Wo/Man Mind Machine (13./14. Juni)

 

HAL

Anfang nächster Woche findet in Berlin die interdisziplinäre (englischsprachige) Tagung Wo/Man Mind Machine statt, die sich um die Interaktion zwischen Mensch und Maschine dreht. Ich trete am Montagnachmittag mit einem Vortrag mit dem Titel «Foolproof and Incapable of Error.› – Why Do Filmic Robots and AIs Always Go Bad?» an.

Aus der Tagungsausschreibung:

What are the various interfaces between mind, wo/man, and machine and how can these interfaces be further explored within and across different disciplines? In this conference, we will investigate the complex interaction between humans and machines as well as various ways of reverse-engineering the brain. We will discuss current approaches, theories, and methodologies in this field, and also identify shared research interests, which might lead to future collaborations between the humanities and the sciences, between members of both academies, and beyond.

Das vollständige Tagungsprogramm gibt es hier.

Veranstaltungsort: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW), Einstein-Saal, Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin.

Kontakt & Anmeldung: manmindmachine@diejungeakademie.de

 

 

Sonja Schmid: Im Netz der Filmgenres

Erschienen im Quarber Merkur 116.

Genres sind seltsame Gebilde. Als Kinogänger oder Leser verknüpfen wir Erwartungen mit ihnen, die von den jeweiligen Werken in der Regel auch erfüllt werden. Genres sind somit sowohl für die Produktion als auch die Rezeption von fundamentaler Bedeutung, was eigentlich nahelegen würde, dass dem Konzept auch in der Wissenschaft eine zentrale Funktion zukommen müsste.

In der Realität ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Genres aber von einem eigenartigen Widerspruch geprägt. Auf der einen Seite gibt es die Genretheorie, die versucht, dem Phänomen auf konzeptioneller Ebene gerecht zu werden. Grundlegende Frage ist hier, was Genres eigentlich sind resp. wie sie sich historisch konstituieren. Obwohl die Schwerpunkte in Film- und Literaturwissenschaft nicht deckungsgleich sind, hat sich mittlerweile beiderorts die Erkenntnis durchgesetzt, dass Genres nicht als abstrakte Entitäten existieren, sondern im Gebrauch entstehen und sich verändern. Genres sind nicht objektiv in ein Werk eingeschrieben, sondern diskursive Begriffe, welche von ihren »Nutzern« geprägt werden. Je nach Benutzergruppe können sich Genrebezeichnungen und -konzeptionen deshalb stark unterscheiden. Ein Kinogänger der 1930er Jahre hatte andere Erwartungen an einen Western als ein zeitgenössischer Zuschauer, und während ein SF-Fan mit dem Begriff »Steampunk« bestimmte Motive und Plot-Elemente assoziiert, dürfte sich ein in der SF nicht bewanderter Leser gar nichts darunter vorstellen.

John Wayne in Stagecoach

Was ist ein typischer Western? John Wayne in John Fords Stagecoach (1939).

Insbesondere in der Filmtheorie ist man deshalb schon seit Längerem von der Vorstellung abgerückt, Genres ließen sich in irgendeiner Weise als abstraktes, in sich logisches System modellieren. Genretheoretiker wie Rick Altman oder Steve Neale verstehen Genres vielmehr als pragmatische und multidiskursive Begriffe, die nur im konkreten Gebrauch sinnvoll analysiert werden können. Das bedeutet auch, dass sich die Wissenschaft nicht auf die (film)textliche Untersuchung einzelner Werke beschränken kann, sondern ebenso den Entstehungs- und Rezeptionskontext in Betracht ziehen muss. Vor welchem Hintergrund entsteht ein Werk, wie wird es vermarktet und rezipiert, inwieweit reagiert es auf bereits bestehende Werke und provoziert seinerseits – Stichwort Intertextualität – Reaktionen etc.? Genretheorie wird somit zur Genregeschichte.

Eine derartige Genreanalyse ist nicht nur äußerst aufwändig, sondern auch zwangsläufig begrenzt und stets nur vorläufig. Dies mag erklären, warum sich die Erkenntnisse der Genretheorie bislang kaum in der »praktischen« wissenschaftlichen Arbeit niedergeschlagen haben. Zwar hat die Theorie hoch elaborierte Modelle zur Beschreibung ihres Gegenstands entwickelt, die meisten Genrestudien scheren sich darum aber keinen Deut. Stattdessen werden Genres vielerorts nach wie vor als textlich fixierbare Gebilde betrachtet, und Genregeschichte nimmt nicht selten die Form einer teleologischen Erzählung an, in deren Verlauf sich ein Genre von seiner Rohform hin zum Meisterwerk verfeinert, um dann anschließend zu degenerieren. Untersuchungen, welche die Erkenntnisse der Theorie ernst nehmen und Genres in ihrer ganzen Vielschichtigkeit beschreiben, sind nach wie vor rar.

Sonja Schmids Studie Im Netz der Filmgenres erscheint da als erfreuliche Ausnahme. Das Buch, das auf Schmids Dissertation an der Universität Bayreuth zurückgeht, versteht sich explizit als »Plädoyer für eine vernetzte Genregeschichtsschreibung« und begreift Genres als »intertextuelle Schaltstellen« (13). Anhand von Peter Jacksons The-Lord-of the-Rings-Trilogie (NZ/USA 2001–2003) und deren Bedeutung für die Fantasy will Schmid »die vielfältigen Prozesse und Dynamiken aufzeigen, die sowohl auf diachroner wie synchroner Ebene zu der Entstehung des […] Werks beigetragen haben und damit maßgeblich auch die Weiterentwicklung des Fantasy-Genres als solches beeinflusst haben« (16).

Cover Im Netz der Filmgenres

Der Ansatz ist somit klar und lobenswert, die Umsetzung kann allerdings nicht vollständig überzeugen. An Schmids Studie lässt sich ein Phänomen beobachten, das für Dissertationen – insbesondere für deutschsprachige – typisch ist: Ein massiver Theorieüberhang. Das liegt zum einen daran, dass die deutschsprachigen Geisteswissenschaften traditionell mehr an Theorie und Systematisierung interessiert sind als die angelsächsischen. Es hängt aber auch mit der besonderen Textform Dissertation zusammen. Eine Dissertation ist typischerweise die erste wissenschaftliche Arbeit, in die man sich als angehender Akademiker so richtig vergräbt. Es ist ganz natürlich, dass man all die Zeit, die man mit Recherchen verbracht hat, am Ende in textlicher Form sichtbar machen will. Zugleich gehört es zu den Spielregeln einer Dissertation, dass man fortlaufend unter Beweis stellt, wie gut man sein Gebiet kennt. Es ist eine große Herausforderung, genug Abstand von seinem Gegenstand zu gewinnen, um abzuschätzen, was für einen potenziellen Leser tatsächlich relevant sein könnte. Oft glückt dies nicht ganz, weshalb viele Dissertationen mit einem überlangen Theorieteil aufwarten, in dem ausführlich Detailfragen diskutiert werden, die für die eigentliche Untersuchung kaum Relevanz besitzen.

Im Netz der Filmgenres ist hierfür exemplarisch: Von den knapp 250 Seiten Text entfallen rund hundert auf eine Diskussion des Genrekonzepts und dem als New Film History bezeichneten Ansatz der Geschichtsschreibung, dem Schmid folgt. Es gibt hier auch einige inhaltliche Schnitzer – so behauptet Schmid, Tzvetan Todorov verlagere in seiner Phantastiktheorie die »Genrefrage in den Rezipienten« (24), was schlicht falsch ist. Auch Schmids Gebrauch des Begriffs ›Prototypenmodell‹ ist ungewohnt; normalerweise wird damit ein aus der kognitiven Psychologie resp. Linguistik stammendes Konzept bezeichnet. Unter Prototyp wird dabei ein mentales Konstrukt verstanden, das einen typischen Vertreter einer bestimmten Kategorie darstellt. Schmid meint mit Prototypenmodell dagegen einen an Northrop Frye angelehntes Archetypen-Ansatz. Zwar macht sie auf den Bedeutungsunterschied aufmerksam (27, Anm. 37), im Kontext der Genretheorie ist diese Nomenklatur aber ungewohnt. Im Großen und Ganzen sind Schmids Ausführungen allerdings korrekt und gut nachvollziehbar, sie fallen einfach viel zu umfangreich aus, denn worauf die Autorin hinauswill, ist eigentlich von Beginn an klar,

Schmid kennt ihren Gegenstand und die relevante Fachliteratur, ihre Stärke liegt aber nicht darin, das Gelesene zu synthetisieren. Dies ändert sich auch im dritten Teil nicht, in dem sie schließlich auf das Fantasy-Genre zu sprechen kommt. Inhaltlich gibt es hier ebenfalls Unstimmigkeiten, etwa die Aussage, der Phantastik-Forscher Uwe Durst beschäftige sich primär mit Fantasy (140, Anm. 406), oder die Behauptung, der Begriff »Fantasy« habe sich erst in den 1980er Jahren im Zusammenhang mit Filmen wie Excalibur (John Boorman. USA 1981) und Time Bandits (Terry Gilliam. GB 1981) durchgesetzt (119). Für Stirnrunzeln sorgt auch eine Fußnote zum Merchandising von Star Wars. Nach Schmid hat das Franchise über diesen Vermarktungskanal 20 Millionen Dollar eingebracht (184, Anm. 545), obwohl selbst die von ihr angeführte Quelle von mehr als 22 Milliarden Dollar spricht. Trotz solcher offensichtlicher Flüchtigkeitsfehler ist aber das eigentliche Problem, dass die Autorin fast nur Bestehendes referiert.

John Boormans Excalibur

John Boormans Excalibur – hat dieser Film wirklich den Begriff ‹Fantasy› populär gemacht?

Nach gut 170 Seiten Vorarbeit kommt das Buch dann endlich bei der Hauptsache an, bei Peter Jacksons Trilogie. Im Folgenden wird ein ganzer Katalog von relevanten Perspektiven durchgearbeitet: Lord of the Rings als typischer Vertreter des Fantasy-Genres, technische, wirtschaftliche und sozio-historische Aspekte sowie intertextuelle und intermediale Bezüge. Schmids Ausführungen zum Realitätseindruck von Lord of the Rings, der Figurengestaltung und dem Marketing ist grundsätzlich zuzustimmen, aber irgendwie wird nie recht ersichtlich, wozu der ganze vorangegangene theoretische Aufwand nötig war. Schmid betont zurecht, dass »es eines Blickes auf die vielfältigen Diskurse, die an der Produktion des Werkes beteiligt sind« (254) bedarf, um dieses adäquat in der Geschichte des Genres einzuordnen. Aber obwohl immer wieder von Netzwerken und Querbezügen die Rede ist, bleibt das Vorgehen weitgehend additiv.

Das Kapitel »The The Lord of the Rings im multidiskursiven Netzwerk der generic user[sic!]«, das eigentlich das Zentrum der Untersuchung bilden müsste, fällt inhaltlich besonders schwach aus. Auf die empirische Fanforschung, die just in diesem Bereich einiges zu bieten hätte, nimmt Schmid kaum Bezug. Die Ausführungen zu CGI und wirtschaftlichen Aspekten wiederum sind oberflächlich, der Abschnitt zu NS-Bezügen geradezu hanebüchen; Schmid verquickt hier die Interpretation von Tolkiens Trilogie als Allegorie auf den Zweiten Weltkrieg – eine Leseweise, gegen die sich der Autor stets gewehrt hat – mit der Frage, inwieweit Jackson sich an die Ikonographie von NS-Propagandafilmen anlehnt. Zwei Dinge, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben.

Obwohl das als Hardcover erschienene Buch auf den ersten Blick ansprechend daherkommt, entpuppt es sich bei genauerer Lektüre als eher unsorgfältig gemacht. Es wimmelt von kleineren bis mittleren typographischen, sprachlichen und inhaltlichen Fehlern. Besonders auffallend ist eine seltsam verzerrte Zeitwahrnehmung der Autorin: So wird Robin Woods 1979 erschienene Essaysammlung American Nightmare zitiert, um »jüngere Tendenzen im Horrorgenre« (202, Anm. 592) zu charakterisieren, obwohl zwischen den Filmen, die Wood beschreibt, und Jacksons Trilogie gut 30 Jahre liegen. Dazu passt, dass Schmid die Ära des New Hollywood, deren Beginn normalerweise Ende der 1960er Jahre angesetzt wird, in die 1990er Jahre verlagert. Die Einschätzung, Jacksons Glück sei gewesen, dass die CGI-Technologie »eben erst« (217) ihren Durchbruch erlebt habe – nämlich mit Jurassic Park (Steven Spielberg. USA 1993) –, zeugt ebenfalls von einem seltsamen Zeitverständnis, liegen zwischen den beiden Filmen doch fast zehn Jahre.

All diese Fehler wären zu verschmerzen, würde Schmid mit genuin interessanten Einsichten aufwarten. Insgesamt überwiegt aber der Eindruck »viel Aufwand, wenig Ertrag«. Als Beispiel für die Fruchtbarkeit eines modernen genretheoretischen Ansatzes taugt Im Netz der Filmgenres somit nur begrenzt.

Schmid, Sonja: Im Netz der Filmgenres. The Lord of the Rings und die Geschichtsschreibung des Fantasygenres. Tectum-Verlag: Marburg 2014, 294 Seiten, Hardcover, 29,95€. Bei Amazon erhältlich.

Dinge, die am Radio kommen

Als Nachschlag zur Berliner Things-to-Come-Tagung, von der hier schon die Rede war, zwei Radiobeiträge des Deutschlandfunks

Zuerst ein Beitrag aus der Sendung Corso; Sigrid Fischer spricht mit mir über Science Fiction im Allgemeinen sowie über Tomorrowland – das Thema meines Vortrags – im Besonderen.

 

Tomorrowland

Tomorrowland: In der Ferne leuchtet die verheissungsvolle Zukunft.

Ausserdem noch eine Sendung, in der verschiedener Redner der Tagung zu Wort kommen (und in der man mich zum Kulturwissenschaftler ernannt hat).

The Liverpool Companion to World Science Fiction Film

Erschienen in der Zeitschrift für Fantasikforschung Nr. 10 2015.

Dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem SF-Kino stark USA-lastig ist, dürfte unbestritten sein, hat aber offensichtliche Gründe. Denn obwohl SF keine genuin amerikanische Erfindung ist, wird sie oft als solche wahrgenommen. Mit dem Film verhält es sich ähnlich. Zumindest die Leinwände der westlichen Welt werden heute von Hollywood dominiert. Dass es daneben auch noch andere Kinoindustrien gibt, deren Produktion teilweise sogar noch umfangreicher ist als die der US-amerikanischen Filmindustrie, wird oft vergessen, da diese meist nur für den heimatlichen Markt produzieren. Im SF-Film kulminieren diese beiden Tendenzen gewissermaßen. Zwar gab und gibt es von Aelita (SU 1924, Regie: Yakov Protazanov) und Metropoli (D 1927, Regie: Fritz Lang) über Fahrenheit 451 (GB 1966, Regie: François Truffaut) und Stalker (SU 1979, Regie: Andrej Tarkowskij) bis Under the Skin (GB/USA/CH 2013, Regie: Jonathan Glazer)1 immer wieder bemerkenswerte europäische SF-Filme, im Gegensatz zu den USA handelt es sich hierbei aber in aller Regel um Einzelwerke. Eigentliche Genretraditionen können sich nur in einem industriellen Kontext herausbilden, die fragmentierte und kleinräumige europäische Filmindustrie bietet hierfür denkbar schlechte Voraussetzungen. Als Ausnahmen ließen sich hier allenfalls England sowie einige osteuropäische Staaten anführen.

The Liverpool Companion to World Science Fiction Film

The Liverpool Companion to World Science Fiction Film

Obwohl Hollywood keineswegs immer an SF interessiert war – vor 1950 war das Genre praktisch inexistent –, spielt diese mittlerweile eine zentrale Rolle in der Blockbuster-Strategie der großen Studios. Außerhalb der USA fehlen meist Geld und Know-how, um mit den Mega-Produktionen mithalten zu können. SF dient somit nicht zuletzt dazu, die Vormachtstellung der amerikanischen Filmindustrie zu zementieren. Freilich gibt es dennoch immer wieder Versuche, außerhalb von Hollywood SF-Filme zu produzieren. Von der Forschung wurden diese bislang aber weitgehend ignoriert. Der Liverpool Companion to World Science Fiction Film schickt sich nun an, diese Lücke zumindest teilweise zu schließen.

Dass die 14 Kapitel des Sammelbands die weltweite SF-Produktion nicht erschöpfend abdecken können, versteht sich von selbst. Das erklärte Ziel von Herausgeberin Sonja Fritzsche ist nicht Vollständigkeit, sondern, «to make visible the incredible variety of science fiction film-making around the world» (5). Vielfältig sind nicht nur die behandelten Filmtraditionen, sondern auch die gewählten Ansätze. So widmen sich Ritch Calvin und Ji Zhang jeweils «ersten» Filmen. Im Falle von Zhang ist das Death Ray on a Coral Island (CN 1980, Regie: Zhang Hongmei), «arguably the first science fiction film produced in post-1949 China» (39), bei Calvin Pumzi (KE 2009, Regie: Wanuri Kahiu), «the first Kenyan science fiction film» (23). Jenseits der Tatsache, dass beide Filme jeweils als «offizielle» erste SF-Filme gelten, haben die Werke freilich wenig gemein. Pumzi, ein mit einem Budget von lediglich 35’000 Dollar gedrehter postapokalyptischer Kurzfilm, der sich mit Wasserknappheit und der Rolle der Frau auseinandersetzt, ist das Werk einer engagierten Künstlerin, produziert in einem Land, in dem weder Film noch SF Tradition haben.2 Death Ray, in dem ein Wissenschaftler eine Superbatterie entwickelt, die westliche Mächte für finstere Zwecke missbrauchen wollen, entstand dagegen während des Golden Age der chinesischen SF, einer kurzen Phase von 1978 bis 1983, in der das Genre vom Regime als Mittel «to popularize scientific knowledge and inspire youths interested in scientific research» (39) offiziell gefördert wurde. In beiden Fällen kommt den Filmen somit eine politische Funktion zu, wenn auch unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen.

Politik spielte auch bei der Stanisław-Lem-Verfilmung Der schweigende Stern (DDR/PL 1960, Regie: Kurt Maetzig), dem ersten osteuropäischen SF-Film, eine entscheidende Rolle, wobei die beteiligten Parteien sehr unterschiedliche Ziele verfolgten. Während man in Moskau die Überlegenheit bei der Eroberung des Alls demonstrieren und die polnischen Produzenten der lemschen Vorlage gerecht werden wollten, war das Ziel der DEFA, «to spread an egalitarian warning to the world that would also encourage more investment in space explorations» (125). Ganz im Sinne dieses pazifistischen Ansatzes ist die Crew in Kurt Maetzigs Film ethnisch und geschlechtsmäßig durchmischt. Wie Evan Torners Analyse zeigt, gelang es den Filmemachern aber insbesondere bei den weiblichen Figuren dennoch nicht, sich von etablierten Stereotypen zu lösen.

Der schweigende Stern.

Der schweigende Stern.

Steht bei den genannten Artikeln jeweils ein Film im Zentrum, sind andere übersichtsartig angelegt. So widmen sich Jessica Lange und Dominic Alessio dem indischen SF-Kino, dessen Tradition bis in die 1950er Jahre zurückreicht. Insbesondere seit der Jahrtausendwende erlebt der indische SF-Film einen Boom; über 30 Filme wurden seither produziert, viele davon mit großem finanziellem und technischem Aufwand. Enthiran (IN 2010, Regie: S. Shankar), auf den die Autoren ausführlicher eingehen, ist sogar die kommerziell erfolgreichste indische Produktion aller Zeiten. Obwohl dieser Film Elemente enthält, die für das indische Kino typisch sind – allen voran musikalische Einlagen –, sind insbesondere die Actionszenen deutlich von Hollywood inspiriert. An den Special Effects – eine besonders überbordende Actionsequenz hat auf YouTube mittlerweile fast vier Millionen Zuschauer gefunden – waren denn auch namhafte US-amerikanische Firmen wie Industrial Light and Magic beteiligt.

An einem Film wie Enthiran tritt eine Tendenz besonders deutlich zutage, die sich in fast allen Artikeln zeigt: Hollywood bleibt als Bezugsgröße stets präsent. Und das gilt sowohl für die Analysen wie auch für die Filmemacher. Sei es im Versuch, mit Hollywood in Sachen exaltierter Action gleichzuziehen wie im Falle von Enthiran oder in der bewussten Abgrenzung gegenüber der US-amerikanischen SF. Derek Johnston macht diese Haltung im britischen Kino aus, das insbesondere in Form der Hammer Studios auf einen, wie man heute sagen würde, transmedialen Ansatz setzte: Durch die Adaption bestehender Radio-, Bühnen- und Fernsehproduktionen kreierte das Studio «a particularly British slant on the genre» (100).

Frankreich als Land, das nicht nur eine reiche Filmtradition besitzt, sondern auch auf eine lange SF-Geschichte zurückblicken kann – zu erwähnen wäre nicht nur Jules Verne, sondern auch der Bereich der Comics –, ist ein besonders aufschlussreiches Beispiel. Wie Daniel Tron in seinem Artikel argumentiert, hat die maßgeblich durch die Nouvelle Vague begründete Tradition des Autorenfilms dazu geführt, dass es im Grunde kein französisches Genrekino gibt. Bekannte französische SF-Filme wie La jetée (FR 1962, Regie: Chris Marker), Alphaville (FR/IT 1965, Regie: Jean-Luc Godard) und Je t’aime, je t’aime (FR 1968, Regie: Alain Resnais) sind deshalb «either first films or remain one-shot experiments in the filmography of each director» (150). Genreaffine Regisseure wie Luc Besson können ihre Filme dagegen nur als internationale Koproduktion realisieren.

Alphaville

Science Fiction ausserhalb der Genretradition: Alphaville von Jean-Luc Godard.

Als erster Versuch, den US-geprägten Kanon des SF-Kinos aufzubrechen, ist der Liverpool Companion zweifellos ein wichtiger Beitrag. Dass das Buch nur einen Anfang darstellt, deklariert Fritzsche bereits in der Einleitung. Damit möchte sie wohl auch Kritik abwehren, bei den behandelten Regionen zu selektiv verfahren zu sein. Völlig entkräften kann sie diesen Vorwurf allerdings nicht. Die Auswahl der untersuchten Länder und Regionen wirkt relativ beliebig und zeigt zudem einen starken westlichen Einschlag. Fast die Hälfte der Beiträge beschäftigt sich mit europäischen Ländern, der afrikanische Kontinent wird dagegen nur mit dem Artikel zu Pumzi bedacht; das im Bereich Genrekino höchst produktive Hongkong wird nicht behandelt, Australien ohnehin nicht, und auch der gesamte arabische Raum ist abwesend.

Für diese Lücken gibt es zweifellos verschiedene Gründe; nicht zuletzt ist es gut möglich, dass die SF in manchen Kulturkreisen nach wie vor nicht Fuß fassen konnte. Solche weißen Flecken zu behandeln, wäre aber ebenfalls interessant gewesen. Überlegungen dazu, warum es keine arabische SF gibt – falls dem so sein sollte –, hätten eine echte Bereicherung dargestellt.

Transmorphers

Billiges Imitat eines schlechten Films: Transmorphers.

Zum Eindruck der Beliebigkeit trägt ausgerechnet einer der interessantesten Beiträge des Bandes mit bei, Paweł Freliks Ausführungen zu «digital audiences». Frelik setzt sich darin mit verschiedenen Phänomenen auseinander, die erst im Zeitalter günstiger digitaler Produktionsmittel entstehen konnten. Da ist zum einen das, was Frelik «science fiction exploitation cinema» (248) nennt, Billigst-Produktionen, die direkt auf DVD vertrieben werden. Neben den «Mockbustern» der Produktionsfirma Asylum wie Transmorphers (US 2007, Regie: Leigh Scott), AVH: Aliens Vs. Hunter (US 2007, Regie: Scott Harper) oder The Day the Earth Stopped (US 2008, Regie: C. Thomas Howell), die im Windschatten großer Produktionen segeln, sind auch wieder auferstandene (trashige) Subgenres wie etwa Giant-mutant-animal-Streifen zu nennen. Diese Filme setzen zwar auf digitale Effekte, haben aber nicht den Anspruch, qualitativ mit Großproduktionen gleichzuziehen; vielmehr setzen sie die Verfahren ein, die ihnen gängige Schnitt- und Effektprogramme von Haus aus zur Verfügung stellen. Das Ergebnis ist in jeder Hinsicht generisch.

Dass die verfügbaren Werkzeuge die Produktion maßgeblich beeinflussen, zeigt auch der Boom von SF-Kurzfilmen, bei denen es nicht selten einzig darum geht, mit visueller Extravaganz zu beeindrucken, während der Plot rudimentär bleibt. Noch einmal ein anderes Gebiet schneidet Frelik schließlich mit Erscheinungen wie Remixes und Fan-Edits an, in denen sich Fans bestehende Filme aneignen und dem Material eine neue Form geben. Wie gesagt: Das sind faszinierende und von der Wissenschaft noch weitgehend unbeackerte Felder, aber obwohl Frelik die Internationalität der SF-Kurzfilmproduktion betont, will sein Beitrag nicht so recht zur Ausrichtung des Bandes passen.

Dass digitale Produktionstechniken und nicht zuletzt die Möglichkeit der Distribution übers Netz gerade für finanzschwache Länder von eminenter Bedeutung sind, wird von verschiedenen Autoren hervorgehoben. Umso unverständlicher ist da, dass Angaben zu zu den online verfügbaren Filmen weitgehend fehlen. In der Bibliografie ist zwar jeweils der Hinweis «Film Short Online» zu lesen, eine URL sucht man aber vergeblich.

Fritzsche, Sonja (Hg.): The Liverpool Companion to World Science Fiction Film. Liverpool: Liverpool University Press, 2014.
277 Seiten, 978-1781380383, € 106. Erhältlich bei Amazon.

  1. Siehe zu Under the Skin auch meine Rezension.[]
  2. Der Film ist auf YouTube verfügbar,[]

Nachricht von Papi – Christopher Nolans «Interstellar»

Ursprünglich erschienen im Science Fiction Jahr 2015.

 

Machen wir es kurz: Interstellar ist – hymnischen Rezensionen wie jener von Dietmar Dath zum Trotz1 – kein guter Film. Es ist im besten Fall ein missglückter Film, was nicht das Gleiche ist wie ein schlechter. Missglückt bedeutet ja, dass man beim Versuch, etwas Ansehnliches zu schaffen, gescheitert ist. Ein gewisses Potenzial wäre also vorhanden. Ein schlechter Film dagegen ist ganz einfach – schlecht.

Wie man Interstellar bewertet, hängt wohl unter anderem damit zusammen, wie man das bisherige Schaffen von Regisseur Christopher Nolan einschätzt. Ist Nolan tatsächlich das große Genie des zeitgenössischen Mainstream-Kinos, als das er seit seiner Batman-Trilogie mancherorts gefeiert wird? Obwohl ich mich seinerzeit auch vom The Dark Knight-Hype anstecken ließ, bin ich mittlerweile etwas skeptisch geworden, was Nolans Qualitäten betrifft. Schon bei The Dark Knight Rises (USA 2012), vor allem aber bei Inception (USA 2010) schienen mir Anspruch und Ergebnis deutlich auseinanderzuklaffen. Nolans Filme sind gut darin, sich smart zu geben, halten einer genaueren Analyse aber oft nicht stand. So verwendet der Regisseur in seinem Traum-Einbruch-Film unglaublich viel Zeit darauf, ein kompliziertes Regelwerk zu etablieren, nur um sich dann im entscheidenden Moment keinen Deut um die zuvor errichteten Leitplanken zu scheren.

Der Limbo in «Inception».

Nur scheinbar ausweglos: Der Limbo in «Inception».

Am gefährlichsten, so erfahren wir früh, ist der Bereich des Limbos, denn aus diesen Traumuntiefen kehrt kein Sterblicher zurück. Denkste! Als es drauf ankommt, kann der von Leonardo DiCaprio gespielte Dominick Cobb dann doch wieder aus dem Limbo aufsteigen. In einem Film, der so offensichtlich clever sein möchte wie Inception, ist ein derartiger Deus ex Somnium ein Kapitalverbrechen.

Schön anzuschauen sind Nolans Filme allemal, sie sind aber oft deutlich weniger raffiniert, als sie vorgeben. Und das scheint mir denn auch die Hauptschwäche des Briten: seine philosophisch-intellektuellen Ambitionen. Nolan ist primär Bild-Handwerker und nicht Denker. Dass praktisch alle seine Filme im Innersten um die glückliche Zusammenführung einer Familie kreisen, trägt auch nicht unbedingt zu ihrer Qualität bei.

Das soll nicht heißen, dass Interstellar keine interessanten Ansätze enthielte. Wenn Philip Theisohn, Professor für Literaturwissenschaft und Experte für Außerirdischen-Literatur, schreibt, dass der Film zeige, was es bedeutet, »außerirdisch zu werden«, spricht er in der Tat ein zentrales – und potenziell auch ertragreiches – Motiv des Films an.2 Kann der Mensch noch Mensch sein, wenn er sein angestammtes Habitat verlässt? Sind wir zur Eroberung des Alls bestimmt, oder müssen wir uns damit abfinden, dass die Menschheit ihre winzige Ecke im Universum nie verlassen wird?

Die Wiedergeburt als Weltraum-Embryo.

Die Wiedergeburt als Weltraum-Embryo.

Zwei große Klassiker des SF-Kinos, mit denen Interstellar nicht zufällig immer wieder in Verbindung gebracht wird, haben sich bereits mit dieser Frage auseinandergesetzt, und beide kommen zu einem nicht sonderlich positiven Schluss. Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (US/GB 1968) endet mit der Transformation des Astronauten David Bowman zum Astral-Embryo. Das kann man zwar positiv verstehen, als Überwindung menschlicher Begrenzungen – der im Film mehrfach erklingende Zarathustra lässt grüßen –, im Grunde ist das Fazit aber ernüchternd und passt so gar nicht ins Zeitalter der Weltraumbegeisterung, in dem der Film entstanden ist: Der Mensch kann das All nur erobern, wenn er aufhört, Mensch zu sein.

Das Ende von «Solaris»

Am Ende kehrt der Protagonist von «Solaris» heim.

Andrei Tarkowski kommt in Solaris (SU 1972), der oft als Gegenentwurf zu Kubricks Weltraum-Epos verstanden wird, zu einem ähnlichen, wenn auch gewissermaßen nach innen gekehrten Schluss: Sein Protagonist Kelvin entdeckt am Ende auf dem rätselhaften titelgebenden Planeten sein Elternhaus. Der Weg in die unendlichen Weiten des Kosmos führt letztlich doch wieder zu uns selbst. Oder in den Worten Stanisław Lems, dessen literarische Vorlage bei allen Unterschieden in dieser Hinsicht einen vergleichbaren Ton anschlägt: »Menschen suchen wir, niemanden sonst. Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel. Mit anderen Welten wissen wir nichts anzufangen.«3

Was bei Lem in erster Linie eine Kritik an unserer Unfähigkeit ist, unsere anthropomorphen Kategorien hinter uns zu lassen, wird bei Tarkowski auf das Individuum heruntergebrochen. So sehr sich die Tonlage von Buch und Film auch unterscheidet, das Resultat bleibt das gleiche: Das All ist kein Ort, in dem die Menschheit heimisch werden kann, es ist uns grundlegend fremd. So gesehen wäre 2001 dann doch die optimistischste Variante, denn hier ist eine Kontaktaufnahme möglich – wenn auch um den Preis des Menschseins.

Nolan schlägt einen anderen Ton an. Der Ausspruch des Protagonisten Cooper, der als Tagline für den Film fungiert, sieht den Menschen in der Rolle des Entdeckers und ist darin deutliches Echo auf den amerikanischen Frontier-Mythos: »Mankind was born on Earth. It was never meant to die here.«4 Allerdings folgt Interstellar diesem Entdecker-Ethos weitaus weniger konsequent, als man meinen würde. Denn im Grunde vereinigt der Film die Positionen von 2001 und Solaris: Im Innern des Schwarzen Lochs findet Cooper sich selbst respektive seine Tochter Murphy – und zugleich eine Menschheit, die so unvorstellbar weit avanciert ist, dass sie Raum und Zeit nach Belieben manipulieren kann. Und hier liegt auch das zentrale – wenn auch längst nicht das einzige – Problem des Films: Er will alles auf einmal sein. Das ganz große kosmische Abenteuer und die Rückkehr an den heimischen Herd. Interstellar verschränkt das »To boldly go where no man has gone before« von Star Trek mit dem »There’s no place like home« aus The Wizard of Oz.

Das Verhalten der Übermenschen der Zukunft wirft dabei einige Fragen auf: Wenn sie in der Lage sind, ein Wurmloch in unserem Sonnensystem zu installieren und zudem ein Schwarzes Loch mit einer fünfdimensionalen Bibliothek möblieren können, müssten doch eigentlich einfachere Wege der Kontaktaufnahme möglich sein. Warum eine derart komplizierte Konstellation, die nur dann funktioniert, wenn Cooper in den vermeintlich sicheren Tod geht?

Im Tesserakt

In der fünfdimensionalen Bibliothek.

Ist das ein Test der intergalaktischen Bibliothekare? Falls ja, wäre das ziemlich dumm, denn die Existenz der Zukunft hinge dann davon ab, dass sich Cooper opfert. Hätte die Crew der Endurance einen anderen Weg gewählt, wäre das Intermezzo auf Manns Planet anders ausgegangen, dann wäre Cooper gar nie auf die Idee gekommen, sich als Schwarzes-Loch-Springer zu versuchen. Und schließlich: Was wäre geschehen, wenn nicht Cooper, sondern ein anderer Astronaut in das Schwarze Loch gestürzt wäre? Wäre er dann auch in der kosmischen Bibliothek gelandet? Obwohl es nie explizit gesagt wird, macht es doch den Anschein, als sei dieser extradimensionale Raum, von dem aus Cooper mit seiner Tochter kommuniziert, einzig für ihn geschaffen worden. Kaum hat er seine Aufgabe erfüllt, zerfällt der Tesserakt bereits wieder. Jeder andere Mensch wäre hier wohl aufgeschmissen gewesen.

Freilich – mit derartigem spitzfindigen Nachbohren kann man auch den schönsten Filmplot zerlegen. Was diese Fragen aber offenbaren, ist, dass das Weltall von Interstellar ganz auf Cooper zugeschnitten ist. Der Film erzählt nicht von einem von physikalischen Gesetzen beherrschten Kosmos, sondern von einem solipsistischen Universum.

Wie David Wittenberg in seiner lesenswerten Studie zum Zeitreise-Motiv festhält, haben Geschichten, die mit dem Zeitreise-Paradox spielen, oft die Tendenz, das gesamte Raum-Zeit-Gefüge auf eine einzige große Ego-Show zu reduzieren, bei der am Schluss alles darauf hinausläuft, dass das, was geschieht, einzig deshalb passiert, weil es geschehen muss respektive schon immer geschehen ist: »Within time travel paradox stories, the historical past tends to preserve or to protect itself, even to ›heal‹ itself when necessary, but in any case to persist as either what is or what it was supposed to have been5 Beispielsweise schickt John Connor in The Terminator (US 1984) Kyle Reese in die Vergangenheit, damit dieser Johns Mutter Sarah schwängern kann. So wie John sich indirekt selbst zeugt, erschaffen sich auch Interstellars Menschen der Zukunft mit der Hilfe von Cooper und Murphy; erst die Informationen, die Cooper seiner Tochter übermittelt – nicht näher spezifizierte »quantum data« –, ermöglichen eine Besiedelung des Alls und somit die Rettung der Menschheit. Diese Art von Selbstzeugung, die man als religiöses Konzept oder als kindliche Allmachtsphantasie verstehen kann, ist in der SF also durchaus nicht ungewöhnlich. Wittenberg bezeichnet Zeitreise-SF denn auch als eine

metaliterature of Oedipus and Narcissus, a literature about encountering (or reencountering) oneself, about meeting (remeeting) one’s progenitors, about negotiating (or renegotiating) one’s personal and historical origins.6

Das Problem bei Interstellar ist, dass der Film vorgibt, etwas ganz anderes zu erzählen: nämlich eine Geschichte kosmischer Exploration, ein Staunen über die Wunder des Universums. In Wirklichkeit geht es aber immer nur um Cooper und um Harmonie in Murphys Kinderzimmer.

Weltformel oder Liebeszauber?

Weltformel oder Liebeszauber?

Wir haben es hier mit zwei grundverschiedenen Welt-Vorstellungen zu tun. Auf der einen Seite ein den Gesetzen der Kausalität folgendes Film-Universum, in dem findige Helden handfeste Probleme bewältigen müssen, auf der anderen Seite Coopers in sich gekrümmter emotionaler Innenraum. Besonders störend ist dabei, wie der Film diese beiden Welten zusammenkleistert: indem er Liebe zur physikalischen Größe erklärt. Der Monolog von Anne Hathaway, in dem sie dafür plädiert, Liebe als physikalisches Phänomen zu verstehen, ist ein Tiefpunkt des Films – und zugleich essenziell für seine Konstruktion.

Wohlverstanden: Ich habe kein Problem mit der Vorstellung, dass eine hoch spezialisierte und jahrelang für ihre Mission ausgebildete Physikerin wie die von Hathaway dargestellte Amelia Brand ein emotionales Wesen ist. Tatsächlich finde ich die Idee, die heroischen Astronauten mit ganz menschlichen Schwächen zu versehen – Brand will zu ihrem Geliebten Edmund, Mann hält die Einsamkeit nicht aus und wird deshalb zum Lügner und Mörder, Cooper hat wegen Murphy ein schlechtes Gewissen –, grundsätzlich vielversprechend. Womit ich allerdings große Mühe habe, ist, dass eine Physikerin allen Ernstes einen Satz wie »Love is the one thing that transcends time and space« von sich gibt, ohne anschließend vor Scham in den Boden zu versinken. Brand mag sich nach Edmund verzehren, sie mag dafür sogar die Mission aufs Spiel setzen – obwohl das kein gutes Licht auf das psychologische Training der NASA werfen würde –, dass sie die Liebe zu jener Kraft erklärt, die das Raum-Zeit-Gefüge zusammenhält, glaube ich aber schlichtweg nicht.

Cooper und Murph

Cooper und Murph: Die Liebe, die die Welt im Innersten zusammenhält.

Für die Gesamtkonstruktion des Films ist diese Herleitung der Liebe als fehlendes Element einer Weltformel allerdings entscheidend. Denn auch wenn es der Film nicht explizit sagt – die Kraft, die es Cooper ermöglicht, im Tesserakt mit seiner Tochter in Kontakt zu treten, ist natürlich die Liebe. Nur weil Papi seinem Töchterchen die Treue hält, kann die Menschheit das All erobern. Weil es so schrecklich ist, zitiere ich hier die Erklärung der Website Den of Geek!, die mir ganz im Sinne des Films scheint:

The futuristic humans knew that it was Murphy Cooper who saved them with an equation, and they made sure that she could do it by communicating with her in the only language that is universal: a parent’s love.7

Spätestens hier überschreitet Interstellar unwiderruflich die Grenze zwischen prätentiösem Zeitreise-Film und pseudowissenschaftlich verbrämtem Esoterik-Kitsch. Nolan erzählt nichts anderes als eine aufgemotzte Version von Ghost (USA 1990); ohne Demi Moore und ohne Töpferszene, dafür aber mit viel Hardware.8 Das wirklich Ärgerliche an dieser Konstruktion ist noch nicht einmal ihre klebrige Süßlichkeit, sondern dass sie als besonders raffinierter Plot-Twist verkauft wird.

Ebenfalls irritierend ist die Vehemenz, mit der das Marketing die angebliche wissenschaftliche Grundierung des Films hervorgehoben hat. Wie mittlerweile wohl jeder SF-Interessierte mitgekriegt hat, fungierte der Astrophysiker Kip Thorne als Berater des Films. Tatsächlich geht das Projekt ursprünglich auf ein Treatment zurück, das Thorne mitverfasst hat. Entsprechend ist er auch als Executive Producer des Films aufgeführt.

Wie Thorne in dem begleitend zum Film erschienenen Buch The Science of Interstellar ausführt, legte er bei der Entwicklung des Stoffes schon früh zwei Regeln fest:

  1. Nothing in the film will violate firmly established laws of physics, or our firmly established knowledge of the universe.
  2. Speculations (often wild) about ill-understood physical laws and the universe will spring from real science, from ideas that at least some »respectable« scientists regard as possible.9

Ohne Thorne, der unbestritten Verdienste als Wissenschaftler hat, zu nahe treten zu wollen: Nach meinem Dafürhalten sind diese beiden Regeln großer Unsinn und letztlich wenig mehr als Marketing-Gewäsch.

Realismus und Plausibilität sind keine absoluten Werte, sondern werden einerseits durch unser Vorwissen, andererseits aber auch maßgeblich über die Haltung eines Films gesteuert. Jeder Film – und jeder Roman – errichtet seine eigene Welt mit ihren spezifischen Regeln. Niemand beschwert sich darüber, dass die Figuren in einem Musical zu singen und zu tanzen beginnen oder dass James Bond jedes noch so haarsträubende Abenteuer unbeschadet übersteht. Dass wir solche »unrealistischen« Eskapaden akzeptieren, hängt vom Tonfall ab, den ein Film anschlägt, davon, wie er sich und seine Welt präsentiert. Oft spielen Genres und deren Konventionen eine wichtige Rolle. Genres fungieren in der Kommunikation zwischen Filmemacher und Publikum als eine Art Kürzel: Als Zuschauer weiß ich, dass in einem Western andere Regeln gelten als in einem SF-Film (was nicht heißt, dass man die beiden nicht miteinander kombinieren kann), folglich muss der Film nicht alles erklären, sondern kann gewisse Dinge voraussetzen. Dabei sind diese Regeln keineswegs festgeschrieben, sondern historisch und je nach kulturellem Hintergrund wandelbar: Fritz Lang ließ seine Astronauten in Die Frau im Mond (DE 1929) noch ohne Raumanzug auf der Mondoberfläche spazieren. Heute würde das niemand mehr wagen. Einerseits wissen wir, dass es auf dem Mond keine Atmosphäre gibt, andererseits ist der Raumanzug ein fest etabliertes, ikonisches Motiv der SF.

Dass SF keineswegs streng wissenschaftlich zu sein hat, sondern dass sie primär den Anschein wissenschaftlich-technischer Plausibilität erzeugen muss, ist im Grunde offensichtlich. Uns allen ist bewusst, dass geläufige SF-Motive wie Zeitreisen, Wurmlöcher und Fortbewegung mit Überlichtgeschwindigkeit unmöglich sind. Daran ändern die von den Medien regelmäßig verbreiteten Meldungen nichts, dass ein Forscherteam wieder einmal nachgewiesen hat, dass die Physik dieses oder jenes SF-Novum theoretisch doch zulassen würde. Denn als Nachtrag kommen jeweils sehr grundlegende Einschränkungen. So in der Art von: »Es wäre theoretisch möglich, die Lichtgeschwindigkeit zu überschreiten, praktisch wäre aber mehr Energie nötig, als das gesamte Universum zur Verfügung stellt.«10 Mit anderen Worten: Es bleibt unmöglich. Und falls es doch einmal möglich werden sollten, dann nicht auf Grundlage der uns heute bekannten physikalischen Gesetze.

Das Schwarze Loch Gargantua

Immerhin: Schön sieht es aus, das Schwarze Loch.

Durchblättert man The Science of Interstellar, zeigt sich nicht ganz unerwartet, dass die Sache mit der vermeintlichen Wissenschaftlichkeit nicht so einfach ist. Zur Frage, ob Wurmlöcher durchquert werden können, schreibt Thorne etwa, dass vieles darauf hindeute, dass dies nicht möglich sei, definitiv beantworten ließe sich das aber noch nicht. Für mich als Zuschauer spielt es aber überhaupt keine Rolle, ob die Reise durch ein Wurmloch komplett unmöglich, praktisch unmöglich oder bloß sehr unwahrscheinlich ist. Es ist SF, also akzeptiere ich Dinge wie ein Wurmloch. Ebenso wenig interessiert mich, wie akkurat die Darstellung eines Schwarzen Lochs ist, da ich ja ohnehin keine Möglichkeit habe nachzuprüfen, wie weit der Film sich von der Realität entfernt.11 Sich zu überlegen, welche Variable einer Gleichung wie manipuliert werden muss, damit ein Wurmloch theoretisch möglich wird, mag für Leute mit besonderem Interesse an Astrophysik interessant sein, für das Funktionieren der Geschichte ist es dagegen irrelevant. Für den Filmzuschauer ist einzig die Rolle in der Story-Mechanik wichtig, und allenfalls noch, ob das Schwarze Loch gut aussieht; zumindest Letzteres ist in Interstellar immerhin der Fall.

Diskussionen über das Wesen richtiger SF finde ich in aller Regel herzlich uninteressant. Die Geschmäcker sind nun einmal verschieden. Ob bunte Space Opera oder superharte Hard SF – entscheidend ist, dass ein Film innerhalb der Parameter bleibt, die er selbst etabliert, dass er in sich konsistent ist. Meine Kritik an Interstellar läuft denn auch nicht darauf hinaus, dass ich dem Film vorhalte, keine echte SF zu sein, sondern dass Nolan gleich in mehrfacher Hinsicht Etikettenschwindel betreibt. Der Film wuchert mit seinen wissenschaftlichen Pfunden, gibt sich unglaublich clever und raffiniert, kümmert sich letztlich aber kein bisschen darum. Am Ende wird der liebesgetriebene Tesserakt aus dem Hut respektive ins Schwarze Loch gezaubert, und alles ist gut. Nolan hat mit Interstellar ein Rührstück über die alles überwindende väterliche Liebe gedreht, traut sich aber offensichtlich nicht, dazu zu stehen.

  1. Dietmar Dath: »Interstellar im Kino: Fliehkraft liebt Schwerkraft«. In: FAZ (4. 11. 2015), S. 9. Online hier.[]
  2. Philip Theisohn: »Theisohns Sci-Fi-Tipp«. In: Zürcher Studienzeitung 6 (2014). Online hier.[]
  3. Stanisław Lem: Solaris. Aus dem Polnischen von Irmtraud Zimmermann-Göllheim. München: dtv, 2002, S. 85.[]
  4. Zum Frontier-Mythos in Interstellar siehe Eileen Jones: »Reactionaries in Space«. In: Jacobin (12. 10. 2014). Online hier.[]
  5. Wittenberg, David: Time Travel. The Popular Philosophy of Narrative. New York: Fordham University Press, 2013, S. 150.[]
  6. Ebd., S. 64. Die konsequenteste Version einer solchen Ego-Zeitreise zeigt der Film Predestination (AU 2014) nach der Erzählung »– All You Zombies –« von Robert A. Heinlein aus dem Jahre 1959.[]
  7. Crow, David: »Explaining the Interstellar Ending«. Den of Geek! (13. 3. 2015). Online hier.[]
  8. Den Vergleich mit Ghost verdanke ich Patrick Karpiczenko.[]
  9. Kip Thorne: The Science of Interstellar. New York: W. W. Norton, 2014.[]
  10. So schreibt der Physiker Jean-Pierre Luminet über die Möglichkeit, ein Wurmloch künstlich aufrechtzuerhalten: »Of course, all of this is highly speculative, but not theoretically impossible – even if the amount of negative energy required maintaining the wormhole open would be greater than the total energy emitted by the Sun during one full year …« Jean-Pierre Luminet: »The Warped Science of Interstellar«. In: ArXiv e-prints (2015). arXiv: 1503.08305 [physics.pop-ph], S. 3f.[]
  11. Wie Jean-Pierre Luminet erklärt, sind bei der Darstellung des schwarzen Lochs in Interstellar verschiedene Verzerrungseffekte nicht sichtbar, die ein Beobachter sehen würde. Eine wirklich akkurate Darstellung wäre für die Zuschauer zu verwirrend gewesen. Luminet hält zudem leicht pikiert fest, dass seine eigene bereits 1979 veröffentlichte Darstellung eines Schwarzen Lochs akkurater gewesen sei als jene in Interstellar. Luminets Simulation ist nicht nicht bewegt und in relativ grobkörnigem Schwarz-Weiß (Quelle): Luminets SimulationEine farbige Animation, die auf Luminets Arbeit aufbaut, gibt es auf YouTube: []