Tomorrowland

Wie immer gilt ein ge­ne­rel­ler Spoi­ler­vor­be­halt.1

In Wil­li­am Gib­sons mitt­ler­wei­le klas­si­scher Kurz­ge­schich­te The Gerns­back Con­ti­nu­um2 er­hält ein Fo­to­graf den Auf­trag, die Über­bleib­sel fu­tu­ris­ti­scher US-Ar­chi­tek­tur der 1930er- und 1940er-Jah­re zu fo­to­gra­fie­ren, einen Stil, den Gib­son als Ray­gun Go­t­hic be­zeich­net – Art-Déco- und Stream­li­ne-Mo­der­ne-Bau­ten mit Kur­ven, Chrom­stahl und knal­li­gen Far­ben. Ge­bäu­de, die di­rekt aus den zeit­gleich er­schie­nen SF-Ma­ga­zi­nen oder Fil­men wie Me­tro­po­lis und Things to Come zu stam­men schei­nen und da­mals von einer nicht allzu fer­nen Zu­kunft kün­de­ten, die aber nie ein­tref­fen soll­te; «a kind of al­ter­na­te Ame­ri­ca, 1980 that never was».

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Die Zu­kunft, die nie war. Ein Bei­spiel für Gib­sons Ray­gun Go­t­hic.

Der Ich-Er­zäh­ler lässt sich so sehr auf sei­nen Auf­trag ein, dass er zu hal­lu­zi­nie­ren be­ginnt. Er sieht auf ein­mal «se­mio­tic ghosts»; gegen sei­nen Wil­len spinnt er diese ver­gan­ge­nen Vi­sio­nen der Zu­kunft wei­ter und ima­gi­niert schliess­lich eine ganze High­tech-Me­tro­po­le, kom­plett mit ihren Be­woh­nern. «They were white, blond, and they pro­bab­ly had blue eyes. […] their bright eyes shi­ning with en­thu­si­asm for their flood­lit ave­nues and sil­ver cars. It had all the si­nis­ter fruiti­ness of Hit­ler Youth pro­pa­gan­da.»

Gib­sons Er­zäh­lung ist eine beis­sen­de Po­le­mik gegen die frühe Pulp-SF, deren nai­vem Tech­ni­ko­pti­mis­mus eine qua­si-fa­schis­ti­sche Ideo­lo­gie un­ter­stellt wird. Ent­spre­chend ist der Prot­ago­nist am Ende froh, in der mehr oder we­ni­ger dys­to­pi­schen Ge­gen­wart und nicht der einst ima­gi­nier­ten blitz­blan­ken – schein­bar per­fek­ten – Zu­kunft zu leben.

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Noch mehr ver­gan­ge­ner Fu­tu­ris­mus.

Man kann sich dar­über strei­ten, in­wie­weit Gib­sons Dia­gno­se fair ist, ob Hugo Gerns­back und Co. tat­säch­lich ver­hin­der­te Weg­be­rei­ter einer Welt pro­pe­rer Na­zi-Jüng­lin­ge waren. Auf jeden Fall ist es fas­zi­nie­rend zu sehen, wie skep­tisch der wohl wich­tigs­te SF-Au­tor der 1980er-Jah­re sei­nem ei­ge­nen Genre ge­gen­über­stand. The Gerns­back Con­ti­nu­um ist eine gros­se Ab­sa­ge an die eins­ti­gen Ver­heis­sun­gen der SF.

In mei­nem letz­ten Blog­ein­trag ging ich auf die der­zeit oft ge­hör­te Klage ein, dass es uns heute an po­si­ti­ven Zu­kunfts­ent­wür­fen mang­le. To­mor­row­land von Brad Bird,3 des­sen bis­he­ri­ge Filme mich alle mehr oder we­ni­ger stark be­geis­tert haben,4 er­scheint wie eine di­rek­te Ant­wort auf die Frage, ob wir uns der­zeit nur noch Dys­to­pi­en vor­stel­len kön­nen. Wie Gib­son fragt auch Bird da­nach, was aus dem En­thu­si­as­mus von einst ge­wor­den ist, al­ler­dings kommt er zu einem völ­lig an­de­ren Schluss. To­mor­row­land ist quasi die op­ti­mis­ti­sche Ge­gen­po­si­ti­on zu The Gerns­back Con­ti­nu­um.

Der Film er­zählt von einer Welt – das ti­tel­ge­ben­de To­mor­row­land, von dem nie ganz klar wird, ob es in der Zu­kunft, im All oder in einer Par­al­lel­welt liegt –, in der die krea­ti­ven Ge­nies die­ser Welt un­ge­hin­dert ihre Träu­me rea­li­sie­ren dür­fen. Doch wie es bei Mär­chen­län­dern üb­lich ist, ist auch diese Welt ver­wun­schen und nur Aus­er­wähl­ten zu­gäng­lich. Diese Rolle kommt der jun­gen Casey (Britt Ro­bert­son) zu, einem auf­ge­weck­ten Teen­ager, der nicht be­grei­fen will, warum alle Welt die Zu­kunft aus­schliess­lich in düs­te­ren Far­ben sieht. Casey will sich nicht durch fik­tio­na­le und reale Dys­to­pi­en de­pri­mie­ren las­sen, sie in­ter­es­siert viel­mehr, wie trotz allem eine bes­se­re Zu­kunft rea­li­siert wer­den kann.

Disney's TOMORROWLAND Tomorrowland Ph: Film Frame ©Disney 2015

Brad Birds Vi­si­on einer bes­se­ren Zu­kunft.

To­mor­row­land ist ein un­ver­hoh­le­nes Plä­doy­er für Zu­kunfts­op­ti­mus für – ob­wohl der Be­griff, so­weit ich mich er­in­ne­re, nie fällt – po­si­ti­ve Uto­pi­en. Grund­sätz­lich ein sym­pa­thi­sches Un­ter­fan­gen, das lei­der über­haupt nicht funk­tio­niert. Bird hat einen selt­sam ver­korks­ten Film ab­ge­lie­fert, der auf so ziem­lich allen denk­ba­ren Ebe­nen Pro­ble­me hat. Was frei­lich nicht heisst, dass er gänz­lich be­lang­los wäre. Viel­mehr fällt To­mor­row­land wie der hier be­reits dis­ku­tier­te Things to Come in die Ka­te­go­rie ›hoch in­ter­es­san­ter Murks‹.

Da wäre mal die Ebene der Er­zäh­lung: Na­tür­lich weiss auch Bird, dass eine glück­li­che Welt kei­nen Stoff für einen Spiel­film ab­gibt, wes­halb er eine Ge­schich­te bas­telt, die zwar ex­trem sim­pel ist – Prin­zes­sin Casey und Zau­be­rer Frank (Ge­or­ge Cloo­ney) ver­trei­ben die böse Hexe resp. den bösen Nix (Hugh Lau­rie) aus dem Mär­chen­land –, die aber un­ge­heu­er um­ständ­lich dar­ge­bo­ten wird. Bis der Film halb­wegs in die Gänge kommt, dau­ert es gut eine halbe Stun­de. Von da an wird das Ge­sche­hen dann immer ac­tion­las­ti­ger, was der Bot­schaft des Er­zähl­ten ei­gent­lich dia­me­tral zu­wi­der läuft. Re­spek­ti­ve gibt der Film selbst hier eine Ant­wort dar­auf, warum Dys­to­pi­en so po­pu­lär sind: Krieg und Zer­stö­rung sind nun mal span­nen­der an­zu­schau­en als Har­mo­nie.

Wirk­lich be­denk­lich wird es aber, wenn man die Ar­gu­men­ta­ti­on des Films ge­nau­er unter die Lupe nimmt. Wie In­ter­stel­lar ver­knüpft auch To­mor­row­land den schwin­den­den Zu­kunfts­op­ti­mis­mus mit dem Nie­der­gang des US-Raum­fahrt­pro­gramms. In den 1950ern und 1960ern, als die USA zum Mond woll­ten, sah man noch hoff­nungs­voll nach vorne, nun aber, da die Last Fron­tier für immer ver­schlos­sen scheint, macht sich Ver­zweif­lung breit (die bei­den Filme wei­sen üb­ri­gens noch wei­te­re Par­al­le­len auf: In bei­den Fäl­len haben wir es mit einem frus­trier­ten ehe­ma­li­gen NA­SA-Mit­ar­bei­ter und al­lein­er­zie­hen­den Vater sowie des­sen auf­ge­weck­ter Toch­ter zu tun. Müt­ter sind der Zu­kunft wohl ge­ne­rell nicht wohl­ge­son­nen und feh­len des­halb je­weils).

Disney's TOMORROWLAND Casey (Britt Robertson) Ph: Film Frame ©Disney 2015

Da bleibt Casey nur das Stau­nen.

Warum Raum­fahrt und Zu­kunfts­op­ti­mis­mus ir­gend­wie von­ein­an­der ab­hän­gen sol­len, ist mir zwar nicht er­sicht­lich, man kann das aber im­mer­hin als Ge­ne­ra­tio­nen-Phä­no­men er­klä­ren. Für alle, die die be­sag­te Zeit er­lebt haben, dürf­ten die bei­den Dinge emo­tio­nal wohl ganz di­rekt mit­ein­an­der ver­bun­den sein. Weit­aus pro­ble­ma­ti­scher ist da die völ­li­ge Ab­senz von Po­li­tik in die­ser Vi­si­on einer bes­se­ren Welt. Für Bird scheint eine Uto­pie al­lein eine Frage tech­ni­scher Mach­bar­keit zu sein. Es ist nicht ein­mal so, dass sich der Film nicht für Po­li­tik in­ter­es­sie­ren würde, er lehnt sie viel­mehr er­klär­ter­mas­sen ab. To­mor­row­land ist der Ort, an dem sich Ge­nies aus­to­ben dür­fen; un­ge­hin­dert von klei­nen Geis­tern, Bü­ro­kra­tie und – ganz ex­pli­zit – Po­li­tik.

Diese Kon­zep­ti­on einer Uto­pie – wenn man ein po­li­tik­frei­es Ge­bil­de über­haupt so nen­nen kann – ist in mehr­fa­cher Hin­sicht ab­surd. Denn egal, wo man sel­ber po­li­tisch steht, die Or­ga­ni­sa­ti­on einer Ge­sell­schaft ist immer eine po­li­ti­sche Frage. Tech­ni­scher Fort­schritt ist nicht etwas, was sich aus­ser­halb der Ge­sell­schaft voll­zieht, son­dern wird of­fen­sicht­lich in hohem Masse durch po­li­tisch-ge­sell­schaft­li­che Rah­men­be­din­gen be­ein­flusst. Das stimmt auch und ge­ra­de für die Raum­fahrt, die Bird so wich­tig ist. Nicht nur wäre es ohne den Kal­ten Krieg wohl nie zum Apol­lo-Pro­gramm ge­kom­men, wenn es ein Bei­spiel für ein – er­folg­rei­ches – staat­lich in­iti­ier­tes und fi­nan­zier­tes tech­ni­sches Mam­mut­pro­jekt gibt, dann ist es zwei­fel­los die Mond­lan­dung. Ohne die viel ge­schol­te­nen Po­li­ti­ker und Bü­ro­kra­ten hätte kaum be­reits 1969 ein Mensch den Mond be­tre­ten.

Die Ar­gu­men­ta­ti­on des Films ist somit in hohem Masse wi­der­sprüch­lich. Ist das nur naiv oder doch schon Schlim­me­res? Man­che Kri­ti­ker sehen in dem Film den Wi­der­hall von Ayn Rands Ideo­lo­gie, die be­sagt, dass her­aus­ra­gen­de In­di­vi­du­en nicht durch die dump­fe Masse be­hin­dert wer­den dür­fen.5 Dies ist exakt, was in To­mor­row­land ge­schieht: Hier dür­fen sich ei­ni­ge Aus­er­wähl­te ver­wirk­li­chen, ohne auf den Pöbel Rück­sicht neh­men zu müs­sen. De­mo­kra­tie, Ver­ant­wor­tung ge­gen­über der All­ge­mein­heit, das ist etwas für klei­ne Geis­ter. Gib­sons ari­sche Über­men­schen schei­nen in der Tat nicht allzu fern.

NB: Wie be­reits Pi­ra­tes of the Ca­rib­be­an ist auch To­mor­row­land die Ver­fil­mung einer Dis­ney-The­men­park-At­trak­ti­on. An­ders als Fred­ric Ja­me­son meint, schei­nen sich erz­ka­pi­ta­lis­ti­sche Ge­sin­nung und Uto­pie also durch­aus nicht aus­zu­schlies­sen …

  1. Grund­sätz­lich kann hier jede Poin­te, jeder Twist, jede Über­ra­schung ver­ra­ten wer­den. Wer an Spoi­ler­pho­bie lei­det, soll­te die Ein­trä­ge zu ak­tu­el­len Fil­men somit bes­ser mei­den.[]
  2. Die Er­zäh­lung er­schien erst­mals 1981 und war spä­ter u.a. im Gib­sons Kurz­ge­schich­ten­samm­lung Burning Chro­me sowie in der von Bruce Ster­ling her­aus­ge­ge­be­nen Cy­ber­punk-An­tho­lo­gie Mir­ror­sha­des ent­hal­ten. Eine deut­sche Über­set­zung ist gra­tis auf die­zu­kunft.de zu fin­den.[]
  3. Weil «To­mor­row­land» in di­ver­sen eu­ro­päi­schen Län­dern eine ge­schütz­ter Mar­ken­na­me ist, wird der Film hier unter dem Titel A World Bey­ond ver­trie­ben.[]
  4. Für Re­zen­sio­nen zu The In­credi­bles, Rata­touille sowie Mis­si­on: Im­pos­si­ble – Ghost Pro­to­col siehe hier, hier und hier.[]
  5. Siehe etwa den Ar­ti­kel von Char­lie Jane An­ders auf io9.​com.[]