Utopie Europa

An den 18. Internationalen Kurzfilmtagen Winterthur, die gestern zu Ende gingen, war ein grosser thematischer Schwerpunkt Europa gewidmet. Für mich besonders interessant war das Programm Visionen I: Werben für Europa, in dem Filme aus den 1950er- und 1960er-Jahren zu sehen waren, in denen unterschiedliche Organisationen (Marshall-Plan, Montanunion, Europarat etc.) für ein geeintes Europa warben. Die sechs gezeigten Filmen waren von der Machart her sehr unterschiedlich, dennoch gab es Motive, die sich mehr oder weniger durch alle Beispiele zogen: die Sinnlosigkeit der vielen Grenzen in Europa, das europäische Projekt als Garant für den Frieden (der Zweite Weltkrieg war je nach Film explizit ein Thema oder wurde nur indirekt angedeutet) und die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben würden (die lästige Tatsache, dass man ständige andere Währungen braucht, wurde ebenfalls thematisiert). Immer wieder waren Europa-Karten mit Mauern zu sehen, die es zu überwinden galt. Wobei die Mauern gegen das «andere Europa» des Ostblocks oft ein wenig höher ausfielen als die innerhalb Westeuropas. Die Schweiz war übrigens erstaunlich oft ein integraler Teil des imaginierten geeinten Europas. Mehrfach wurde zudem explizit der Vergleich mit den USA – «die vereinigten Staaten von Europa» – gezogen.

Ein Büro-Roboter ohne Manieren

Ein Büro-Roboter ohne Manieren

Da in fast allen Beispielen  eine besser zukünftige Welt gezeigt wurde – und zwar als Resultat konkreter politischer Schritte –, passten die meisten Filme in mein Thema. Und obwohl es immer wieder Spielszenen gab, hatten alle Filme letztlich einen dokumentarischen Charakter. Besonders interessant war der Film Europa 1978 (Alternativtitel: Twenty Years After) von Paul Claudon. Der Film aus dem Jahr 1958 zeigt einen fiktiven Rückblick aus dem Jahr 1978, in dem das geeinte Europa prosperiert. Wir sehen alle möglichen Wunderwerke wie Einschienenbahnen, modernste Wolkenkratzer, die Einheitswährung Europa, Atom- und Solarkraftwerke, Linienflüge zum Mond, Roboter und einiges mehr (im einzigen Screenshot, den ich auftreiben konnte, ist ein Roboter zu sehen, der eine Sekretärin begrapscht). Gemäss dem Filmwissenschaftler Thomas Tode, der das Programm zusammengestellt und moderiert hat, verarbeitet Europa 1978 bestehendes Material aus anderen Industrie- und Werbefilmen. Die Zukunft, die uns der Film zeigt, ist somit ein Potpourri des damals Neusten vom Neuen, wobei man bei einigen Aufnahmen nur erahnen kann, was wir da eigentlich sehen. Zum Beispiel ist in einer Einstellung ein Mann in einem seltsamen aufblasbaren Kunststoffanzug zu sehen, während der Off-Kommentar von den Möglichkeiten der Atomkraft schwärmt. Nach einem Strahlenschutzanzug sieht der überdimensionale Ballon allerdings nicht aus; wahrscheinlich hat man relativ wahllos Material verwendet, das irgendwie futuristisch aussah. Der Film ist ein schönes Beispiel dafür, wie mittels primär dokumentarischer Aufnahmen ein fiktives Szenario illustriert werden kann und die Behauptungen des Films kraft der dokumentarischen Bilder faktualisiert werden.

Thomas Tode ist übrigens Mitarbeiter in dem DFG-Forschungsprojekt Werben für Europa und die Filme, die er gezeigt hat, Teil eines Korpus mehrerer hundert Filme, die im Rahmen des Projekts untersucht wurden. Eine Publikation ist für nächstes Jahr angekündigt. Eine wahre Fundgrube für mich …

Publikationen

Wie es der Zufall resp. die nicht immer ganz durchschaubaren Regeln des akademischen Publizierens wollen, sind in den vergangenen Wochen zwei Texte von mir erschienen, die zusammen genommen mein Forschungsprojekt ziemlich gut abstecken.

«Auf der Suche nach dem utopischen Film» ist mein Beitrag zu den Proceedings der dritten Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung (GfF), die 2012 in Zürich stattfand. In dem Artikel gehe ich der Frage nach, welche Form die klassische Utopie im Film annehmen könnte. Dass der Spielfilm für positive – eutopische – Entwürfe nicht geeignet ist, ist hinlänglich bekannt (es gibt keinen Konflikt und somit keine Handlung, die Figuren sind stereotyp, es geschieht nichts). Als Alternative plädiere ich in dem Text dafür, nichtfiktionale Filme zu untersuchen – also Dokumentarfilme, Propagandafilme und was es da sonst noch alles gibt. Als konkretes Beispiel für einen Film, der so ziemlich mit dem gesamten Arsenal klassischer utopischer Topoi aufwartet, analysiere ich Peter Josephs Low-Budget-Film Zeitgeist: Addendum, in dem das Venus Project als Ausweg aus unserer aktuellen Misere propagiert wird.

«Authentische Wunschträume. Einige Überlegungen zur Utopie im nichtfiktionalen Film» ist mein Beitrag zu den Proceedings der GfF-Tagung von 2013 in Wetzlar. Der Text ist zwar bereits Ende 2013 erschienen, stellt aber eigentlich die Fortsetzung von «Auf der Suche nach dem utopischen Film» dar. Darin gehe ich vor allem der Frage nach, wie sich utopische Filme aus der Sicht der Dokumentarfilmtheorie fassen lassen. Auf den ersten Blick haben wir es hier mit einem fundamentalen Widerspruch zu tun: Das Wesen des Dokumentarfilms ist es – vermeintlich – ja gerade, die Ereignisse vor der Kamera unverfälscht festzuhalten. Wie verhält sich das mit der Utopie, die ihrerseits von einem Staatswesen erzählt, das es (noch) nicht gibt? Ausführlicheres dazu hier.

Das theoretische Fundaments meines Projekts wäre somit gelegt, nun müssen nur noch die passenden Filme rangeschafft werden …

 

Bibliographische Angaben:

Spiegel, Simon: „Authentische Wunschträume. Einige Überlegungen zur Utopie im nichtfiktionalen Film“. In: Komparatistik Online. Nr. 1, 2013, 188–199.

Spiegel, Simon: „Auf der Suche nach dem utopischen Film“. In: Lötscher, Christiane/Schrackmann, Petra/Tomowiak, Ingrid et al. (Hgg.): Übergänge und Entgrenzungen in der Fantastik. Berlin 2014, 421–435.

«Authentische Wunschträume» kann als PDF runtergeladen werden. Leider verbietet der LIT-Verlag seinen Autoren ausdrücklich, ihre Artikel online zu veröffentlichen, weshalb ich Interessierte an die Buchhandlung oder Universitätsbibliothek ihres Vertrauens verweisen muss.