Urgestein der deutschsprachigen Phantastik-Publizistik, ist neben zwei Rezensionen ein längerer Artikel von mir zu William Cameron Menzies’ Things to Come enthalten.1 Things to Come gehört zu den Werken, an denen man nicht vorbei kommt, wenn man sich für filmische Utopien interessiert. Vielerorts ist zu lesen, dass dieser Film am ehesten als filmisches Gegenstück einer literarischen Utopie gelten kann. Für den Spielfilm dürfte dieser Befund wahrscheinlich sogar korrekt sein – Frank Capras Lost Horizon wäre ein anderer Kandidat –, was aber im Grunde nur zeigt, wie schlecht (positive) Utopie und Spielfilm zusammenpassen. Denn das, was die literarische Utopie ausmacht – die detaillierte Beschreibung der utopischen Ordnung –, ist in Things to Come weitgehend abwesend. Zwar zeigt uns der Film eine wunderbare Stadt der Zukunft, in der – fast – alle zufrieden sind, darüber, wie diese Gesellschaft organisiert ist, schweigt sich der Film aber aus.

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Wells am Set von Things to Come

Things to Come gehört zur Kategorie der grandios gescheiterten Filme. Produzent Alexander Kordas Ziel war eine sowohl inhaltlich aus auch formal anspruchsvolle Prestige-Produktion. Herausgekommen ist ein seltsamer Murks, in dem sich einzelne visuell beeindruckende Momente mit langen Monologen hölzerner Schauspieler abwechseln. Als Spielfilm definitiv gescheitert, aber als Analysenobjekt – nicht zuletzt aufgrund seiner Probleme – hoch interessant.

Die zentrale Figur des Projekts war H. G. Wells. Er sollte garantieren, dass ein ernsthafter, wichtiger Film entstehen würde, und er war wohl auch in nicht geringem Masse für dessen Probleme verantwortlich. Wells spielte sowohl in der Geschichte der Utopie als auch in derjenigen der Science Fiction eine zentrale Rolle. Obwohl es zahlreiche literarische Vorläufer gab, spricht doch einiges dafür, die Geburt der SF als eigenständiges Genre mit dem Erscheinen von The Time Machine (1895) anzusetzen.2 Zugleich trug Wells’ massgeblich zur Modernisierung der utopischen Literatur bei. A Modern Utopia von 1905 bringt dem Genre eine entscheidende Änderung: Wells schreibt bereits im Vorwort, dass eine moderne Utopie im Gegensatz zu ihren klassischen Vorgängern nicht statisch sein dürfe. Vielmehr muss eine zeitgemässige Form der Utopie offen und nicht auf einen fixierten Endzustand hin konzipiert sein.

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Die Stadt der Zukunft

In der zweiten Hälfte seiner Karriere trat Wells immer mehr als Politaktivist in Erscheinung. In zahlreichen Veröffentlichungen – Romanen und Sachbüchern – propagierte er seine Vision eines sozialistischen Weltstaats. Zu diesen Büchern gehört auch das 1933 erschiene The Shape of Things to Come,  eine fiktionale Chronik der Zukunft, welche die Geschichte der Menschheit von 1933 bis 2106 beschreibt. Am Ende ist der Weltstaat Realität und die Probleme der Menschheit gelöst. Dieses ziemlich dröge Buch, das die Geschehnisse primär protokolliert, also ohne eigentliche Protagonisten und dramatischen Bogen auskommt, war die Basis für den Film. Wells sollte aber nicht nur die Vorlage liefern, sondern auch das Drehbuch verfassen. Zudem gestand ihm sein Vertrag zu, bei jedem Aspekt der Produktion mitzureden. Ein Recht, von dem Wells – der davon überzeugt war, das Medium Film verstanden zu haben – ausgiebig Gebrauch machte. Die Tatsache, dass Regisseur Menzies von Haus aus Ausstatter war und weitaus mehr Erfahrung im Entwerfen dramatischer Szenerien als im Führen von Schauspieler besass, machte die Sache nicht besser.

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In Wells’ Zukunft gibt es wenig zu lachen.

Das wirklich Merkwürdige an Things to Come ist aber, dass der Film zwar zahlreiche Szenen enthält, in denen ernste Herren – in Wells’ Zukunft spielen Frauen keine grosse Rolle – ausführlich die Ansichten des Autors verbreiten, dass wir aber dennoch kaum etwas über die Organisation dieser Welt erfahren. In dieser Hinsicht erweist sich diese filmische Utopie als äusserst utopieuntypisch. Stattdessen inszeniert der Film im letzten Teil, als der Weltstaat Wirklichkeit ist, einen merkwürdigen Showdown um den Start einer Mondrakete – genauer: eines Mondprojektils –, wobei diese nur als Vorwand für einen langen Schlussmonolog der Hauptfigur erscheint.

Alles Weitere zum Film im aktuellen Quarber Merkur. Beizeiten werde ich den Artikel dann auch online stellen. Zum Schluss als kleines Schmankerl noch eine Passage aus dem Tagebuch von Arthur C. Clarke. Clarke arbeitete bekanntlich eng mit Stanley Kubrick zusammen, um das Drehbuch von 2001: A Space Odyssey zu entwickeln. Kubrick sah zu dieser Zeit alles, was er an filmischer SF auftreiben konnte, und sein Co-Autor empfahl ihm, sich doch auch mal Things to Come zu Gemüte zu führen. Kubrick Reaktion gibt Clarke folgendermassen wieder:

Stanley calls after screening H. G. Wells’ Things to Come, and says he’ll never see another movie I recommend« (Clarke 1972: 35).

Ich kann Kubricks Reaktion durchaus nachvollziehen. Man würde allerdings meinen, dass sich der Geschmack zweier Autoren, die an einem gemeinsamen Projekt arbeiten, halbwegs decken muss. Aber anscheinend ist dem nicht so …

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Bereit für den Aufbruch ins All

 

Update: Der Artikel ist nun als PDF verfügbar.

Spiegel, Simon: «‹A Film Is No Place For Argument›. William Cameron Menzies’ Things to Come». In: Quarber Merkur. Franz Rottensteiners Literaturzeitschrift für Science Fiction und Phantastik Nr. 115, 2014, 99–116.

Weitere erwähnte Literatur

Clarke, Arthur C.: The Lost Worlds of 2001. The Ultimate Log of the Ultimate Trip. New York 1972.
Wells, H. G.: Tono-Bungay and A Modern Utopia. London 1908[1905]).
Wells, H. G.: The Shape of Things to Come. New York 1979[1933].

  1. Bei den besprochenen Werken handelt es sich um das Metzler-Handbuch Phantastik sowie im Wolfgang Ruges Studie Roboter im Film. Die Rezensionen sind hier und hier erhältlich.[]
  2. Gemeint ist hier, dass es vorher zwar durchaus Werke gab, die man heute der SF zurechnen würde, dass diese aber in anderen Genrezusammenhängen entstanden sind. Frankenstein ist eine Gothic Novel, Jules Verne steht in der Tradition phantastischer Reiseberichte etc. Wells hingen kann durchaus als Begründer einer neuen Genretradition gesehen werden, auch wenn diese erst rund 30 Jahre später in den USA zu ihrem Namen kam.[]

Generisches

Genretheorie ist eines meiner wissenschaftlichen Steckenpferde; ein Grund dafür ist wohl, dass im Phänomen des Genres ganz unterschiedliche Aspekte, die mich interessieren, zusammenkommen: Es geht um wiederkehrende Motive und Plot-Elemente, also um Textanalyse und Dramaturgie. Es geht aber auch um Fragen der Rezeption, denn Genres haben nicht zuletzt eine wichtige Orientierungfsunktion. Für den Zuschauer dienen sie als eine Art narrative Abkürzungen: Es reicht, einen Mann mit Cowboyhut auf einem Pferd zu zeigen, und schon wissen wir, was wir von dem Film erwarten können. Und mit diesen Erwartungen kann der Film wiederum spielen. Da Genres nicht stabil sind, sondern sich laufend verändern, darf sich ihre Analyse allerdings nicht auf den Film beschränken, sondern muss auch andere – filmexterne – Faktoren wie z.B. die Werbung berücksichtigen. Idealerweise kombinieren Genrestudien deshalb die Filmanalyse mit historischer Recherche.

Soweit ich die Geschichte der Genretheorie überblicke, scheint sie von mehrfachen «Rückschlägen» geprägt. Denn dass sich Genres nicht auf einer abstrakt-systematischen Ebene beschreiben lassen, erkannten bereits die russischen Formalisten in den 1920er Jahren. So schrieb Boris Tomaševskijs in seiner 1931 erstmals erschienenen Theorie der Literatur 

dass es nicht möglich ist, irgendeine logische oder fest umrissene Genreklassifikation zu erstellen. Ihre Abgrenzung ist immer historisch, d. h. sie trifft nur auf einen bestimmten historischen Moment zu (Tomaševskij: 249).

Diese Erkenntnis scheint «unterwegs» aber verloren gegangen zu sein. Für die Strukturalisten, die ja in vielen Punkten das Programm der Formalisten weiterführen, war keineswegs evident, dass sich Genres systematischen Beschreibungsversuchen widersetzen. Vielmehr versuchten sie, Genres auf elementare Strukturen zu reduzieren (das prominenteste Beispiel ist natürlich Todorovs Phantastik-Theorie). Dies ist aber nur möglich, wenn man sich von der Genregeschichte verabschiedet und beispielsweise darüber hinwegsieht, dass ein Western der 1940er Jahre in vielerlei Hinsicht anders aussieht  als einer der 1970er. Ein Beispiel unter vielen möglichen zur Illustration: In den Spaghetti-Western der 1970er tragen die Revolverhelden auf einmal lange Mäntel. Eine markante Veränderung der Ikonographie, die sich kaum durch eine abstrakte Regel erklären lässt.

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In Sergio Leones Once Upon a Time in the West sind lange Mäntel im Trend.

Nachdem in den 1960er und 1970er Jahren die meisten Genre­konzeptionen ausschliesslich vom Text (gemeint sind Filme und literarische Texte) ausgingen, hat sich mittlerweile sowohl in der Film- als auch der Literaturwissenschaft die Erkenntnis durchgesetzt, dass dieses Vorgehen nicht reicht, um das Phänomen Genre zu erfassen. Deshalb versuchen moderne Ansätze, die formale Analyse vor dem Hintergrund des jeweiligen historischen Kontexts zu betreiben. Für mich war Rick Altmans Buch Film / Genre diesbezüglich ein Augenöffner. Ich kann es jedem, der sich für Genretheorie interessiert, wärmstens empfehlen.

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Rick Altmans Film/Genre

Die Theorie mag weit fortgeschritten sein, die Auswirkungen auf die Forschung lassen aber nach wie vor auf sich warten. Viele Studien zu Phantastik, SF und verwandten Bereichen zeigen sich auch heute noch vollkommen ignorant in Sachen Genretheorie. Die Dissertation von Karin Angela Rainer, von der hier bereits die Rede war, verfährt beispielsweise völlig unbeleckt von jeder genretheoretischen Überlegung und kommt zu entsprechend hanebüchenen Ergebnissen. Ein Extrembeispiel, aber in der Tendenz keineswegs allein. Wie ich aus eigener Erfahrung berichten kann, scheint es unter angehenden Forschern einen fast natürlichen Reflex zu geben, die Dinge erst einmal ordnen zu wollen. Meine Liz-Arbeit (so hiess die Master-Arbeit früher bei uns), welche die Grundlage meiner Diss bildetet, begann ich mit just diesem Anspruch: Endlich einmal aufräumen im grossen Genrewirrwarr und klare Kategorien etablieren. Glücklicherweise stiess ich rechtzeitig auf Altman und konnte ausgehend von seinen Überlegungen einen Ansatz entwickeln, der sich bis heute als tragfähig erweist.

Der natürliche Ordnungsdrang in Verbindung mit der naiven Vorstellung, dass Genres da draussen irgendwie an sich existieren, führt dazu, dass viele Arbeiten völlig ahistorisch verfahren und nur jene Filme und Romane untersuchen, die eben der jeweiligen Definition entsprechen. Das muss nicht per se falsch sein, führt aber oft zu völlig verzerrten Darstellungen historischer Entwicklungen. Und letztlich lässt sich ein Grossteil der Diskussionen, was SF, Phantastik etc. denn nun wirklich sind, auf genretheoretische Fragen zurückführen. Denn entscheidend ist meist gar nicht, wie man Phantastik, SF etc. definiert, sondern von welcher Art das Ding ist, das man da definieren will.

Ich hatte schon länger die Absicht, einen Artikel zu schreiben, in dem ich die – deutsche – Phantastik-Diskussion aus genretheoretischer Sicht aufrolle (John Rieder hat in einem lesenswerten Artikel bereits etwas Ähnliches für die SF getan). Rainers Studie gab dann den Ausschlag, dass ich mich endlich hingesetzt und das Vorhaben ausgeführt habe. Gestern habe ich den Artikel mit dem Titel «Wovon wir sprechen, wenn wir von Phantastik sprechen» abgeschlossen und meinen Kollegen von der ZFF zugeschickt, nun geht er ins Peer Review (ja, auch Herausgeber müssen diesen Prozess durchlaufen). Sollte der Artikel auf Zustimmung stossen, wird er in der nächsten ZFF erscheinen.

Bibliografie

Altman, Rick: Film/Genre. London 2000.
Rieder, John: «On Defining SF, or Not: Genre Theory, SF, and History». In: Science Fiction Studies 37.2/111, 2010, 191-209.
Tomaševskij, Boris: Theorie der Literatur. Poetik. Hg. von Klaus-Dieter Seemann. Wiesbaden 1985 (Original: Teorija literatury, poetika. Moskau and Leningrad 1931).

Neue Aufgaben

Die aktuelle Ausgabe der ZFF

Die aktuelle Ausgabe der ZFF

Seit Montag ist es offiziell: Ich bin neu an der Seite von Jacek Rzeszotnik, Lars Schmeink (beide bisher) und Laura Muth (ebenfalls neu) Herausgeber der Zeitschrift für Fantastikforschung. Die ZFF, in der schon mehrfach Beiträge von mir erschienen sind – zuletzt mein Mystery-Artikel –, ist das offizielle Organ der Gesellschaft für Fantastikforschung und erscheint zweimal im Jahr. Ich freue mich sehr auf diese neue Aufgabe  und hoffe, dass ich ein bisschen dazu beitragen kann, dass die ZFF noch erfolgreicher wird.

Alles Weitere zur ZFF hier im ständigen Call for Papers:

Die Zeitschrift für Fantastikforschung (ZFF) ist interdisziplinär angelegt und erscheint zweimal jährlich, jeweils im Mai und im November. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, der wissenschaftlichen Diskussion rund um die Fantastik als kultureller Formation ein Forum zu bieten. Das ‹Fantastische› wird dabei als ein Oberbegriff verstanden, der Horror und Gothic ebenso umfasst wie Utopien, Science Fiction, Fantasy und Speculative Fiction, aber auch Märchen, Fabeln und Mythen. Im deutschsprachigen Raum ist die von der Gesellschaft für Fantastikforschung e.V. (GFF) herausgegebene Zeitschrift die einzige wissenschaftliche Publikation in deutscher Sprache, die regelmäßig erscheint und sich ganz der Auseinandersetzung mit dem Fantastischen widmet.
Publiziert werden Originalbeiträge aus den verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Fantastischen in Literatur, Kunst, Theater, Film, Comic und Computerspiel beschäftigen, einzelne Aspekte der Geschichte, Theorie und Ästhetik der Fantastik behandeln oder das Fantastische als soziales und gesamtkulturelles Phänomen untersuchen (z.B. in Fan- und Subkulturen). Zusätzlich dazu veröffentlicht die ZFF regelmäßig Übersetzungen von kanonischen Texten der internationalen Fantastikforschung, die bislang nicht auf Deutsch erschienen sind, deren Publikation aber für die Beförderung der Fantastikforschung in deutscher Sprache notwendig erscheint. Darüber hinaus erscheinen in der ZFF Rezensionen zu wichtigen Neuerscheinungen wissenschaftlicher Arbeiten.

Die Herausgeber rufen interessierte Forscher auf, sich mit Artikeln aus dem oben beschriebenen Gebiet an der Zeitschrift für Fantastikforschung zu beteiligen. Beiträge können jederzeit als Word-File unter zff@fantastikforschung.de eingereicht werden. Sie sollten (inkl. Leerzeichen, Fußnoten und Literaturverzeichnis) zwischen 40.000 und 70.000 Zeichen umfassen, einen originären Beitrag zur Fantastikforschung darstellen und noch nicht anderweitig veröffentlicht sein. Sämtliche Texte werden einem Peer-Review-Verfahren unterzogen, auf dessen Grundlage über ihre Publikation entschieden wird. Wer als Rezensent oder Übersetzer für die Zeitschrift tätig werden möchte, wende sich bitte ebenfalls an oben genannte Adresse. Informationen zur Form der Rezension erhalten Sie nach Bestätigung eines entsprechenden Auftrages.

Utopie Europa

An den 18. Internationalen Kurzfilmtagen Winterthur, die gestern zu Ende gingen, war ein grosser thematischer Schwerpunkt Europa gewidmet. Für mich besonders interessant war das Programm Visionen I: Werben für Europa, in dem Filme aus den 1950er- und 1960er-Jahren zu sehen waren, in denen unterschiedliche Organisationen (Marshall-Plan, Montanunion, Europarat etc.) für ein geeintes Europa warben. Die sechs gezeigten Filmen waren von der Machart her sehr unterschiedlich, dennoch gab es Motive, die sich mehr oder weniger durch alle Beispiele zogen: die Sinnlosigkeit der vielen Grenzen in Europa, das europäische Projekt als Garant für den Frieden (der Zweite Weltkrieg war je nach Film explizit ein Thema oder wurde nur indirekt angedeutet) und die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben würden (die lästige Tatsache, dass man ständige andere Währungen braucht, wurde ebenfalls thematisiert). Immer wieder waren Europa-Karten mit Mauern zu sehen, die es zu überwinden galt. Wobei die Mauern gegen das «andere Europa» des Ostblocks oft ein wenig höher ausfielen als die innerhalb Westeuropas. Die Schweiz war übrigens erstaunlich oft ein integraler Teil des imaginierten geeinten Europas. Mehrfach wurde zudem explizit der Vergleich mit den USA – «die vereinigten Staaten von Europa» – gezogen.

Ein Büro-Roboter ohne Manieren

Ein Büro-Roboter ohne Manieren

Da in fast allen Beispielen  eine besser zukünftige Welt gezeigt wurde – und zwar als Resultat konkreter politischer Schritte –, passten die meisten Filme in mein Thema. Und obwohl es immer wieder Spielszenen gab, hatten alle Filme letztlich einen dokumentarischen Charakter. Besonders interessant war der Film Europa 1978 (Alternativtitel: Twenty Years After) von Paul Claudon. Der Film aus dem Jahr 1958 zeigt einen fiktiven Rückblick aus dem Jahr 1978, in dem das geeinte Europa prosperiert. Wir sehen alle möglichen Wunderwerke wie Einschienenbahnen, modernste Wolkenkratzer, die Einheitswährung Europa, Atom- und Solarkraftwerke, Linienflüge zum Mond, Roboter und einiges mehr (im einzigen Screenshot, den ich auftreiben konnte, ist ein Roboter zu sehen, der eine Sekretärin begrapscht). Gemäss dem Filmwissenschaftler Thomas Tode, der das Programm zusammengestellt und moderiert hat, verarbeitet Europa 1978 bestehendes Material aus anderen Industrie- und Werbefilmen. Die Zukunft, die uns der Film zeigt, ist somit ein Potpourri des damals Neusten vom Neuen, wobei man bei einigen Aufnahmen nur erahnen kann, was wir da eigentlich sehen. Zum Beispiel ist in einer Einstellung ein Mann in einem seltsamen aufblasbaren Kunststoffanzug zu sehen, während der Off-Kommentar von den Möglichkeiten der Atomkraft schwärmt. Nach einem Strahlenschutzanzug sieht der überdimensionale Ballon allerdings nicht aus; wahrscheinlich hat man relativ wahllos Material verwendet, das irgendwie futuristisch aussah. Der Film ist ein schönes Beispiel dafür, wie mittels primär dokumentarischer Aufnahmen ein fiktives Szenario illustriert werden kann und die Behauptungen des Films kraft der dokumentarischen Bilder faktualisiert werden.

Thomas Tode ist übrigens Mitarbeiter in dem DFG-Forschungsprojekt Werben für Europa und die Filme, die er gezeigt hat, Teil eines Korpus mehrerer hundert Filme, die im Rahmen des Projekts untersucht wurden. Eine Publikation ist für nächstes Jahr angekündigt. Eine wahre Fundgrube für mich …

Phantastische Gattungen

Auslöser dieses Posts, das nichts mit Utopien zu tun hat, ist eine Publikation zur phantastischen Literatur von Karin Angela Rainer, welche dieses Jahr bei Peter Lang erschienen ist. Als Todorov-Geschädigter – seine Phantastik-Theorie verfolgt mich seit meinem Studium – begegne ich neuen Publikationen zum Thema jeweils mit einer gewissen Skepsis. Mittlerweile scheint mir zu der durch seine Einführung in die fantastische Literatur angestossenen Forschungsrichtung wirklich alles gesagt worden zu sein. Meine erste Reaktion angesichts von Rainers Buch war denn auch ein beherztes «schon wieder?».1

Was folgt, ist keine ausgewachsene Rezension, sondern einige allgemeine Überlegungen nach der Lektüre des ersten Kapitels.

Das Buch

Reiners Buch

In der deutschsprachigen Forschung hat «Phantastik» zwei unterschiedliche Bedeutungen. Vielerorts ist damit jegliche Art nicht-realistischer Geschichte gemeint; Phantastik erscheint dann als Sammelbegriff, der unter anderem Märchen, Fantasy, SF sowie Teile des Horrors umfasst.2 Für Todorov dagegen liegt das Phantastische nur dann vor, wenn bei einem vorderhand ungeheuerlichen Vorgang nicht entschieden werden kann, ob dieser rationale (bei Todorov «unheimliche») oder übernatürliche («wunderbare») Ursachen hat. Soweit die unterschiedlichen Nomenklaturen. Darüber zu diskutieren, welches nun die richtige Definition von Phantastik ist, führt zu nichts; sinnvoller ist es zu akzeptieren, dass der Sprachgebrauch nicht einheitlich ist, und klar zu machen, von welcher Phantastik man jeweils spricht.

Kommen wir nun zum Stein des Anstosses und dem Auslöser für diesen Blogeintrag: Rainer weicht zu Beginn ihre Buches von der etablierten Forschung ab, indem sie in zwei Unterkapiteln der Frage nachgeht, was Buchmarkt und Leserschaft mit dem Label «phantastische Literatur» verbinden. Dieses Vorgehen ist ungewöhnlich, aber gerade deshalb auch potenziell interessant. Allerdings ist es nicht ohne Tücken. Denn im Gegensatz zu anderen Gattungen war Phantastik im deutschen Sprachraum nie ein klar konturiertes Genre; genau dies suggeriert Rainer aber, wenn sie etwa schreibt, die «goldenen Zeiten der regelrechten phantastischen Literatur sind jedoch sowohl als klar definiertes, abgegrenztes und hermetisches Genre […] längst am Ausklingen» (26). Tatsächlich hat es dieses «klar definierte und abgegrenzte Genre» zumindest im deutschen Sprachraum schlicht nie gegeben.

Als Beleg für ihre These dient Rainer primär die lange Jahre von Franz Rottensteiner verantwortete Reihe Phantastische Bibliothek des Suhrkamp-Verlags. Man kann Rottensteiner und den Suhrkamp-Verlag für diese Reihe, in der zahlreiche wichtige Primär- und Sekundärtexte erschienen sind, kaum genug loben. Allerdings spiegelt ihre Zusammenstellung kein irgendwie geartetes «klar definiertes Genre» wider. Wirft man einen Blick auf die im Laufe der Jahre erschienenen Titel, zeigt sich ein ziemlich uneinheitliches Bild: Da gibt es Texte klassischer Autoren wie Edgar Allan Poe, Guy de Maupassant oder Ambrose Pierce, deutschsprachige SF von Herbert W. Franke und Johanna und Günter Braun, viel von H. P. Lovecraft, Stanisław Lem, den Strugatzi-Brüdern und James G. Ballard, aber auch einen Roman von Brian Aldiss, drei von Philip K. Dick, einen zeitgenössischen utopischen Roman von Svend Åge Madsen und noch so manches andere. Insgesamt scheint man bei der Phantastischen Bibliothek einem weiten Phantastikbegriff zu folgen, der von Horror bis SF reicht. Dabei springen aber auch die Lücken ins Auge: Fantasy in der Tolkien-Tradition ist ebenso abwesend wie Märchen. Und obwohl SF in der Reihe mit Autoren wie Lem, den Strugatzkis oder Ballard durchaus einen wichtigen Platz einnimmt, ist die klassische US-SF des Golden Age völlig abwesend.

Zumindest ich scheitere beim Versuch, aus den Titeln der Riehe einen halbwegs einheitlichen Phantastikbegriff herauszudestillieren. Inwieweit die Zusammenstellung der Phantastischen Bibliothek primär den Geschmack des Herausgebers spiegelt, ob man sich auf Gebiete beschränkt hat, die noch nicht von anderen Verlagen abgedeckt wurden oder ob allenfalls auch die Verfügbarkeit der Rechte ausschlaggebend war, kann ich nicht beurteilen. Ich möchte diese Ausführungen auch ausdrücklich nicht als Kritik an Rottensteiners Wirken verstanden wissen, der wohl primär daran interessiert war, hochwertige Texte zu veröffentlichen.3 Entgegen dem, was Rainer schreibt, ist die Phantastische Bibliothek aber alles andere als Ausdruck eines eindeutig abgegrenzten Genres. Vielmehr illustriert die Reihe, dass «phantastische Literatur» auch zu diesem Zeitpunkt kein klar definierter Begriff war.

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Mein Buch

Rainer scheint davon auszugehen, dass es mal so etwas wie eine klar definierte Gattung der phantastischen Literatur gegeben hat. Und damit sind wir beim Kern der Sache. Das Grundproblem der zahlreichen Definitionsversuche ist nicht die phantastische Literatur – was immer man auch darunter verstehen mag. Die eigentliche Crux ist der Gattungsbegriff. Ohne hier jetzt zu sehr in die Untiefen der Gattungstheorie abzutauchen, kann man festhalten, dass im Konzept der Gattung mindestens zwei widerstrebende Tendenzen zusammenfinden.4 Da ist einerseits die Vorstellung der Gattung als Ordnungsprinzip. Seien es Wissenschaftlerinnen, Bibliothekare, Buchhändlerinnen oder Leser – sie alle ordnen in irgendeiner Form die Bücher, mit denen sie zu tun haben. Die Kriterien können dabei mehr oder weniger durchdacht und in sich stimmig sein, oft sind sie auch ziemlich zufällig – in einem Bücherregal in unserem Wohnzimmer ist ein Abteil beispielsweise für die «Russen-Polen» reserviert, die Strugatzki-Gesamtausgabe steht dagegen im SF-Regal im Kinderzimmer. Klassifikation ist auf jeden Fall nicht nur ein Zeitvertreib gelangweilter Geisteswissenschaftler, sondern etwas, was im Grunde jeder in irgendeiner Form betreibt.5

Dem klassifikatorischen Gattungsverständnis steht der praktische Gebrauch von Gattungen gegenüber. Wenn ich sage, dass ich gerne SF lese, bringe ich damit zum Ausdruck, dass ich eine bestimmte Art von Geschichten mag. Dass ich gewisse Erwartungen punkto Handlung und Setting habe, von bestimmten Konventionen ausgehe. Ein Buch, das als SF verkauft wird, wird diesen Konventionen in aller Regel folgen. Eine Gattung setzt somit bei Autoren und Lesern ein bestimmtes Wissen, ein Gattungsbewusstsein voraus.6 Die jeweiligen Gattungskonventionen sind aber keineswegs fixiert, sondern ständig im Fluss. Für Fans einer Gattung sind oft ja gerade jene Romane interessant, die nicht stur Schema F folgen, sondern etablierte Muster variieren. Durch diese Variationen entwickeln sich die Formen laufend weiter. Gattungen sind nicht stabil, sondern verändern sich ständig.

Diese beiden Ansätze – übersichtliche Klassifikation auf der einen, sich fortlaufend wandelnde Gattungen auf der anderen Seite –, lassen sich nur mit Gewalt zusammenbringen. Wer über Phantastik – oder über irgend eine andere Gattung – schreibt, sollte sich deshalb von Anfang im Klaren sein, was er will: Geht es um eine möglichst stringente Taxonomie oder um Beschreibung einer Gattung in «freier Wildbahn». Obwohl diese Überlegungen in der Gattungstheorie keineswegs neu sind, gibt es in der reichen wissenschaftlichen Literatur zur Phantastik kaum Texte, welche daraus die Konsequenzen ziehen und ernsthaft reflektieren, welchem Gattungsverständnis sie folgen. Dies ist umso erstaunlicher, als Todorov diesbezüglich bereits erstaunlich weitsichtig war. Als Strukturalist ist er zwar davon überzeugt, dass sich Literatur auf einige grundsätzliche Strukturen reduzieren lässt, er ist aber keineswegs so naiv, die Probleme zu übersehen, die sich daraus für eine Gattungsdefiniton ergeben. Todorovs Lösung ist ein Aufsplitten der beiden Tendenzen in eine historische und eine systematische Gattung. Diese Lösung ist allerdings nur eine scheinbare. Denn wenn wir unter einer historischen Gattung ein sich permanent wandelndes Gebilde verstehen, ist für die Klassifikation letztlich wenig gewonnen. Dann ist die historische Gattung nur an einem bestimmten Punkt deckungsgleich mit der systematischen, entwickelt sich dann aber sogleich weiter.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Todorov die zu Beginn der Einführung getroffene Unterscheidung zwischen historischer und systematischer Gattung später nicht wieder aufgreift, denn sie löst sein Problem nicht. Bis zum Schluss seiner Studie wird denn auch nie recht klar, was er eigentlich untersucht – eine historische oder eine systematische Gattung?7 Todorovs Lösungsvorschlag ist zwar untauglich, aber zumindest erkennt er das Problem. Von seinen Nachfolgern hakt dagegen kaum einer an diesem Punkt ein; die meisten übergehen die Gattungsproblematik schlichtweg. Florian Marzins Die phantastische Literatur ist diesbezüglich ein besonders merkwürdiges Beispiel: Im ersten Kapitel geht Marzin zwar ausführlich auf die Probleme des Gattungsbegriffs ein und zeigt sich theoretisch auch ganz auf der Höhe seiner Zeit. Im Rest des Buches werden diese Überlegungen aber nie mehr aufgenommen (was ihn in einem gewissen Sinne wieder mit Todorov verbindet). Uwe Durst wiederum strebt in seiner Theorie der phantastischen Literatur zwar offensichtlich eine rein ordnende Klassifikation an, thematisiert diesen Umstand aber nie explizit. Rainer ihrerseits geht zwar kurz auf den Gattungsbegriff ein, belässt es aber bei allgemeinsten Ausführungen und der Feststellung, dass «das Gebiet der Gattungsstudien von jeher ein problematisches und diskutierbares Fach» (22) sei. Für ihr eigenes Vorhaben sieht sie offenbar aber keinen weiteren Diskussionsbedarf.

Wenn Rainer der Frage nachgeht, was Verlage und Leser unter «phantastischer Literatur» verstehen, folgt sie grundsätzlich einem historisch-pragmatischen Gattungsbegriff. Das wäre zwar ein interessanter Ansatz, setzt aber voraus, dass phantastische Literatur je als historische Gattung existiert hat. Wie bereits angedeutet, muss dem aber keineswegs so sein. Allseits bekannt Gattungen resp. Genres wie Western, Fantasy, Science Fiction, Krimi oder Gothic Novel sind Gruppen irgendwie verwandter Werke, die sich zu einem gewissen Punkt zu einem festen Kern verdichtet haben. Die Genrenamen  stehen für mehr oder weniger klar benennbare Traditionen. Aber längst nicht jedes Label schafft es, zu einem allgemein bekannten Genre zu gerinnen. Kommt hinzu, dass der vermeintlich feste Genrekern bei genauerer Betrachtung stark variieren kann. Ein Western der 1930er Jahre unterscheidet sich deutlich von einem der 1970er,8 ein SF-Leser des Jahres 1940 dürfte andere Erwartungen an einen SF-Roman haben als einer der Jahrtausendwende. In jedem Fall ist dieser Kern keine objektive Tatsache, sondern etwas was dem Genre im Gebrauch von «aussen» zugesprochen wird. Ein Genre existiert nur, wenn es auch als solches erkannt wird. Das gilt sowohl für die Produktions- wie auch die Rezeptionsseite.

Die Vermarktung spielt in diesem Zusammenhang durchaus eine wichtige Rolle. So konnte ich in meinem Artikel zur Mystery nachweisen, dass dieses Genre im Wesentlichen eine Erfindung von ProSieben war, die dazu diente, die Fernsehseire The X-Files zu vermarkten. Eine Erfindung, die sich als äusserst erfolgreich erweisen sollte. Längst nicht jeder Genreneuschöpfung ist aber ein derartiger Erfolg vergönnt. So grassiert im SF-Bereich seit einiger Zeit das Punk-Fieber. In der SF nicht Beschlagenen wird wohl weder Cyberpunk noch Steampunk etwas sagen, beide Genres können mittlerweile aber als eigenständige Traditionslinien gelten (womit sich einmal mehr zeigt, dass Genres ein entsprechendes Genrebewusstsein voraussetzen). Seither haben findige Buchmacher diverse neue Label ausgeheckt: Mir sind u.a. schon Mayapunk und Clockpunk begegnet. Man kann davon ausgehen, dass sich diese Bezeichnungen nicht durchsetzen werden.

Akte Mystery

Akte Mystery

Um zur Phantastik zurückzukehren: Inwiefern die Phantastische Bibliothek dazu beigetragen hat, dass sich der Begriff der Phantastik im deutschen Sprachraum durchsetzen konnte, wäre durchaus eine Untersuchung wert. In jedem Fall war die Suhrkamp-Reihe aber zu keinem Zeitpunkt in der Lage, einen halbwegs einheitlichen Gattungsbegriff zu etablieren. Andererseits wäre zu fragen, inwieweit der von Rainer diagnostizierte Niedergang der phantastischen Literatur nicht eher eine Frage eines Re-Labelings ist. Im Rahmen meiner Recherchen zu Mystery bin ich zum Beispiel auf eine Anthologie von 2008 mit dem Titel Akte Mystery. Unheimliche Geschichten gestossen, die u.a. Texte von Guy de Maupassant, Anton Tschechow, Guy de Maupassant und Edgar Allan Poe enthält. Diese Sammlung hätte ebensogut in der Phantastischen Bibliothek erscheinen können, doch beim Insel-Verlag war man wahrscheinlich der Ansicht, dass «Mystery» mehr potenzielle Kunden anzieht als «Phantastik». Es stellt sich somit die Frage, ob der vermeintliche Niedergang der Phantastik nicht eher ein Niedergang eines einst verkaufsfördernden Labels ist.

In diesem Zusammenhang ein kurzer empirischer Einschub: Google bietet seit einiger Zeit die Möglichkeit, seinen riesigen Bestand an digitalisierten Büchern statistisch auszuwerten. Im Folgenden eine Grafik, die zeigt, wie häufig die Begriffe «Phantastik» und «phantastische Literatur» (jeweils mit ph- und f-Schreibweise) im deutschsprachigen Bestand zwischen 1900 und 2000 auftreten (eine grössere Version gibt es hier).9

Zwei Dinge fallen auf: Der Begriff «Phantastik» tritt weitaus häufiger auf als derjenige der «phantastischen Literatur», wobei es 1922/1923 zu einem ersten Peak kommt. Zumindest gemäss meinen Stichproben wird «Phantastik» zu diesem Zeitpunkt aber meist nicht als Gattungsbzeichnung verwendet, sondern als Synonym für Phantasterei resp. als ein der Realität entgegengesetzter Seinsmodus. Der Begriff der «phantastischen Literatur» dagegen ist vor Mitte der 1960er Jahre kaum existent. Tatsächlich scheint sein Aufkommen mehr oder weniger mit dem Entstehen der Phantastischen Bibliothek und dem Aufblühen der theoretischen Diskussion – als Anhaltspunkt: Todorovs Einführung erschien erstmals 1972 auf Deutsch – zu korrelieren. Ein Hinweis darauf, dass diese Gattung überhaupt erst zu diesem Zeitpunkt «erschaffen» wurde.

Es liesse sich hierzu noch manches sagen, aber ich möchte dieses bereits überlange Post doch irgendwann zu einem Ende bringen. Deshalb ein vorläufiges Fazit: Wer sich mit Phantastiktheorie beschäftigt, kommt an Gattungstheorie nicht vorbei. Zu Reiners Buch vielleicht mehr in einem späteren Post.

Bibliographie

Hans Sarkowicz  und Carolin Bunk (Hg.): Akte Mystery: Unheimliche Geschichten. Frankfurt a. M. 2008.

Uwe Durst: Theorie der phantastischen Literatur. Tübingen 2001.

Florian F. Marzin: Die phantastische Literatur. Eine Gattungsstudie. Frankfurt a. M. 1982.

Karin Angela Rainer: Neue Ansätze, Analysen und Lesarten der phantastischen Literatur. Typische und atypische Repräsentationen – Frauen und phantastische Literatur – Einblicke in die phantastische Stadtliteratur Wiens. Frankfurt a. M. 2014.

  1. Mir ist durchaus bewusst, dass diese Reaktion in Anbetrach der Tatsache, dass ich ebenfalls ein Buch zum Thema geschrieben habe, nicht der Ironie entbehrt. Dass ich Rainers Buch mit einem gewissen Misstrauen begegne, liegt auch daran, dass mir nicht recht klar ist, um was es in ihrer Studie eigentlich geht. Die Verwirrung beginnt bereits beim Titel, der in voller Länge lautet: Neue Ansätze, Analysen und Lesarten der phantastischen Literatur. Typische und atypische Repräsentationen – Frauen und phantastische Literatur – Einblicke in die phantastische Stadtliteratur Wiens. Da scheinen ziemlich viele Dinge zusammenzukommen, und ein Blick in das Inhaltsverzeichnis sowie die Einleitung scheinen diesen Eindruck vorerst zu bestätigen. Eine übergeordnete Fragestellung erschliesst sich mir nicht, das Buch, das auf Rainers Dissertation zurückgeht, erscheint eher wie ein Sammelsurium verschiedener Auslassungen zur phantastischen Literatur.[]
  2. Diesem weiten Verständnis entspricht auch die Ausrichtung der Gesellschaft für Fantastikforschung.[]
  3. In einer persönlichen E-Mail hat mir Franz Rottensteiner bereits vor Jahren erklärt, dass die Phantastische Bibliothek ursprünglich aus dem Zusammenschluss zweier Reihe des Insel-Verlags entstanden ist; der auf unheimliche Literatur ausgerichteten Bibliothek des Hauses Usher und der Science Fiction der Welt. Die Bezeichnung Phantastische Bibliothek habe man «einfach als Oberbegriff, ohne jede literaturwissenschaftliche Absicht, gewählt».[]
  4. Im Deutschen sorgt zudem der Umstand für Verwirrung, dass mit «Gattung» und «Genre» zwei Begriffe für den gleichen Sachverhalt existieren. Je nach Autor werden Genre und Gattung synonym verwendet oder unterschieden. Ich selbst verwende die Begriffe in Theoretisch phantastisch synonym, ebenso Reiner in ihrer Buch. Ein Gegenbeispiel wäre der Filmwissenschaftler Knut Hickethier für den Gattungen «den darstelleri-schen Modus (z.B. Spiel-, Dokumentarfilm) und […] die Verwendung (z.B. Werbe-, Lehr-, Experimentalfilm)» (63) bezeichnen, während Genres gattungs- und medienübergreifend Motive und Handlungskonstellationen beschreiben – Ein Krimi ist beispielsweise im Spiel-, im Animationsfilm wie auch im Roman möglich (Hickethier, Knut: «Genretheorie und Genreanalyse». In: Felix, Jürgen (Hg.): Moderne Film Theorie. Mainz 2003, 62–96).[]
  5. Zweifellos ist eine nachvollziehbare und in sich schlüssige Einteilung ein wichtiges Werkzeug der wissenschaftlichen Arbeit, sie ist aber nur ein Werkzeug und kein Selbstzweck.[]
  6. Siehe dazu für filmische Genres: Jörg Schweinitz: «‹Genre› und lebendiges Genrebewusstsein. Geschichte eines Begriffs und Probleme seiner Konzeptualisierung». In: montage/av 3/2, 1994, 99–118. Online erhältlich. []
  7. Auch wenn er dies nicht ausführt, ist Todorov beim Verfassen der Einführung wohl noch davon überzeugt, dass letztlich doch so etwas wie eine systematische Tiefenstruktur existiert, die allen historischen Ausprägungen einer Gattung unterliegt. In einem wenige Jahre nach der Einführung erschienen Text verabschiedet er sich dann aber von seinem dualen Gattungsbegriff und zieht ein historisches Gattungsverständnis vor («The Origin of Genres». In: New Literary History 8/1, 1976, 159–170).[]
  8. In meinem aktuellen Filmwissenschaftsseminar haben wir kürzlich die Frage diskutiert, was ein typischer Western sei. Für mich keineswegs überraschend nannten die Studierenden fast ausschliesslich Filme, die nach 1950 entstanden sind. Der «klassische Western» ist nach gängiger Filmgeschichtsschreibung aber früher entstanden. Dieser klassische Kern ist jüngeren Zuschauern aber weitgehend unbekannt; ihr Bild des Westerns setzt sich somit aus Filmen zusammen, die bereits – und meist auch bewusst – vom klassischen Typus abweichen.[]
  9. Da weder über die Zusammensetzung noch über die Qualität des Datenkorpus Genaueres bekannt ist, sind die Ergebnisse mit Vorsicht zu geniessen. Da es sich aber zweifellos um eine riesige Menge von Büchern handelt, kommt den Ergebnissen auf jeden Fall eine gewisse Aussagekraft zu.[]

The Maze Runner als Utopie

Wie immer gilt ein genereller Spoilervorbehalt.1

The Maze Runner ist zwar beileibe kein Meisterwerk, das die Zeit überdauern wird, der Film hat mich insgesamt aber positiv überrascht und war kurzweiliger und weniger kitschig, als ich es erwartet hatte (siehe meine Kritik). Zudem bot er in Sachen Utopie einige interessante Elemente.

Wes Balls Film erzählt von einem jungen Mann, der in einem Fahrstuhl zu sich kommt, welcher ihn zu einem von hohen Mauern eingeschlossenen Stück Grünfläche – der Glade – transportiert. Thomas, so der Name des Protagonisten, hat wie die anderen Bewohner der Glade, die ihn bereits erwarten, sein Gedächtnis verloren. Er weiss weder, wer oder was er vorher war, noch, wer ihn hierher gebracht hat. Wie wir bald erfahren, wird die Lichtung jeden Monat via Fahrstuhl mit Nahrungsmitteln und Utensilien versorgt. Zusammen mit dem Nachschub ist jeweils auch ein neuer Junge ohne Erinnerung mit dabei.

Als wäre das nicht bereits mysteriös genug, öffnet sich jeden Morgen eine Türe in der Wand, die den Weg in ein riesiges Labyrinth frei gibt. Dieses Labyrinth führt zu einem Ausgang – zumindest sind die Bewohner der Lichtung davon überzeugt, gefunden hat man ihn bislang noch nicht. Deshalb machen sich die sogenannten Runners jeden Tag auf, um das Labyrinth abzulaufen. In der Hoffnung, dereinst den sagenumwobenen Ausgang zu finden.

Das Leben der kleinen Gemeinschaft ist derweil gut organisiert. Jeder hat seine Aufgabe, es werden Nahrungsmittel angepflanzt und Unterkünfte gebaut, man isst und feiert gemeinsam. Im Grunde gar nicht so schlecht, wenn da nicht die grosse Ungewissheit wäre sowie die unheimlichen Geräusche, die des Nachts aus den Tiefen des Labyrinths widerhallen. Diese stammen von den Grievers, die sich später als eine Art riesenhafte Cyborg-Spinnen entpuppen werden.

Lord of the Flies in der Verfilmung von 1963

Lord of the Flies in der Verfilmung von 1963

Die Halbwüchsigen-Kolonie erinnert an William Goldings mehrfach verfilmten Roman Lord of the Flies (1954). Bei Golding stranden britische Jugendliche auf einer pazifischen Insel und errichten dort bald ein Terrorregime. Die pessimistische Botschaft des Romans: Der Mensch ist eine Bestie, und selbst bestens erzogene britische Jünglinge werden zu Ungeheuern, wenn die normalen gesellschaftlichen Normen wegfallen. Der Roman kann in diesem Sinne als eine Art Radikaldystopie verstanden werden: Es braucht gar keinen Big Brother oder eine übermächtige Partei, um ein Schreckensregime zu errichten. Die Protagonisten des Romans besorgen das alleine – notabene vor dem Hintergrund eines Südseeparadieses.

Verglichen mit Lord of the Flies erscheint The Maze Runner als regelrechte Utopie. Zwar deutet Alby, der unbestrittene Anführer an, dass es in der Vergangenheit nicht immer so friedlich zu und her ging, mittlerweile scheinen die Bewohner der Glade aber eingesehen zu haben, dass sie nur durch Kooperation weiterkommen. So gibt es zwar kleine Rivalitäten und Rangeleien, insgesamt funktioniert das Gemeinwesen aber recht gut. Und es finden sich die üblichen utopischen Elemente wieder. Da wäre einmal ein radikaler Neuanfang. Das unausgesprochene Problem der meisten Utopien ist bekanntlich, wie man mit all den Menschen verfahren soll, die noch im degenerierten vor-utopischen System aufgewachsen sind und denen die richtige utopische Gesinnung fehlt. Die Antwort von Maze Runner: Indem man auch hier Tabula rasa macht und jede Erinnerung an die Vergangenheit auslöscht. Darin zeigt sich auch die für Utopie und Dystopie gleichermassen typische Geschichtslosigkeit.2  Weitere altbekannte Details sind die zentrale Organisation und Güterverteilung (eine Gesellschaft ohne Geld!) sowie gemeinsame Speise- und Wohnbereiche.

Die utopische Ordnung der Glade ruht auf mehreren Pfeilern: Zum einen sorgt der Fahrstuhl für den Nachschub lebenswichtiger Güter. Die Jungen-Kolonie scheint stets so gut versorgt zu sein, dass kein Kampf ums Essen stattfinden muss, zugleich herrscht aber auch kein Überfluss, der dazu führen könnte, dass jemand mehr besitzt. Die unsichtbaren Herrscher über Fahrstuhl und Labyrinth sind hier ganz und gar utopische Herrscher, die dafür sorgen, dass alle echten Bedürfnisse befriedigt werden.

Unbestrittener Anführer der Gemeinschaft ist Alby, der als erster mit dem Fahrstuhl nach oben geschickt wurde und einen ganzen Monat alleine überleben musste. Obwohl Probleme in der Gruppe diskutiert werden, ist er es am Ende, der kraft seiner Seniorität beschliesst, was zu tun ist. Was die Gemeinschaft zusätzlich zusammenhält, ist die Hoffnung, dereinst aus dem Labyrinth zu finden.

Da eine funktionierende Jungen-Utopie kein Thema für ein Film wäre, werden diese drei stützenden  Faktoren im Laufe des Films nach und nach ausser Kraft gesetzt: Nach der Ankunft von Thomas kommt der Fahrstuhl nur noch einmal nach oben. Dieses Mal mit einer jungen Frau sowie der Nachricht, dass dies die letzte Lieferung war.3

Kurz darauf erfährt Thomas, den es natürlich ins Labyrinth zieht, dass die Runner den Irrgarten längst abgelaufen haben – ohne einen Ausgang zu finden. Die Hoffnung auf Flucht war somit umsonst. Und schliesslich stirbt Alby. Die Folge: Ein Streit um das weitere Vorgehen und schliesslich um die Führerschaft.

Die Szene, in der Alby Thomas offenbart, dass er und die Runner schon lange wissen, dass es keinen Ausweg aus dem Labyrinth gibt, erinnert an das Konzept der edlen Lüge bei Plato. In dessen Politeia bedient sich die herrschende Philosophenkaste bei verschiedenen Gelegenheiten der Lüge, um die Bürger zu lenken. So wird etwa Paaren vorgegaukelt, dass sie durch einen göttlicher Zufall zusammengeführt wurden, in Wirklichkeit wurden sie von den Herrschern nach Zuchtkriterien ausgewählt. Es gibt nach Plato Situationen, in denen der weise Herrscher das Volk belügen muss, um den richtigen Entscheid umsetzen zu können. Offensichtlich ist Alby ebenso der Meinung, dass er im Interesse der Gemeinschaft handelt, wenn er geheim hält, dass es keinen Ausweg gibt (dass Thomas dann doch einen Ausgang finden wird, versteht sich von selbst).

Gally will die bestehende Ordnung aufrecht erhalten

Gally will die bestehende Ordnung aufrecht erhalten

Alby scheint davon überzeugt, dass die Gemeinschaft ohne die Hoffnung auf Rettung nicht funktionieren kann, allzu viel Zeit wendet der Film für dieses moralische Dilemma allerdings nicht auf. Auch Gallys Motivation, der nach Albys Tod zum Gegenspieler Thomas’ wird, wird nicht gross ausgeleuchtet. Dabei ist dessen Handeln durchaus nachvollziehbar. Denn bis zu Thomas’ Ankunft war das Leben in der Glade ja ganz angenehm; Thomas aber scheint die Ordnung aus dem Gleichewicht zu bringen. Mit dem Ergebnis, dass die Grievers in der Nacht die Glade heimsuchen. Die klassische Utopie ist statisch und ihr natürlicher Feind ist der Utopist, der eine neue Ordnung herbeiführen will – in diesem Falle Thomas, dem es gelingt, einen Griever zu zerstören. Es ist nur konsequent, dass Gally, der an Albys Ordnung glaubt, auf dem Status quo beharrt.

Und tatsächlich behält Gally Recht: Die zerstörte Welt, welche die wenigen Überlebenden am Ende des Films betreten, scheint in jeder Hinsicht schlechter als die Oase der Glade. Aber wir können wohl davon ausgehen, dass am Ende der Trilogie dann doch ein bessere Welt auf die Labyrinthläufer warten wird.

  1. Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie leidet, sollte die entsprechenden Einträge somit besser meiden.[]
  2. Paradigmatisch hierfür ist Nineteen Eighty-Four, wo die regierende Partei laufend die Geschichtsschreibung an die Gegenwart anpasst. Aber auch Utopien interessieren sich nicht sonderlich für die Vergangenheit, denn diese ist bloss eine minderwertige Vorstufe der bestehenden Gesellschaft und deshalb für die Gegenwart kaum noch von Relevanz. Mit der Errichtung der Utopie kommt die Geschichte an ihr Ende; «and if for many of us Utopia is grasped as political fulfillment of history, we tend to overlook an ‹end of history› internal to the Utopian texts» (Fredric Jameson: Archaeologies of the Future: The Desire Called Utopia and Other Science Fictions. London/New York 2007, 186).[]
  3. Die Figur von Teresa offenbart eine prüde Schwachstelle des Films: Sex ist in dieser Welt kein Thema. Es wäre ja durchaus interessant, wie eine Gruppe Jugendlicher, die alle voll im pubertären Saft stehen, mit ihren Trieben umgeht. Das Thema wird aber nicht einmal angedeutet. Und obwohl die Ankunft Teresas für Aufruhr sorgt, sind körperliche Begierden auch hier kein Thema. Für einen Moment dachte ich ja, dass die Nachricht, dass mit Teresa die letzte Lieferung erfolgt sei, als Aufforderung zu verstehen sei, dass sich die Gemeinschaft nun selber fortpflanzen müsse. Aber da habe ich den Film offensichtlich überschätzt.[]