Mysteriöses

Da dieser Tage die neue Ausgabe der Zeitschrift für Fantastikforschung ausgeliefert wird, kann ich nun gemäss Abmachung mit den Herausgebern einen Artikel zugänglich machen, der in der vergangenen Ausgabe erschienen ist. In «Das große Genre-Mysterium: Das Mystery-Genre» befasse ich mich – welche Überraschung – für einmal nicht mit Utopien, sondern mit dem Mystery-Genre.

I- want-to-believe-Plakat

Mit The X-Files fing alles an.

Der Artikel geht auf einen Vortrag zurück, den ich im November 2011 an einer Tagung zur Fernsehserie Lost hielt.1 Ich selbst war von Lost nie wirklich begeistert; zum einen fand ich – im Gegensatz zu anderen «Qualitätsserien – einige der Schauspieler wirklich schlecht. Vor allem aber hat mich das ständige Rätsel-auf-Rätsel-Türmen schon bald genervt. Ich war denn auch alles andere als überrascht, dass das Ende so unbefriedigend ausfiel.2 Dennoch sagte ich gerne zu, als man mich anfragte, etwas zum Mystery-Genre zu erzählen, denn für mich war das eine gute Gelegenheit, einer These nachzugehen, die ich schon lange gehegt hatte. Wie ich in dem Artikel argumentiere, ist der Begriff «Mystery», wie er heute im Deutschen meist verwendet wird – also als Bezeichnung für irgendwie seltsame Geschichten – im Wesentlichen eine Erfindung des Fernsehsenders ProSieben. Ich kann anhand zahlreicher Quellen belegen, dass «Mystery» erst im Zusammenhang mit der Ausstrahlung von The X-Files auf ProSieben seine heutigen Bedeutung erhielt (im Englischen dagegen ist eine «mystery novel» schlicht und ergreifend ein Krimi).

Daneben enthält der Artikel noch einige grundsätzliche Überlegungen zur Genretheorie sowie ein paar Gedanken zur Verbindung von Todorovs Phantatsiktmodell, Mythentheorie, Fankultur und erzählerischer Komplexität in Fernsehserien. Alles Weitere kann bei Interesse hier nachgelesen werden. Eine englische Version des Artikels wird im Tagungsband enthalten sein, der demnächst erscheinen sollte.

Bibliographische Angaben

Pearson, Roberta E. (Hg.): Reading Lost. Perspectives on a Hit Television Show. London/New York 2009.

Spiegel, Simon: «Das große Genre-Mysterium: Das Mystery-Genre». In: Zeitschrift für Fantastikforschung. Jg. 4.1, Nr. 7, 2014, 2–26.

Spiegel, Simon: «The Big Genre Mystery: The Mystery Genre». In: Beil, Benjamin et al. (Hg.): LOST in Media. Berlin 2014 [im Druck].

  1. Ein Mitschnitt des – englischen – Vortrags findet sich hier.[]
  2. An der Tagung hielt unter anderem Roberta Pearson, die den ersten wissenschaftlichen Sammelband zu Lost herausgegeben hat, eine Keynote. Es war für mich einigermassen beruhigend zu hören, dass selbst Pearson die letzte Staffel nicht zu Ende geschaut hat, da ihr die Serie mittlerweile zu sehr auf die Nerven ging.[]

«Weltraumforschung ist eine Erdwissenschaft»

Gibt es zeitgenössische Utopien? Literarische Entwürfe einer besseren Gesellschaft, die man auch nur halbwegs ernst nehmen kann? Utopien, die sich der problematischen Geschichte der Gattung bewusst sind, etwa ihrer Tendenz zu totalitären Systemen? Kann ein vernünftiger Mensch heute überhaupt noch Utopien schreiben, oder befinden wir uns – wie es Linke oft beklagen und Konservative jubelnd verkünden – in einem post-utopischen Zeitalter?

Als wir diese Frage kürzlich an der SF/F Now in Warwick diskutierten und uns den Kopf zerbrachen, wer heute als utopischer Autor gelten kann, fiel sehr schnell der Name Kim Stanley Robinson. Und er blieb der einzige.

Bislang habe ich zwar nur zwei Romane Robinsons gelesen habe: Red Mars und Green Mars, die ersten beiden Bände der Mars-Trilogie. Aber diese beiden Bücher reichen, um zu erkennen, dass Robinson eine Ausnahmeerscheinung ist – in der Science Fiction, aber auch innerhalb der zeitgenössischen Literatur.

Red Mars

Green Mars Mars
Blue MarsDie Mars-Trilogie

Die Mars-Bücher beschreiben die Besiedlung des roten Planeten, beginnend in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts. Sie tun dies mit einer unerhörten Detailversessenheit; Robinson kann seitenlang über die Geologie des Mars oder Flechten und Algen schreiben. Das ist oft erschlagend, nicht selten nervtötend, aber dennoch stets auf eine eigenartige Weise faszinierend (Veronica Hollinger hat es in Warwick schön formuliert: «Even when Robinson is tedious, he’s great.»). Denn der Effekt dieses Verfahrens ist, dass die Bücher nicht wie typische SF wirken, sondern wie eine plausible Beschreibung. So könnte eine Kolonisierung des Mars tatsächlich ablaufen.

Nun ist Plausibilität keineswegs notwendig für gute SF, für Robinsons Projekt ist sie aber eine wichtige Voraussetzung. Denn nur dank ihrer ausgeprägten realistischen Grundierung können die Mars-Romane als glaubhafte Utopien funktionieren. Und genau darum geht es Robinson: Durchzuspielen, wie der Versuch, eine bessere Gesellschaft zu errichten, vonstatten gehen könnte. Das geschieht stets mit dem Bewusstsein, dass jede Utopie am Ende scheitern muss, auch im besten Fall nur teilweise umgesetzt werden kann, dass es keine Reissbrett-Lösungen gibt, dass die Realität immer komplizierter ist.

Entsprechend gross war deshalb meine Freude, als ich erfuhr, dass dieser letzte Utopist für eine Lesung nach Zürich kommt. Und sie stieg fast ins Grenzenlose, als ich die Gelegenheit zu einem längeren Gespräch mit Robinson erhielt. Im Folgenden Auszüge daraus, mit ganz herzlichem Dank an Philipp Theisohn, der das Treffen eingefädelt hat.1

Kim Stanley Robinson, Sie haben ursprünglich Literatur studiert. Ihre Romane offenbaren aber ein grosses Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen. Haben Sie ein naturwissenschaftliches Studium je ernsthaft in Betracht gezogen?

Nein, nie. Ich bin mathematisch nicht sonderlich begabt, und letztlich stand für mich immer die Literatur im Vordergrund. Wenn ich nicht Literatur studiert hätte, dann am ehesten Archäologie, Ethnologie, Geologie oder eine andere Erdwissenschaft. Archäologie fasziniert mich noch immer. Die Verbindung von Naturwissenschaft und Geschichte und vor allem das Interpretieren von Objekten, also von Hinweisen, die nicht textlicher Natur sind. Ich liebe es, Ausgrabungsstätten zu besuchen. Meine Reisen nach Kreta und Orkney, zwei Inseln mit vielen Ausgrabungen, gehören zu den metaphysischen Erfahrungen meines Lebens.

Sie haben Ihr Studium mit einer Dissertation über Philip K. Dick abgeschlossen.2 Das überrascht auf den ersten Blick. Dick und Sie erscheinen wie zwei Pole auf dem SF-Spektrum.

Das war ursprünglich die Idee von Fredric Jameson, meinem Betreuer. Ich hatte SF als Genre ungefähr ein Jahr vorher entdeckt und wollte etwas dazu machen. Jameson, der heute als einer der führenden linken US-Intellektuellen gilt, war damals ein junger Professor. Er beschäftigte sich bereits zehn Jahre mit SF und schlug mir vor, dass ich zu Dick arbeiten sollte. Ich kannte damals nur Galactic Pot-Healer, einen von Dicks kürzeren Romanen. Ziemlich schludrig geschrieben und recht bizarr, aber durchaus interessant. Dick hat eine Zeit lang unglaublich viele Romane geschrieben. Oft für lächerliche Gagen wie 1500 Dollar. Er ging dabei von bestehenden Kurzgeschichten aus und schrieb nicht selten innerhalb von zwei Wochen einen Roman. Dazu schluckte er Amphetamine. Manchmal war das Ergebnis überzeugend, manchmal nicht. Nur wenige seiner Romane sind wirklich sorgfältig ausgearbeitet, etwa The Man in the High Castle und Valis.

Inwiefern hat Dick Ihr Schreiben beeinflusst?

Ich hatte kürzlich ein interessantes Gespräch mit dem Schriftsteller Jonathan Lethem zur Frage, was Dick für uns bedeutet (online verfügbar). Lethem ist an Dicks Surrealismus interessiert, am Zusammenbrechen der Realität. Für mich stehen dagegen andere Dinge im Vordergrund. Inhaltlich ist das vor allem die Figur des kleinen Mannes als Held. Daneben ist aber auch die Struktur wichtig, das Wechseln der Perspektive von Szene zu Szene. Diese Technik eignet sich sehr gut, um dreidimensionale Protagonisten zu entwerfen, denn man sieht die Figuren sowohl von innen wie von aussen. Dick hat dieses Verfahren natürlich nicht erfunden, aber er setzt es konsequent ein. Und ich habe es von ihm übernommen und nutze es seither.

In Ihrer Dissertation stützen Sie sich unter anderem auf den SF-Theoretiker Darko Suvin, der im Verfahren der Verfremdung das entscheidende Moment der SF sieht.3 Wenn man Ihre Romane betrachtet, scheint diese Einschätzung nicht unbedingt zuzutreffen. In der Mars-Trilogie machen Sie im Grunde das Gegenteil. Der rote Planet erscheint nicht als etwas Fremdes, sondern vielmehr als alltäglich. Die Bücher fühlen sich eher wie realistische Romane an. Müsste man in Ihrem Fall nicht von Naturalisierung oder Normalisierung sprechen?

Mein Vorgehen ist in der Tat, dass ich Dinge, die fremd erscheinen sollten, als normal präsentiere. Von einem Roman über den Mars erwartet man, dass dort alles anders ist. Und dann liest man das Buch und merkt: Mein Gott, das geht ja um mich. Suvin spricht nur von einer Hälfte der SF. SF muss eine Art stereoskopischen Effekt erzeugen wie bei einer 3D-Brille. Die eine Linse schaut nach vorne und spricht über die Zukunft, während die andere die Gegenwart beschreibt. Es braucht beide Linsen, damit die SF ihren charakteristischen 3D-Effekt erzeugen kann. Der SF-Forscher Roger Luckhurst hat im Zusammenhang mit meinen Romanen den Ausdruck «proleptischer Realismus», also vorausschauender Realismus, gebraucht, den ich sehr passend finde.4 Ich sehe mich durchaus in der Tradition des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts; Autoren wie Balzac, die versuchten, die gesamte Gesellschaft abzubilden, und auch politisch Position bezogen.

Christianopolis

Christianopolis von Johann Valentin Andreae von 1619

Viele Ihrer Romane stehen zudem in der utopischen Tradition und verhandeln die Frage, wie eine bessere Gesellschaft aussehen könnte. In den Mars-Romanen gibt es zahlreiche Anspielungen auf die Klassiker der utopischen Literatur; etwa die Siedlung Christianopolis, benannt nach einer Utopie des frühen 17. Jahrhunderts, oder eine andere namens Fourier, in Anlehnung an den französischen Frühsozialisten und Utopisten. Sehen Sie sich selbst als Utopisten?

Ich bin SF-Autor, kehre aber immer wieder zur Utopie zurück. Das hängt mit den Inhalten zusammen, die mich interessieren, aber auch mit formalen Fragen. Mittlerweile würde ich mich als utopischen SF-Schriftsteller bezeichnen. Ich bin diesbezüglich eine Ausnahme. Viele Autoren schreiben in ihrem Leben nur eine einzige Utopie und lassen die Gattung dann hinter sich.

Haben Sie sich je systematisch mit der Geschichte der literarischen Utopie beschäftigt?

Als ich Pacific Edge schrieb, habe ich mich sehr intensiv mit der Gattung befasst, begonnen bei Plato und Morus. Pacific Edge war mein erster Versuch einer realistischen Utopie. Meine Leitfrage war, wie ein glaubhaftes utopisches Kalifornien in 50 Jahren aussehen könnte. Zugleich war vieles durch die beiden vorhergehenden Kalifornien-Romane The Wild Shore und The Gold Coast vorbestimmt. Das Ergebnis ist ein seltsames Biest, definitiv nicht eines meiner besten Bücher. Es führte aber direkt zu den Mars-Romanen. Ich war mit Pacific Edge unzufrieden und versuchte dann, das Problem einer glaubhaften Utopie mit der Mars-Trilogie zu lösen. Eines der Bücher, das mir dabei half, war H. G. Wellsʼ A Modern Utopia von 1905. Wells spricht in der Einleitung davon, dass eine moderne Utopie dynamisch sein müsse, da das klassische statische Modell nicht mehr funktioniert.5

In der Utopieforschung wird immer wieder diskutiert, ob eine Utopie ernst gemeint sein muss. Ist die Utopie wirklich als Anleitung für eine bessere Gesellschaft gedacht oder dient sie primär als kritische Reflexion der Gegenwart. Zumindest im Falle von Morusʼ Utopia dürfte Letzteres der Fall sein. Wo situieren Sie sich in dieser Diskussion?

Ich habe kein Problem damit, wenn man meine Romane als Bauplan für eine bessere Welt versteht. Sie sind nicht bloss als Kritik oder Zerrspiegel gedacht. Ich bringe darin meine Überzeugung zum Ausdruck, dass wir in einer besseren Welt leben könnten, wenn wir manche Dinge anders machen würden.

Ich glaube nicht, dass sich viele zeitgenössische Schriftsteller trauen, so etwas offen zu sagen.

Das ist mir bewusst, und ich fühle mich auch seltsam dabei. In ästhetischer Hinsicht ist mein Schaffen merkwürdig. Es gibt ein weit verbreitetes Verständnis von Literatur, das besagt, dass jemand, der so explizit und so explizit politisch schreibt wie ich, künstlerisch etwas falsch machen muss. Dazu kann ich nur sagen: Dem mag so sein, aber es ist nun mal meine Art zu schreiben. Ich habe hier so etwas wie eine ökologische Nische gefunden und die Leute reagieren positiv darauf.

Kim Stanley Robinson

Robinson liest am Loncon.

Desmond, besser bekannt als Coyote, sagt an einer Stelle in Green Mars Folgendes: «Anyone can agree things should be fair, and the world just. The way to get there is always the real problem.» Wäre es übertrieben zu sagen, dass dies der Kern ist, um den sich ein Grossteil Ihrer Bücher dreht.

Das stimmt durchaus. In diesem Punkt widerspreche ich übrigens meinem Lehrer Fredric Jameson. Jameson hat in einem oft zitierten Artikel 6  argumentiert, dass wir letztlich gar nicht in der Lage sind, uns eine Utopie vorzustellen. Dabei ist es die einfachste Sache der Welt, ein utopisches System zu beschreiben: Die Ärmsten sind ausreichend versorgt sind und die Reichen besitzen nur zehn mal mehr als die Ärmsten. Dafür reicht ein Satz. Was wir uns dagegen nicht vorstellen können, ist, wie wir dorthin gelangen. Dazu sieht unsere aktuelle Situation zu verfahren aus, entwickeln sich zu viele Dinge in die falsche Richtung. Hinzu kommt, dass im Spätkapitalismus die Vorstellung des Menschen als habgieriges, gewinnsüchtiges, kompetitives und betrügerisches Wesen vorherrscht. – Ich habe die 1960er Jahre erlebt, als wir noch an die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Revolution glaubten. In den 1980ern krachten wir aber gegen eine Wand. Damals wurde unser Glaube an eine Revolution und an die Möglichkeit, dass sich die Dinge schnell zum Guten wenden würden, zerstört. Wie geht man nun damit um, wenn man den Glauben an die Revolution verloren hat, aber nach wie vor an Utopien festhält? Dann muss man sich eben überlegen, was dennoch funktionieren könnte. Und deshalb erzähle ich Geschichte um Geschichte und erfinde immer neue Varianten, wie es klappen könnte.

In der Utopie steht typischerweise die soziale Organisation und nicht das Individuum im Vordergrund; im Zentrum steht die Frage, wie eine Gesellschaft organisiert sein sollte. Das gilt zwar auch für Ihre Romane, zugleich geht es aber immer auch um Einzelfiguren. Die Geschichte des Mars würde sich anders entwickeln, wenn nicht John Boone oder Ann Clayborne an entscheidenden Momenten eingriffen. Ist das durch die Form des Romans gegeben oder hängen politische und soziale Entwicklungen am Ende doch stark von Individuen ab.

Das ist eine interessante Frage. Die Form ist zweifellos wichtig. Ein Roman braucht Figuren, und als Autor bemühe ich mich darum, dass sie exemplarisch für etwas stehen. Es geht nicht nur um John, Ann oder Frank, sondern um die Standpunkte, welche diese Figuren repräsentieren. Zugleich bin ich überzeugt, dass es keine übermenschlichen historischen Kräfte gibt, sondern nur Ansammlungen von Menschen. Diese Menschen sind zwar durch ihre jeweilige Kultur und ihre Umgebung geprägt, sie treffen aber dennoch individuelle Entscheide. Ich denke, dass es durchaus Situationen gibt, in denen ein einzelner Mensch ausschlaggebend sein kann. Wie in The Man in the High Castle: Nobusuke Tagomi ist ein kleiner Bürokrat, aber es kommt zu einer Situation, in der das, was er tut, wichtig wird. Vielleicht ist das nur die Sichtweise eines Romanautors, aber der Einzelne ist keineswegs komplett unbedeutend. Wir beide machen zusammen zwei Siebenmilliardstel der Menschheit aus. Das scheint wenig, es ist aber nicht nichts. Meine Frau arbeitet als Chemikerin ständig mit so kleinen Einheiten. Der milliardste Teil kann entscheidend sein; er kann tödlich sein oder impfend wirken.

Der Mars ist seit einiger Zeit wieder in den Medien. Halten Sie es für sinnvoll, zum Mars zu reisen, lohnt sich der Aufwand?

Der Aufwand würde sich wohl nur knapp lohnen. Es wäre zweifellos eine interessante technische Aufgabe, von der man einiges lernen könnte. Unsere grössten Herausforderungen sind aber hier auf der Erde: der Klimawandel und des Etablieren einer Permakultur, die ökologisch und sozial nachhaltig ausgerichtet ist. Der Mars könnte dabei als Vergleichswert sinnvoll sein, denn es handelt sich um einen giftigen, unbewohnbaren Planeten; quasi als Teil einer vergleichenden Planetologie. Weltraumforschung ist letztlich ja immer eine Erdwissenschaft. Aber die Besiedelung des Mars hat sicher keine Priorität. Der Mars wird uns nicht retten, wie manche behaupten.

Es gibt verschiedene Szenarien, wie man zum Mars reisen könnte, unter anderem das private Mars-One-Projekt.

Mars One ist Unsinn, den Leuten wird etwas vorgegaukelt. Ich weiss nicht, ob die Initianten auch sich selbst etwas vormachen, aber im Grunde ist es Betrug. Zu viele technische Fragen sind noch nicht gelöst.

Wenn es die Möglichkeit gäbe, zum Mars zu reisen – und ich spreche nicht von der berühmten Reise ohne Retourticket –, würden Sie sie wahrnehmen?

Das wäre primär eine Frage des Zeitaufwands. Mit dem heutigen Stand der Technik müssen wir von rund fünf Jahren ausgehen. Das ist mir zu lange. Ich habe zu viele Verpflichtungen hier. Aber nehmen wir mal an, es wären nur je zwei Wochen Hin- und Rückflug nötig, um einen Monat auf dem Mars zu verbringen – ich wäre sofort dabei. Wer würde das nicht wollen?

  1. Robinsons Lesung fand im Rahmen des von Philipp Theisohn geleiteten Forschungsprojekt Conditio extraterrestis statt.[]
  2. Kim Stanley Robinson: The Novels of Philip K. Dick. Ann Arbor 1984. Auf Deutsch verfügbar als:Die Romane des Philip K. Dick. Eine Monographie. Berlin 2005.[]
  3. Siehe zur Verfremdung auch meinen Artikel: «Der Begriff der Verfremdung in der Science-Fiction-Theorie. Ein Klärungsversuch». In: Quarber Merkur. Franz Rottensteiners Literaturzeitschrift für Science Fiction und Phantastik. Nr. 103/104, 2006, 13-40. Erhältlich hier.[]
  4. Roger Luckhurst: «The Politics of the Network: The Science in the Capital Trilogy». In: Burling, William J. (Hg.): Kim Stanley Robinson Maps the Unimaginable. Critical Essays. Jefferson/London 2009, 170–180.[]
  5. Wells schreibt Folgendes in der Einleitung: «The Utopia of a modern dreamer must needs differ in one fundamental aspect from the Nowheres and Utopias men planned before Darwin quickened the thought of the world. Those were all perfect and static States, a balance of happiness won for ever against the forces of unrest and disorder that inhere in things. […] Change and development were dammed back by invincible dams for ever. But the Modern Utopia must be not static but kinetic, must shape not as permanent state but as a hopeful stage, leading to a long ascent of stages. Nowadays we do not resist and overcome the great stream of things, but rather float upon it» (H. G. Wells: Tono-Bungay and A Modern Utopia. London 1908, S. 315).[]
  6. Fredric Jameson: «Progress Versus Utopia; Or, Can We Imagine the Future?». In: Science Fiction Studies. Jg. 9.2, Nr. 27, 1982, 147–168. Erhältlich hier.[]

GFF 2014

Gestern ging die fünfte Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung (GFF) zu Ende. Die Veranstaltung, an der ich bereits zum vierten Mal teilnahm – einzig an der zweiten GFF-Konferenz in Salzburg war ich nicht dabei –, wurde heuer vom Department of English and American Studies der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt ausgerichtet (hier die Website der Tagung). Wie bereits in den vergangenen Jahren war es eine schöne Gelegenheit, um Bekannte zu treffen und neue Kontakte zu knüpfen. Inhaltlich war die Tagung aber zumindest für mich nicht sonderlich ergiebig, was vor allem an zwei Dingen lag, die wohl bis zu einem gewissen Grad zusammenhängen. Da wäre einerseits das Thema der diesjährigen Ausgabe. Auch die früheren GFF-Tagungen hatten jeweils einen inhaltlichen Schwerpunkt, dieser wurde aber in der Regel nicht allzu ernst genommen resp. war jeweils so offen formuliert, dass fast alles darunter gefasst werden konnte. Der diesjährige Schwerpunkt war mit «Fantastic Games» dagegen relativ eng abgesteckt. Zwar gab es auch dieses Jahr wieder einen sogenannten Open Track, in dem alles irgendwie Phantastische zugelassen war, die grosse Mehrheit der Vorträge drehte sich aber in der Tat um Spiele, wobei hier der Schwerpunkt wiederum auf Rollenspielen lag, vor allem auf dem populären deutschen System Das Schwarze Auge (DSA).

Nun spricht freilich nichts dagegen, für einmal alle DSA-Interessierten zu ihrem Recht kommen zu lassen, mich selbst reizte das Thema aber nicht sonderlich. Ich war auch überrascht, wie wenig fortgeschritten die Forschung in diesem Bereich offenbar ist. Mehrere Vorträge versuchten mehr oder weniger erfolgreich, das typische Pen-and-Paper-Rollenspiel mit literaturwissenschaftlichen Kategorien zu fassen. Dabei scheint mir ziemlich offensichtlich, dass dieser Ansatz relativ schnell an Grenzen stossen muss, denn beim Rollenspiel liegt kein irgendwie greifbarer Text vor. Der zentrale performative Aspekt lässt sich mit klassischen erzähltheoretischen Modellen ohnehin kaum fassen. Natürlich gab es wie immer auch anregende Vorträge, etwa zur Kulturgeschichte des Bühnenzaubers oder zu Games, die von gewohnten Pfaden abweichen und zum Beispiel ihre eigene Bedienungsmechanik zum Thema machen. Referate zur Utopie und selbst zum SF-Film waren insgesamt aber rar, der konkrete Nutzen für meine eigene Forschung somit ziemlich gering.

Vor allem aber waren dieses Jahr deutlich weniger Teilnehmer zu verzeichnen, was zu einem spürbar ausgedünnten Programm führte.  Vor allem der englischsprachige Track war doch ziemlich schmalbrüstig. Das betraf mich ganz direkt, da ich meinen Vortrag – im Wesentlichen identisch mit dem, den ich vor drei Wochen an der SF/F Now zum Besten gegeben hatte – auf Englisch hielt. Der Andrang zum Panel war denn auch ziemlich überschaubar.

Lag es am Thema oder am Austragungsort? Ich vermute, dass am Ende eine Kombination der beiden Faktoren ausschlaggebend war. Bei den Keynotes fehlte es auch ein bisschen an den grossen Namen (ausgenommen natürlich meine Kollegin Barbara Flückiger). Hinzu kam noch eine gute Prise Pech: Zwei als Keynote-Speaker angekündigte Gäste – u.a. Tanya Krzywinska, auf die ich mich gefreut hatte – mussten kurzfristig absagen.

Nichtsdestotrotz war die GFF-Konferenz auch dieses Mal wieder eine schöne Sache. Mein eigentliches fachliches Highlight erlebt ich allerdings erst in Zürich. Kaum war ich zu Hause angekommen – wo im Gegensatz zu Klagenfurt schönes Wetter herrschte –, traf ich mich mit Kim Stanley Robinson. Aber davon mehr in einem späteren Eintrag …

Update: Einen Tagungsband wird es voraussichtlich nicht geben. Da der Inhalt meines Vortrags bereit weitgehend in zwei früheren Publikationen abgedeckt ist, tangiert mich das nicht gross.

Update 2: Aufgrund der grossen Nachfrage wird es nun voraussichtlich doch einen Tagungsband geben. Allerdings ohne Beitrag von mir.

Publikationen

Wie es der Zufall resp. die nicht immer ganz durchschaubaren Regeln des akademischen Publizierens wollen, sind in den vergangenen Wochen zwei Texte von mir erschienen, die zusammen genommen mein Forschungsprojekt ziemlich gut abstecken.

«Auf der Suche nach dem utopischen Film» ist mein Beitrag zu den Proceedings der dritten Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung (GfF), die 2012 in Zürich stattfand. In dem Artikel gehe ich der Frage nach, welche Form die klassische Utopie im Film annehmen könnte. Dass der Spielfilm für positive – eutopische – Entwürfe nicht geeignet ist, ist hinlänglich bekannt (es gibt keinen Konflikt und somit keine Handlung, die Figuren sind stereotyp, es geschieht nichts). Als Alternative plädiere ich in dem Text dafür, nichtfiktionale Filme zu untersuchen – also Dokumentarfilme, Propagandafilme und was es da sonst noch alles gibt. Als konkretes Beispiel für einen Film, der so ziemlich mit dem gesamten Arsenal klassischer utopischer Topoi aufwartet, analysiere ich Peter Josephs Low-Budget-Film Zeitgeist: Addendum, in dem das Venus Project als Ausweg aus unserer aktuellen Misere propagiert wird.

«Authentische Wunschträume. Einige Überlegungen zur Utopie im nichtfiktionalen Film» ist mein Beitrag zu den Proceedings der GfF-Tagung von 2013 in Wetzlar. Der Text ist zwar bereits Ende 2013 erschienen, stellt aber eigentlich die Fortsetzung von «Auf der Suche nach dem utopischen Film» dar. Darin gehe ich vor allem der Frage nach, wie sich utopische Filme aus der Sicht der Dokumentarfilmtheorie fassen lassen. Auf den ersten Blick haben wir es hier mit einem fundamentalen Widerspruch zu tun: Das Wesen des Dokumentarfilms ist es – vermeintlich – ja gerade, die Ereignisse vor der Kamera unverfälscht festzuhalten. Wie verhält sich das mit der Utopie, die ihrerseits von einem Staatswesen erzählt, das es (noch) nicht gibt? Ausführlicheres dazu hier.

Das theoretische Fundaments meines Projekts wäre somit gelegt, nun müssen nur noch die passenden Filme rangeschafft werden …

 

Bibliographische Angaben:

Spiegel, Simon: „Authentische Wunschträume. Einige Überlegungen zur Utopie im nichtfiktionalen Film“. In: Komparatistik Online. Nr. 1, 2013, 188–199.

Spiegel, Simon: „Auf der Suche nach dem utopischen Film“. In: Lötscher, Christiane/Schrackmann, Petra/Tomowiak, Ingrid et al. (Hgg.): Übergänge und Entgrenzungen in der Fantastik. Berlin 2014, 421–435.

«Authentische Wunschträume» kann als PDF runtergeladen werden. Leider verbietet der LIT-Verlag seinen Autoren ausdrücklich, ihre Artikel online zu veröffentlichen, weshalb ich Interessierte an die Buchhandlung oder Universitätsbibliothek ihres Vertrauens verweisen muss.

 

 

SF/F Now

Ende letzter Woche war ich an der Konferenz SF/F Now an der University of Warwick, organisiert von Rhys Williams und Mark Bould. Die zweitägige Veranstaltung konnte mit zahlreichen grossen Namen aus dem Gebiet der SF- und Utopieforschung aufwarten und war für mich eine ideale Gelegenheit, mein Forschungsprojekt erstmals in einem internationalen Rahmen zu präsentieren. Durchaus überraschend war für mich, wie präsent das Thema Utopie an der Tagung war. Oder vielmehr: Wie sehr das Fehlen von Utopien beklagt wurde. Das lag nicht zuletzt an der stark politischen – um nicht zu sagen marxistischen – Ausrichtung der Tagung. Insgesamt herrschte ein starke Tendenz, die diskutierten Filme und Romane eins zu eins auf die aktuelle politische Situation zu übertragen. Und die ist zumindest in den Augen der Tagungsteilnehmer düster. Mark Fisher brachte es in seinem Vortrag auf den Punkt: Wir sind in eine Phase des «Capitalist Realism» eingetreten (so auch der Titel von Fishers Buch. Der Kapitalismus hat alle Bereiche so komplett durchdrungen, dass Alternativen noch nicht einmal mehr denkbar sind. In den Worten Fredric Jamesons: «It’s easier to imagine the end of the world than to imagine the end of capitalism.» Entsprechend gibt es heute auch keine utopischen Entwürfe mehr.

Red Mars von Kim Stanley Robinson.

Red Mars von Kim Stanley Robinson.

Ich bin aus verschiedenen Gründen nicht sicher, ob diese Diagnose wirklich zutrifft. Liegt es wirklich an unseren schlimmen Zeiten – die mir trotz allem nicht so düster scheinen –, dass keine Utopien mehr geschrieben werden, oder liegen hier nicht eher gattungsinterne Gründe vor? Die Form der klassischen Utopie war um 1900 an ihrem Ende angelangt; entsprechend hat die Gattung im folgenden Jahrhundert so viele Wandlungen durchgemacht wie nie zuvor. Zuerst mit der negativen Form der Dystopie, später, in den 1960er- und 1970er-Jahre mit den sogenannten kritischen Utopien, welche die totalitäre Tendenz der klassischen Utopien der Kritik unterzogen.1Für mich stellt sich die Frage, ob nach den kritischen Utopien überhaupt noch eine Weiterentwicklung möglich ist oder ob die Form mittlerweile nicht ausgereizt ist.2

Ausgehend von dieser Frage sucht wir in einem Workshop für Beispiele für zeitgenössische Utopien. Das einzige Beispiel, auf das wir uns dabei einigen konnten, war das Werk von Kim Stanley Robinson. Bislang habe ich leider nur Red Mars, den ersten Teil von Robinsons berühmter Mars-Trilogie gelesen. Ein hochintelligentes Buch über die Besiedlung des Mars, das fortlaufend die Probleme utopischer Projekte thematisiert. Robinson ist zweifellos ein Autor, der die utopische Tradition weiterführt, und dies zudem noch in äusserst reflektierter Form. Da trifft es sich doch ausgezeichnet, dass er in zwei Wochen nach Zürich kommt

  1. Berühmte Beispiele hierfür wären Delanys Triton, Le Guins The Dispossessed oder Piercys Woman on the Edge of Time.[]
  2. Eine Weiterentwicklung, Vladimir Sorokins Der Tag des Opritschniks, habe ich bereits früher erwähnt. Es handelt sich dabei um eine Dystopie, die ganz ohne Gegenposition zur dystopischen Ordnung auskommt.[]

News from Nowhere

Ein Lesezirkel im sf-netzwerk war für mich der Anlass, eine lange bestehende Lücke zu schliessen und endlich William Morris’ News from Nowhere zu lesen. Im Folgenden einige ungeordnete Eindrücke und Überlegungen.

In der Utopieforschung erscheint das 1890 erschienene News from Nowhere oft als eine der letzten „klassischen“ Utopien. Gemeinsam mit Edward Bellamys Looking Backward: 2000-1887 (1888) bildet es Ende des 19. Jahrhundert gewissermassen den Abschluss der Ära positiver Entwürfe; das folgende Jahrhundert wird dann von dystopischen Schreckensstaaten dominiert.

William Morris (1834–1896)

William Morris (1834–1896)

Diese Darstellung ist allerdings sehr verkürzt, denn mit Morris kommt die klassische utopische Tradition keineswegs zu ihrem Ende. Auch im 20. Jahrhundert erschienen zahlreiche klassische – im Sinne von primär positiv – Utopien. H. G. Wells, um einen bekannten Namen zu nennen, hat zahlreiche – fiktionale und nichtfiktionale – Bücher verfasst, die mehr oder weniger explzit in der utopischen Tradition stehen; unter anderem A Modern Utopia (1905), The Work, Wealth, and Happiness of Mankind (1931) und The Shape of Things to Come (1933).1 Daneben gibt zahlreiche Texte, viele aus gutem Grund ausserhalb von Fachkreisen längst vergessen, die dem von Thomas Morus etablierten Modell mehr oder weniger genau folgen.2

Dennoch gehört News from Nowhere zweifellos zu den bekanntesten dieser späten Utopien. Die Handlung ist schnell erzählt: Der namenlose Ich-Erzähler, der weitgehend mit Morris identisch ist und sich später Guest nennt, kommt des Abends nach hitziger Diskussion in der Socialist League nach Hause, legt sich zu Bett und erwacht am nächsten Morgen im Jahr 2102. Morris’ England des 22. Jahrhunderts entspricht allerdings nicht dem, was man gemeinhin unter Zukunft versteht. Es gibt keine technischen Wunderwerke, keine Automatisierung und keine Megastädte. Die Zukunft in News from Nowhere erinnert vielmehr an ein idealisiertes Mittealter, gesäubert von allen Sünden der Industrialisierung.

Morris hat seine «Utopian Romance» bewusst als Gegenentwurf zu Bellamys äusserst erfolgreichem Looking Backward konzipiert. Obwohl beide Autoren ihre Entwürfe als sozialistisch bezeichneten, war Morris von Bellamys Buch – das er auch rezensiert hat – regelrecht abgestossen. Bellamys Vision kann etwas polemisch formuliert als eine Art zentralistischer Konsum-Sozialismus bezeichnet werden. Im weitgehend automatisierten Jahr 2000 werden alle Güter und Dienstleistungen zentral organisiert und produziert und können von jedem mittels eines Kreditkarten-Systems erworben werden. Sinnbildlich für diese Welt steht das riesige Kaufhaus, in das der Ich-Erzähler geführt wird und wo riesiger Überfluss zum Verkauf bereit steht.

Automatisierung und Massenherstellung sind nun aber genau das, was Morris verabscheut. Sein Ideal ist der Handwerker, der mit seinen eigenen Händen und aus eigenem Antrieb und Bedürfnis ein hochwertiges Einzelstück anfertigt. Da diese Art von Arbeit im Verständnis von Morris ohnehin erfüllend ist, besteht auch kein Grund für die maschinelle Herstellung von Gütern. Die Reduktion der Arbeitszeit ist in vielen Utopien ein Thema – nicht so bei Morris. Die Zukunft von News from Nowhere ist zwar nicht gänzlich frei von moderner Technik – so gibt es elektrisch angetriebene Schiffe –, sie ersetzt aber nicht das traditionelle Handwerk.

In Morris’ Rezension von Looking Backward ist folgender Satz zu lesen: «The only safe way of reading a Utopia is to consider it as the expression of the temperament of its author.»3 – Diese Feststellung gilt ebenso für Morrisʼ eigenen Entwurf, der die Vorlieben und Abneigungen seines Verfassers deutlich zu Trage treten lässt. Morris war nämlich nicht nur und aus seiner Sicht wohl auch nicht in erster Linie Schriftsteller, sondern ein unglaublicher vielseitiger und talentierter Mensch, der sich als Designer von Textilien, als Architekt und Kunsthandwerker hervortat. Er entwarf Teppiche, Möbelstücke, Tapeten und Buntglasfenster, baute Häuser, druckte erlesene Bücher und noch Etliches mehr. Was er in seinem Roman propagiert, die Freude am Handwerk, das lebte er vor (zur Morrisʼ Leben siehe die aufschlussreiche Einleitung in der deutschen Neuausgabe des Golkonda-Verlags).

Die Industrialisierung, wie sie sich im Kapitalismus vollzog, war für Morris in zweifacher Hinsicht vom Bösen. Zum einen zwang sie den Arbeiter zu stupider Fliessbandarbeit und entfremdete ihn so von seinem Produkt; zum anderen brachte sie mehr Hässlichkeit in die Welt. Denn in der Logik des Kapitalismus muss ein Gebrauchsgegenstand keineswegs hochwertig sein; vielmehr ist es im Interesse des Systems, wenn Güter möglichst schnell durch neue Güter ersetzt werden. Nur so bleibt der kapitalistische Kreislauf in Bewegung. Entsprechend führt Massenfertigung zu einer Schwemme minderwertiger Produkte.

Ein Tapeten-Design von Morris.

Ein Tapeten-Design von Morris.

Bei der Lektüre von News from Nowhere fiel mir vor allem auf, wie sehr Morris den ästhetischen Aspekt seiner Welt betont. Seien es Kleider, Gebäude, Brücken und – nicht zuletzt – die Frauen; in dieser Zukunft ist alles bunt, verspielt, schön. Das ist ein ziemlicher Kontrast zur morusschen Tradition, bei der Schönheit meist der Nützlichkeit untergeordnet ist. Gebäude, Kleider etc. sind bei Morus und Co. in der Regel simpel und funktional. Zwar keineswegs hässlich, aber zumeist von schlichter Schönheit. Bei Morris ist das anders. Die folgende Passage, in welcher der Ich-Erzähler das Geschirr und die Möblierung eines Esszimmers, in dem er sein Frühstück einnimmt, beschreibt, ist typisch:

The glass, crockery, and plate were very beautiful to my eyes, used to the study of mediaeval art; but a nineteenth century club-haunter would, I daresay, have found them rough and lacking in finish; the crockery being lead-glazed pot-ware. though beautifully ornamented; the only porcelain being here and there a piece of old oriental ware. The glass, again, though elegant and quaint, and very varied in form, was somewhat bubbled and hornier in texture than the commercial articles of the nineteenth century. The furniture and general fittings of the hall were much of a piece with the table-gear, beautiful in form and highly ornamental, but without the commercial ‹finish› of the joiners and cabinet-makers of our time. Withal, there was a total absence of what the nineteenth century calls ‹comfort› – that is, stuffy inconvenience; so that, even apart from the delightful excitement of the day I had never eaten my dinner so pleasantly before.4

Ich kenne keine andere Utopie, die so viel Zeit damit verbringen würde, ein simples Trinkglas zu beschreiben. Interessant auch, dass Morris keineswegs verschweigt, dass Geschirr und Möbel nicht unbedingt den Standards des 19. Jahrhunderts entsprechen. Aus seiner Sicht spricht das freilich nicht gegen diese Welt. Ganz im Gegenteil.

Untypisch ist News from Nowhere auch darin, dass die charakteristischen langen Ausführungen über politisches System, Wirtschaft und Erziehung weitgehend fehlen. Was wir im Wesentlichen erfahren, ist, dass es alle diese Dinge zwar gibt, dass sie aber auf ein Minimum reduziert wurden. Es werden durchaus Dorfversammlungen abgehalten, wie diese vonstatten gehen, wird aber nicht weiter ausgeführt. Die Wirtschaft kommt wie schon bei Morus ohne Geld aus, ist aber nicht zentralisiert. Man hilft sich gegenseitig aus und jeder tut, wonach ihm der Sinn steht. Und da in Morrisʼ Zukunft körperliche Arbeit als etwas Lustvolles verstanden wird, bedeutet das unter anderem, dass sich junge Menschen mit Begeisterung zur Heuernte melden. Wenn aber jemand lieber Wochen mit dem Anfertigen eines Freskos verbringt, ist das auch in Ordnung. Irgendwie reguliert sich dieses System auf magische Weise selbst.

Eine in irgendeiner Form institutionalisierte Erziehung scheint es nicht zu geben; Kinder verbringen die meiste Zeit im Freien und werden ermuntert das zu tun, was sie interessiert. Auch hier wird das Handfeste, das Praktische betont. Klassische Bildung gilt in dieser Welt wenig, das Lesen von Büchern ist eher etwas für Exoten und über historisches Wissen verfügen die wenigsten. Das ist bemerkenswert, da sich Morris nicht nur für mittelalterliche Handwerkskunst interessierte, sondern auch als Übersetzer antiker Texte sowie isländischer Saagen und mittelalterlicher Epen tätig war.5 Diese Geschichtsvergessenheit ist wahrscheinlich damit zu erklären, dass diese Welt einen Idealzustand erreicht hat und zur Ruhe gekommen ist; eine «Epoch of Rest», wie es im Unertitel heisst. In dieser fortschrittsverneinenden Statik stellt sich Morris sehr deutlich gegen den herrschenden Zeitgeist.

Völlig perfekt ist aber auch die Welt von News of Nowhere nicht. Während des Aufenthalts von Guest geschieht unter anderem ein Mord. Natürlich ist es ein Verbrechen aus Leidenschaft und nicht aus Habgier, denn Letztere ist ausgestorben. Es gibt somit weiterhin Gewaltverbrechen. Diese sind aber so selten, dass Guests Begleiter gar nicht recht wissen, wie sie mit dem Mörder – welcher sich für seine Tat masslos schämt – verfahren sollen. Interessant auch eine Passage, in welcher der Ich-Erzähler auf einen alten Miesepeter trifft, dem seine Gegenwart keineswegs behagt. Sie ist ihm zu friedlich:

«[…] You see, I have read not a few books of the past days, and certainly they are much more alive than those which are written now; and good sound unlimited competition was the condition under which they were written, – if we didn’t know that from the record book of history, we should know it from the books themselves. There is a spirit of adventure in them and signs of a capacity to extract good out of evil which our literature quite lacks now; and I cannot help thinking that our moralists and historians exaggerate hugely the unhappiness of the past days, in which such splendid works of imagination and intellect were produced.»6

Macht Morris hier darauf aufmerksam, dass es für das von ihm erträumte Arkadien einen Preis zu zahlen gibt? Oder will er vielmehr zeigen, dass die Bewohner dieser Zukunft nicht mehr in der Lage sind sich vorzustellen, wie schrecklich die Vergangenheit wirklich war? Für mich ist keineswegs eindeutig, wie diese Passage genau zu verstehen ist.

Obwohl auch News from Nowhere unter der typischen utopischen Handlungsarmut leidet und ich mich stellenweise regelrecht durchbeissen musste, war es dennoch eine interessante Lektüre. Morris geht es weniger darum, eine plausible Zukunft zu erfinden. Er tut vielmehr etwas, was in der utopischen Literatur erschreckend selten geschieht: Er entwirft eine lustvolle Welt voller Schönheit und Freude, eine Welt, in der man tatsächlich auch leben möchte.

  1. Obwohl Wells sich selbst nicht als Utopisten sah, kann ein grosser Teil seines Schaffens nach der Jahrhundertwende als Teil eines utopischen Projektes gesehen. Wells propagierte eine «open conspiracy» (so auch der Titel eines 1928 erschienen Buches), die zur Errichtung eines sozialistischen Weltstaates führen sollte.[]
  2. Um hier relativ wahllos einige Titel zu nennen: Aleksandr Bogdanov: Der rote Stern: Ein utopischer Roman (1908); Charlotte Perkins Gilman: Herland (1915); Walter Müller: Wenn wir 1918 …: Eine realpolitische Utopie (1930).[]
  3. William Morris: «‹Looking Backward›A Review of Looking Backward by Edward Bellamy. In: Ders.: News from Nowhere and Other Writings. Hg. von Clive Wilmer. London 1998, 354.[]
  4. William Morris: «News from Nowhere». In: Ders.: News from Nowhere and Other Writings. Hg. von Clive Wilmer. London 1998, 131.[]
  5. Morris hat zudem mehrere in mittelalterlichen Fantasiewelten angesiedelte «prose romances» verfasst und gilt gemeinhin als einer der Vorväter der modernen Fantasy-Literatur.[]
  6. William Morris: «News from Nowhere». In: Ders.: News from Nowhere and Other Writings. Hg. von Clive Wilmer. London 1998, 174.[]

Authentische Wunschträume

In der Zeitschrift Komparatistik Online ist dieser Tage ein Teil der Proceedings der letzten Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung erschienen — unter anderem darin enthalten ist ein Artikel von mir zur Utopie im nicht-fiktionalen Film.

Das Timing ist nicht ganz optimal, da ich mich in dem Artikel u.a. auf einen Text beziehe, den ich für die Proceedings der 2012er Jahrestagung geschrieben habe, welche voraussichtlich erst im Herbst erscheinen werden.1 Ich denke aber, dass der Artikel auch so verständlich sein sollte. Kurz zum Inhalt: Grundthese meines Forschungsprojekts ist, dass es im nicht-fiktionalen Film (vulgo: Dokumentarfilm) zahlreiche Beispiele für utopische Entwürfe gibt, die dem von Thomas Morus in Utopia etablierten Modell weitgehend entsprechen. Ein Beispiel hierfür, das ich im besagten noch nicht veröffentlichten Artikel analysiere, ist Zeitgeist: Addendum von Peter Joseph, ein Low-Budget-Film (auf YouTube frei erhältlich), der neben viel verschwörungstheoretischem Geraune mit dem Venus Project auch einen Gegenentwurf präsentiert.2 Das Venus Project wiederum ist zwar durchaus ernst gemeint, präsentiert sich aber als einzige Ansammlung utopischer Topoi. Sei es Geldlosigkeit, zentrale Verteilung der Güter, Erziehung zum besseren Menschen, Abschaffung des politischen Prozesses – das Venus Project bietet die volle Packung.3

Während ich in dem nun später erscheinenden ersten Artikel ganz grundlegend dafür plädiere, den Dokumentarfilme für die Utopieforschung zu erschliessen, konzentriere ich mich in dem in Komparatistik Online erschienenen Aufsatz auf die Frage, wie sich ein Film wie Zeitgeist: Addendum aus Sicht der Dokumentarfilm-Theorie präsentiert. Denn auf den ersten Blick erscheint ein solcher utopischer Film als Paradoxon: Ausgerechnet im Dokumentarfilm, der die Wirklichkeit abbildet, soll es utopische Entwürfe geben, zu deren wesentlichen Eigenschaften es gehört, dass sie (noch) nicht existieren. Bei genauerer Betrachtung ist die Sache freilich gar nicht so widersprüchlich. Dass Dokumentarfilme die Wirklichkeit keineswegs einfach abbilden, dass das Verhältnis zwischen Realität und Film einiges komplexer ist, dürfte jedem klar sein, der sich ein bisschen in diesem Bereich auskennt. Das macht die Sache aber nicht einfacher, und die Filmtheorie müht sich schon seit geraumer Zeit mit der Frage ab, wie das Verhältnis zwischen Dokumentarfilm und Wirklichkeit am besten zu fassen ist. Persönlich scheint mir der semiopragmatische Ansatz von Roger Odin hier am sinnvollsten. Sehr vereinfacht gesagt geht dieser davon aus, dass ein Film vom Rezipienten immer auf verschiedene Arten gelesen werden kann, und dass die unterschiedlichen Lektüre-Modi sowohl durch formale Merkmale im Film – z.B. Kameraführung, Einsatz von Off-Kommentar, Montage – wie auch durch den Kontext, in dem der Film rezipiert wird, nahegelegt werden. Wenn ein Film z.B. als Dokumentarfilm beworben wird, liegt es nahe, dass ich als Zuschauer den dokumentarisierenden Modus wähle. Es stet mir aber immer frei, entgegen der Vorgaben, die ein Film resp. der Kontext macht, einen anderen Lektüremodus zu wählen.

Entwurf von Jacque Fresco.

vlcsnap-2014-05-19-22h31m29s68vlcsnap-2014-05-19-22h31m23s11Die Zukunft, wie man sie sich beim Venus Project vorstellt.

Der dokumentarisierende Modus unterscheidet sich vom  fiktionalisierenden unter anderem dadurch, dass ich als Zuschauer immer davon ausgehe, dass der Filmemacher Aussagen zur Wirklichkeit macht. Das heisst nun nicht, dass die Bilder und Töne im Film tatsächlich reale Ereignisse wiedergeben müssen, aber dass ich seinen Inhalt in Bezug zur Realität setze, dass der Film als Ganzer dem Wahrheitsgebot unterliegt. Zugespitzt formuliert: Ein Dokumentarfilm kann lügen, ein Spielfilm nicht. Der Filmtheoriker Carl Plantinga, der diesbezüglich ähnlich argumentiert wie Odin, spricht von einer assertorischen Haltung.

Was geschieht nun, wenn ein Dokumentarfilm Dinge zeigt, die es offensichtlich nicht gibt, wenn zum Beispiel in Zeitgeist: Addendum die computeranimierten Entwürfe von Venus-Project-Guru Jacque Fresco zu sehen sind?4 Verliert der Film dann seinen dokumentarischen Status? Ich bin der Ansicht, dass das nicht der Fall ist, denn an der grundsätzlichen Haltung des Films ändert sich nichts. Folgendes Zitat aus dem Artikel bringt den Sachverhalt – hoffentlich – auf den Punkt:

Die in Josephs Film gezeigten futuristischen Bauten und Gefährte sind zweifellos (noch) nicht real, im Kontext des Films verändern sie aber ihren Status und erscheinen nicht als völlig fiktive Elemente. Vielmehr ist die Argumentation des Films gerade darauf ausgerichtet, das Gezeigte als plausibel und wünschenswert erscheinen zu lassen. Mittels dieser Strategie verliert das Fiktive seine ursprüngliche Nicht-Wirklichkeit und erhält einen quasi-assertorischen Status. Diesen Vorgang, das Quasi-real-Erscheinen-lassen fiktiver Elemente, bezeichne ich als Faktualisierung (195 f.)

Faktualisierung führt also dazu, dass fiktive Elemente in einem Dokumentarfilm ihren nicht-realen Status zumindest teilweise verlieren. Das heisst nun keineswegs, dass Frescos Entwürfe damit automatisch plausibel werden. Aber auch ein Skeptiker, der das Venus Project für Unsinn hält, wird wohl zugestehen, dass dessen futuristische Städte einen anderen Status haben als die Metropolen eines Science-Fiction-Films. Ein Film wie Blade Runner erhebt keinen Anspruch darauf, eine ernsthafte Prognose zur Stadtentwicklung in den USA abzugeben. Fresco versteht seine Entwürfe dagegen ausdrücklich als ernsthafte Vorschläge, über welche man diskutieren und die man schliesslich auch umsetzen soll.

Mit dem Begriff der Faktualisierung, der übrigens von meiner Projektpartnerin Andrea Reiter stammt, scheint mir ein für mein Projekt ganz wesentliches Element benannt. Momentan haben wir dieses Konzept noch nicht detailliert ausgearbeitet, sondern nur grob skizziert. Auch mein Artikel ist nur als erster Entwurf zu verstehen, der das Phänomen des utopischen Dokumentarfilms aus filmtheoretischer Sicht umreisst. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich der Ansatz als fruchtbar erweisen wird. Der Vorgang der Faktualisierung scheint mir dabei für viele Spielarten des Dokumentarfilms relevant, im Falle der von mir untersuchten utopischen Filme bildet er aber das zentrale Scharnier zwischen Fiktion und Faktualität.

  1. Hier die vorläufigen bibliografischen Angaben: «Auf der Suche nach dem utopischen Film». In: Christiane Lötscher, Petra Schrackmann, Ingrid Tomkowiak, Aleta-Amirée von Holzen (Hg.): Übergänge und Entgrenzungen in der Fantastik, Berlin: Lit 2014 [im Druck].[]
  2. Ursprünglich aufmerksam auf das Venus Project resp. Josephs Filme wurde ich durch einen Thread auf sf-netzwerk.de. Die Diskussion, in die sich zwischendurch auch ein Vertreter des Venus Project einschaltet, driftet zwar immer wieder ab, zeigt aber sehr schön die Probleme dieses Projekts.[]
  3. Aus Josephs Zeitgeist-Filmen ist das Zeitgeist Movement hervorgegangen, das sich ursprünglich als aktivistischer Arm des Venus Project verstanden hat. Wie es derartigen bei sektenähnlichen Vereinigungen aber oft vorkommt, haben sich die beiden Bewegungen mittlerweile überworfen und gehen seither getrennte Wege.[]
  4. Fresco, Jahrgang 1916, also genau 400 Jahre jünger als Morus’ Utopia, ist gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin Roxanne Meadows die treibende Kraft hinter dem Venus Project. Benannt ist dieses nach seinem Namen in Venus, Kalifornine.[]

«Snowpiercer»

Auf diesem Blog werde ich unter anderem regelmässig über aktuelle Kinofilme schreiben (zumindest ist das so geplant). Da es hier aber um Analysen und mehr oder weniger wilde Gedanken zu den jeweiligen Filmen und nicht um Kritiken im engeren Sinn gehen soll – dafür gibt es meine andere Website –, gilt ein genereller Spoilervorbehalt. Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie1 leidet, sollte die entsprechenden Einträge somit besser meiden.

Snowpiercer

Snowpiercer des Südkoreaners Bong Joon-ho ist ein gelungener Science-Fiction-Film (siehe meine Rezension ), der auch in Sachen Utopie/Dystopie von Interesse ist. Kurz zur Geschichte: Der Versuch, die Klimaerwärmung mittels Freisetzung eines Wirkstoffs in die Atmosphäre rückgängig zu machen, hat ein bisschen zu gut funktioniert. In der Folge ist die Erde zu einem unbewohnbaren Eisklotz geworden, die letzten Überlebenden sind in einem Zug versammelt, der in endloser Kreisfahrt die Erde umrundet. Für seine Bewohner ist der Zug die Welt, der Versuch, diese zu verlassen, endet tödlich.

Der Zug ist ein geschlossenes Ökosystem: Es gibt Wagen, in denen Pflanzen angebaut werden, ein Aquarium, in einem Wagen wird Wasser rezykliert etc. Die Anordnung des Zugs bringt auch eine soziale Hierarchie zum Ausdruck: Die Oberschicht, die «ticket-holders», führt in den vorderen Wagen ein Leben in Luxus mit Sushi-Bar, Schönheitssalons und Party-Location, während die Unterschicht im letzten Wagen zusammengepfercht ist und sich von Proteinriegeln (Soylent Green lässt grüssen) ernähren muss. Natürlich wollen sich die Bewohner des hintersten Wagens nicht mit ihrer Situation abfinden – es kommt zur unvermeidbaren Revolte.

Snowpiercer ist eine typische Dystopie: Es wird ein Schreckensregime in all seinen schaurigen Details gezeigt und die Geschichte eines Aufstands erzählt. Im Gegensatz zur Utopie, in der es keine Unzufriedenen gibt, hat die Dystopie durch ihre rebellierende Hauptfigur immer schon einen handlungstreibenden Konflikt.2 Dass Utopie und Dystopie dennoch nahe beieinander liegen, wurde schon vielfach festgestellt. Im Grunde reicht ein Unzufriedener, dem das jeweilige System nicht passt, um aus einer klassischen Utopie eine Dystopie zu machen. Es ist denn auch kein Zufall, dass die meisten klassischen Utopie der Frage ausweichen, was mit all jenen geschah, die ursprünglich gegen die Etablierung der utopischen Ordnung waren …

Auch in Snowpiercer ist die Nähe der beiden Formen präsent, denn für die meisten Reisenden stellt der Zug durchaus eine Utopie dar. Nicht nur ist er – zwangsläufig – von der Aussenwelt abgeschlossen und autark, für die «ticket-holders» gestaltet sich das Leben in dieser Welt zudem sehr angenehm. Ohnehin gibt es keine echte Alternative zum rettenden Zug. Aus Sicht der «ticket-holders» bringen die Rebellen die einzig vernünftige – da alternativlose – Ordnung durcheinander; ein Zerstören des Zugantriebs wäre für alle Insassen gleichermassen fatal.

Für die Aufrechterhaltung der utopischen Ordnung ist Erziehung zentral. Die Utopie ist auf utopische Bürger angewiesen, die einsehen, dass keine vernünftige Alternative zum jeweiligen System existiert. Und tatsächlich gibt es im Snowpiercer-Zug einen Schulwagen, in dem auch die witzigste Szene des Films spielt. Hier werden die Kinder der «ticket-holders» von klein auf gedrillt, um in dieser Welt richtig zu funktionieren. Wie wichtig der Zug ist, lernen die Kleinen dabei in eingängigen Kinderliedern:

Rumble rumble, rattle rattle …
It will never die!
What happens if the engine stops?
We will all freeze and die.

Wilford, der sagenhafte Erbauer und Lenker des Zugs, erscheint je nach Perspektive als weise Vaterfigur, der das Überleben der Menschheit sicherstellt, oder aber als tyrannischer Big Brother. Dabei lässt der Film die Frage lange offen, ob Wilford überhaupt noch lebt oder bloss eine Propaganda-Figur ist (ähnlich wie Orwells Big Brother, bei dem letztlich irrelevant ist, ob er je existiert hat). Wie sich am Ende aber herausstellt, lebt Wilford noch und ist zudem äusserst rührig. Die Rebellion kam für ihn keineswegs unerwartet, sondern wurde vielmehr von ihm eingefädelt. Er versorgt die Rebellen immer wieder mit Informationen, die ihnen das Vorwärtskommen im Zug überhaupt erst ermöglichen. Der Aufstand dient dabei einerseits dazu, die Population des Zugs zu dezimieren, andererseits will Wilford auf diese Weise seinen Nachfolger küren. Ausgerechnet Curtis, der zögerliche Anführer der Revolution, soll den Platz des alternden Wilford einnehmen.

Curtis durchläuft auf seinem Weg zur Zugspitze eine regelrechte utopische (Um-)Erziehung. Als sie sich schliesslich gegenüberstehen, hat er den Argumenten Wilfords wenig entgegen zu setzen; eine echte Alternative zum etablierten Zugsystem kann er nicht bieten. Freilich ist der Film dann doch nicht so bitterböse, dass er der wilfordschen Logik bis zum bitteren Ende folgen würde. Als Curtis entdeckt, was mit den beiden Jungen geschehen ist, die zu Beginn des Films entführt wurden — sie dienen als menschliche Ersatzteile für die alternde Zugmechanik —, siegt die menschliche Anteilnahme über die kalte utopische Rationalität. Die obligate grosse Schlussexplosion macht dem verhassten Zug dann endgültig den Garaus.

Beides — der Sieg der Menschlichkeit sowie der finale Kracher — sind Konventionen des Mainstreamkinos. Aus der Logik der Filmwelt heraus betrachtet erscheinen sie allerdings alles andere als zwingend. Ist es wirklich klug, den Zug zu zerstören und so das Überleben der Menschheit aufs Spiel zu setzen? Snowpiercer kann sich hier nur mit einem Deus ex machina behelfen: Obwohl zu Beginn wenige Minuten Aussentemperatur reichen, um einer Figur den Arm abzufrieren, hat sich die Erde am Ende so weit erwärmt, dass Leben im Freien wieder möglich ist.

Dass die utopisch-dystopische Dialektik trotz entsprechender Ansätze nicht voll zum Tragen kommt, liegt allerdings an einer anderen, gravierenderen Schwäche, auf die auch Abigail Nussbaum in ihrer lesenswerten Rezension (die meine eigene massgeblich inspiriert hat) hinweist: Für das Funktionieren des Ökosystems Zug ist der letzte Wagen vollkommen überflüssig. Wieder und wieder betonen die Vertreter der Obrigkeit zwar, dass das System Zug nur funktioniert, wenn jeder seinen vorgeschriebenen Platz einnimmt;3  andernfalls droht das labile Gleichgewicht zu kippen. Tatsächlich kann von einem Gleichgewicht aber nicht die Rede sein, denn der letzte Wagen erfüllt im Ökosystem Zug keinen sichtbaren Zweck. Die Unterschicht produziert nichts, trägt nichts zum Funktionieren des Zugs bei, ist im Grunde überflüssig.

Dabei wären Varianten, in denen der hinterste Wagen wirklich ein integraler Teil des Zugsystems ist, durchaus vorstellbar. Man denke etwa an H. G. Wells’ Klassiker The Time Machine (1895): In ferner Zukunft hat sich die Menschheit in zwei unterschiedliche Spezies ausdifferenziert, die in einer blutigen Symbiose leben. Über der Erde führen die kindlich unschuldigen, aber auch völlig degenerierten Elois ein sorgenfreies Leben. Die schrecklichen Morlocks im Untergrund dagegen halten die Maschinerie dieser Welt am Laufen. Grausame Pointe des Ganzen: Die Morlocks ernähren sich von den Elois. Der Preis, den die Elois für ihr Arkadien bezahlen, ist die ständige Gefahr, eines Tages verspeist zu werden. Aus der Perspektive der Morlocks erscheint das Arrangement dagegen bloss als eine Form von Viehzucht.

Eine analoge Konstellation in Snowpiercer hätte das utopisch/dystopische Dilemma noch verschärft. Mit den beiden Kindern, die einspringen müssen, als die Technik versagt, greift der Film eine ähnliche Idee auf – der letzte Wagen als menschliches Ersatzteillager. Auch das Thema Kannibalismus ist im Film präsent: Wie wir gegen Ende erfahren, assen sich die Bewohner des letzten Wagens gegenseitig auf, bevor sie mit Protein-Riegeln versorgt wurden. Die entsprechenden Ansätzen wären also vorhanden, sie werden aber nicht konsequent durchgespielt. Wirklich erstaunlich ist das nicht, denn wenn Vorder- und Hinterteil des Zugs im gleichen Masse voneinander abhängig wären wie Elois und Morlocks, wäre ein Aufstand von Anfang an sinnlos. Dann könnte dieser bestenfalls dazu führen, die Verhältnisse umzudrehen und die einstigen Herrscher ans Zugsende zu verbannen. Eine so pessimistische Vision ist von einer Hollywood-Produktion aber kaum zu erwarten.

Der Schuh des Anstosses

Ein Detail, das mir besonders aufgefallen ist, möchte ich hier noch erwähnen, obwohl es sich wahrscheinlich um einen reinen Zufall handelt. Relativ früh im Film wird Mason, die Satthalterin Wilfords (Tilda Swinton mit einer karikaturistischen Glanzleistung), vom Vater des einen entführten Jungen mit einem Schuh beworfen. Zur Strafe verliert er den Arm. Bevor das Urteil vollstreckt wird, muss er sich vor dem versammelten Wagen mit dem besagten Schuh auf dem Kopf anhören, dass er die natürliche Ordnung durcheinander gebracht hat (ich habe nur einen Screenshot gefunden, der die Umdrehung der Situation zeigt: Nachdem die Rebellen Mason gefangen genommen haben, muss nun sie mit dem Schuh auf dem Kopf posieren). Ein Schuh ist unten, der Kopf ist oben – «so it is». Wer diese Ordnung stört und den Schuh auf den Kopf stellt, muss bestraft werden.

snowpiercer

Der Schuh des Rebellen

In dieser Szene finden zwei ganz unterschiedliche Motive zusammen. Einerseits spielt sie natürlich auf den irakischen Journalisten Muntazer al-Zaidi an, der US-Präsident George W. Bush im Dezember 2008 mit Schuhen bewarf. Das Schuhwerfen ist seither zu einem ikonischen Bild des Protests geworden. Das Bild des Schuhs auf dem Kopf wiederum findet sich in Tommaso Campanellas Civitas solis, dt. Der Sonnenstaat (verfasst 1602, veröffentlicht 1623). Campanellas utopischer Entwurf ist einer der frühesten Texte, die direkt auf Morus’ Utopia reagieren, eine wilde Mischung aus Theokratie, Kommunismus sowie protofaschistischenen Elementen und ein typisches Beispiel für eine Utopie, in der kein vernünftiger Mensch leben will. Für unsere Zwecke ist die Passage interessant, in der beschrieben wird, was mit Männern geschieht, die sich der Sodomie, sprich: der Homosexualität, hingeben:

Wer bei Sodomie ertappt wird, wird gerügt und muss zur Strafe zwei Tage lang die Schuhe um den Hals gebunden tragen Zum Zeichen, dass er die Ordnung verkehrt und den Fuss auf den Kopf gestellt hat.4

Wie gesagt: Wahrscheinlich reiner Zufall; ich glaube nicht, dass Bong und sein Team Campanella kannten und bewusst Bezug auf diesen nehmen. Ich finde es aber interessant, wie hier zwei ganz unterschiedliche Motive miteinander verschmelzen und wie der Schuh auf dem Kopf resp. um den Hals in beiden Fällen als Symbol einer frevlerisch verkehrten Ordnung fungiert.

  1. Definition gemäss Urban Dictionary: (n.) fear of coming across a spoiler. can be preceded with specific kind of spoilerphobia.[]
  2. In der klassischen Dystopie – wenn man diesen Ausdruck verwenden will – gibt es eigentlich immer irgendeine Form von Rebellion gegen die herrschende Ordnung. Oft erkennt dabei ein ursprünglich perfekt angepasstes Mitglied der Gesellschaft die Schlechtigkeit des Systems. Diese Einsicht geht oft Hand in Hand mit einer Liebesgeschichte. Mittlerweile wurde aber auch dieses Muster wiederum variiert. Vladimir Sorokins Der Tag des Opritschniks wäre ein Beispiel für eine Dystopie, die ganz ohne Rebellion auskommt. Der Protagonist ist hier ein Scherge der menschenverachtenden Diktatur. Diese Figur würde in einer «normalen» Dystopie früher oder später an ihrem Tun zweifeln. Sorokins Held dagegen bleibt bis zum Schluss ein treuer Diener seiner Herren.[]
  3. Auch das ein utopischer Topos. Bereits Platons Politeia, einer der utopischen Urtexte, der für Morus einen massgeblichen Einfluss darstellte, entwirft ein rigides Klassensystem.[]
  4. Tommaso Campanella: Sonnenstaat. In: Klaus J. Heinisch (Hg.): Der utopische Staat. 26. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, 111–172, hier: 131. Im Wiederholungsfall erwartet den Sodomiten übrigens die Todesstrafe.[]

Noch einmal «Starship Troopers»

In der FAZ ist ein Artikel zur Embattled-Heavens-Tagung erschienen (online erhältlich). Der Autor Ulf von Rauchhaupt geht darin in einem Absatz auch auf meinen Vortrag ein und schreibt:

Für Simon Spiegel (Zürich) erfüllt der Roman [Starship Troopers] alle Kriterien einer klassischen Utopie, allerdings einer, in der die Utopier das Universum «sehen, wie es ist, und nicht wie wir wollen, dass es ist». Damit könne das Buch als antiutopische Utopie gelesen werden.

So formuliert ist das ein wenig irreführend, denn das Besondere an Heinleins Roman ist nicht die Behauptung, das beschriebene Gesellschaftssystem entspreche dem wahren Wesen des Universums (resp. des Menschen). Diese Argumentation ist mehr oder weniger typisch für utopische Entwürfe. Die meisten Utopien argumentieren – oder vielmehr: behaupten –, dass der von ihnen propagierte Entwurf nicht irgendeiner Laune folgt, sondern eben der menschlichen Natur entspräche.

Ungewöhnlich an der Utopie von Starship Troopers ist einerseits ihr Pragmatismus; immer wieder wird betont, dass das Gesellschaftssystem des Romans keineswegs perfekt sei – aber es ist gut genug. It works. Noch wichtiger ist aber, dass sich der Roman explizit gegen die Vorstellung richtet, Menschen seien zu rationaler Einsicht fähig. Für Morus und dessen Nachfolger ist Erziehung ein zentrales Element des Gesellschaftsentwurfs: Die Utopie braucht vernünftige utopische Bürger, die kraft ihrer Rationalität erkennen, dass das herrschende Gesellschaftssystem das bestmögliche ist. Bei Starship Troopers dagegen gleicht Erziehung eher dem Abrichten eines Tiers (entsprechende Vergleiche fallen mehrmals). Der Mensch wird explizit als «wild animal» bezeichnet, dem korrektes Verhalten eingeprügelt werden muss. Und genau hier zeigt sich der anti-utopische und – in Bezug auf Morus – auch anti-humanistische Charakter des Romans. Das Ziel seiner Kritik sind all die «do gooders and well-meaning old Aunt Nellies», die meinen, Menschen seien zur Einsicht fähig. Am schlimmsten sind hier die verblendeten Naivlinge, die meinen, man könne jugendlichen Straftätern anders begegnen als mit Prügeln, jene «pre-scientific pseudo-professional class who called themselves ‹social workers› or sometimes ‹child psychologists›».

Das zentrale Prinzip von Heinleins utopischem Entwurf ist Gewalt. Am Ende setzt sich der Gewalttätigere durch, und wer sich durchsetzt, der hat auch Recht. Es gilt das Survival of the fittest. Diese Argumentation ist insofern wieder klassisch, als sie auf einer (pseudo-)wissenschaftlichen Begründung beruht: So funktioniert die Natur eben, und ein erfolgreiches Gesellschaftssystem muss dem Rechnung tragen.

Die sozialdarwinistische Fundierung der utopischen Gesellschaft ist keineswegs eine Erfindung Heinleins. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind eugenische Ideen – auch und gerade auf der linken Seite des politischen Spektrums – weit verbreitet.1 Bei H. G. Wells etwa sind eugenische Konzepte von zentraler Bedeutung.2 Wells kann man immerhin zugute halten, dass er seine Ideen formulierte, bevor die Nazis Ernst machten mit der Ausmerzung angeblich unwerten Lebens. Heinlein dagegen schrieb seinen Roman zu einem Zeitpunkt, als für jeden hätte offensichtlich sein müssen, wo eugenisches Denken in letzter Konsequenz hinführt.

 

  1. Die moderne Eugenik entsteht erst Ende des 19. Jahrhunderts. Züchtungsideen finden sich aber bereits in Platons Politeia und tauchen in der Geschichte der Utopie immer wieder auf. In Campanellas Civitas Solis ist die Obrigkeit beispielsweise darum bemüht, besonders beleibte Frauen mit dünnen Männern zu paaren, um so eine möglichst ausgeglichene Nachkommenschaft zu garantieren.[]
  2. Eine Spezialität Heinleins scheint mir die Gleichsetzung von natürlicher Auslese und Gewalt zu sein. Heinlein interpretiert das Survival of the fittest als Survival of the most violent . Hierin zeigt sich ein völliges Missverständnis der darwinschen Evolutionslehre. Die fiteste Spezies ist bei Darwin jene, die am besten an das jeweilige Biotop angepasst ist. Mit Gewalt hat gar nichts zu tun. Dinosaurier sind nicht ausgestorben, weil sie weniger gewalttätig waren als Säugetiere. Ohnehin ist Gewalt ein Konzept, das nur bei bewusst handelnden Akteuren sinnvoll ist. Ein Tier kann ebenso wenig gewalttätig sein wie ein Kleinkind.[]