Neue Rezension auf «Medienimpulse»

Michael Burger hat Bilder einer besseren Welt für Medienimpulse rezensiert und kommt in seiner ausführlichen Besprechung zu einem überaus freundlichen Fazit:

Abschließend bleibt zu sagen, dass Spiegel mit seiner gut 400 Seiten umfassenden Habilitation eine bemerkenswerte Studie vorlegt, deren unkonventioneller Ansatz und Forschungsschwerpunkt gänzlich neue Perspektiven sowohl für die Filmwissenschaft als auch für die Utopieforschung eröffnet. Durch den Fokus auf den nichtfiktionalen Film und seine Bezugspunkte zu utopischen Konzepten hat der Autor auf ein großes Feld noch unbearbeiteter Forschungsfragen aufmerksam gemacht. Seine Studie stellt letztlich eindrucksvoll unter Beweis, wie erkenntniserweiternd diese Engführung sein kann. Insofern hat Bilder einer besseren Welt sehr wohl Pioniercharakter.

Zur vollständigen Rezension.

Tomorrowland zum Zweiten

Wie immer gilt ein genereller Spoilervorbehalt.[ref]Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie leidet, sollte die Einträge zu aktuellen Filmen somit besser meiden.[/ref]

Nachtrag zu meinem letzten Eintrag zu Tomorrowland: Dass der Film eine Utopie frei von Politik entwirft, habe ich ja bereits dargelegt. Der Fokus liegt ganz auf der individuellen Kreativität; wenn sich alle Genies austoben dürften, können sie die Welt flicken. – Tatsächlich ist dieser Begriff zentral für den Film. Protagonistin Casey fragt in in einer zentralen Sequenz, in der vorgeführt wird, wie sie und ihre Altersgenossen in der Schule nur mit negativen Szenarien zugeschüttet werden, entnervt: «How do we fix it.»

Obwohl «to fix» auch anders übersetzt werden kann, legt Brad Birds Film immer wieder nahe, dass die Frage einer guten Zukunft letztlich technischer Natur ist. Es herrscht eine Ingenieurslogik vor, die besagt, dass die drängenden Probleme der Gegenwart von schlauen Tüftlern wie Frank und Casey gelöst werden könnten. Diese Einschätzung ist natürlich kreuzfalsch. Eigentlich ist kaum eines der grossen Probleme der Gegenwart – Hunger, Klimaerwärmung, Armut etc. – primär technischer Natur. Der Klimawandel wird natürlich durch fossile Brennstoffe etc. hervorgerufen, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, bräuchte es aber keine bahnbrechenden Technologien, sondern in erster Linie eine sinnvollere Nutzung der bestehenden.

Das Maximum an Futurismus? – Der junge Frank mit seinem selbst gebastelten Raketenrucksack.

Das Maximum an Futurismus? – Der junge Frank mit seinem selbst gebastelten Raketenrucksack.

Technische Weiterentwicklungen würden sicher nicht schaden, aber solange der neue Supermotor oder das Wunderkraftwerk nicht günstiger ist als bestehende Technologien, werden sie nicht viel verändern. So prosaisch und langweilig das auch klingen mag, am Ende läuft vieles auf wirtschaftliche Überlegungen hinaus. Auch die Tatsache, dass viele Menschen nicht genug zu essen kriegen, liesse sich mit einer Wundererfindung kaum lösen. Respektive: Selbst wenn diese Wundererfindung – Superdünger, Essen, das sich selbst regeneriert, etc. – existierte, hätten die Hungernden sehr wahrscheinlich dennoch nichts davon, weil sie sie sich nicht leisten könnten. Genug zu essen auf der Erde gäbe es ohnehin schon heute; das Problem ist – und das gilt letztlich für fast alle Bereiche – die Verteilung. Die Ursachen für das Elend der Welt sind politischer resp. wirtschaftlicher Natur; solange es wirtschaftlich attraktiv ist, dass Menschen hungern, Regenwälder abgeholzt und Kohlekraftwerke gebaut werden, werden diese Dinge auch weiterhin geschehen. Technische Neurungen werden daran wenig ändern.[ref]Allenfalls die Energieversorgung ist ein technisches Problem, wobei – analog zur Klimaerwärmung – bereits heute zahlreiche Möglichkeiten bestünden, den Verbrauch zu senken. Dass dies nicht geschieht hat – einmal mehr – primär politisch-wirtschaftliche Gründe.[/ref]

Wirklich frappant ist aber, dass Tomorrowland für einen Film, der Freude für die Welt von morgen wecken soll, erstaunlich wenig futuristische Elemente enthält. Frank hat in seinem Anwesen einige lustige Gadgets untergebracht, Tomorrowland selbst verharrt dagegen weitgehend in einem überholten 1960er-Futurismusm, wo Raketenrucksack und Einschienenbahn das Höchste der Gefühle darstellen. Was Tomorrowland feiert, ist denn auch gar nicht die Zukunft, sondern die Erinnerung an eine längst vergangene Zukunft.

Dass die Verbindung von fehlenden Optimismus und dem Niedergang der NASA, die in Tomorrowland nahe gelegt wird, unsinnig ist, habe ich bereits ausgeführt. Matt Novak argumentiert auf dem Paleofuture-Blog ähnlich:

In fact, most people of the 1960s thought space travel was a waste of time and money. Baby Boomers who were kids in the 1960s remember support for the space program as universal because they were kids at the time. And they weren’t polling 10 year olds about the space program in 1964.

Novaks Beobachtung scheint mir korrekt. Der Weltraum-Zukunftsoptimismus von Tomorrowland ist ein zutiefst kindlicher. Was der Film zelebriert, ist gar nicht der Blick nach vorne, sondern die wehmütige Rückschau. Es geht in Birds Film nicht um Zukunftsoptimismus, sondern um Nostalgie.

Das traditionelle Disney-Logo …

Das traditionelle Disney-Logo …

… und die neue Version von <em class="Film">Tomorrowland</em>.

… und die neue Version von Tomorrowland.

Nun ist es ja nicht weiter erstaunlich, dass ein Disney-Film auf Nostalgie setzt. Das feierliche Inszenieren einer niedlichen Vergangenheit, die niemals war, ist gewissermassen die Kernkompetenz des Mäuse-Konzerns. All die Märchenschlösser, Feen, Kutschen und süssen Zwergenhüttchen, aber auch die Einfamilienhäuschen in Suburbia mit weissem Lattenzaun und rotem Briefkasten, die wir mit Disney assoziieren, sind hoch artifiziell; Imaginationen einer besseren Zeit, die es nie gab. Dass früher oder später auch das, was einmal die Zukunft war, mit diesem Nostalgie-Zuckerguss überzogen wird, kann nicht erstaunen. Dass man sich bei Disney dieser Entwicklung sehr bewusst ist, zeigt sich an Details wie dem Disney-Logo zu Beginn des Films: Statt der traditionellen Magic-Kingdom-Silhouette setzt man auf eine Tomorrowland-Skyline, die mit dem traditionellen Look wunderbar harmoniert.

Nostalgie ist der SF keineswegs fremd. In meiner Dissertation habe ich vielmehr argumentiert, dass das, was in Fankreisen oft als Sense of Wonder bezeichnet wird, jenes erhabene Gefühl des Ergriffenseins, das SF im besten Fall auslösen kann, ein durch und durch nostalgisches Phänomen ist. Im Schlusskapitel habe ich dazu Folgendes geschrieben:

Der Sense of Wonder ist keine Empfindung, die alleine der SF vorbehalten wäre, wahrscheinlich steht er als Grunderfahrung am Beginn jeglicher Liebe zur Kunst – vielleicht sogar der Liebe überhaupt. Und wahrscheinlich erwächst aus ihm ebenso romantisierende Nostalgie wie jene bornierte Rückwärtsgewandtheit, die überzeugt ist, dass früher grundsätzlich alles besser war. Wenn dem so ist und wenn die SF, wie ich in dieser Studie versucht habe darzulegen, dank ihres Wesens und Funktionierens besonders dazu geeignet ist, den Sense of Wonder zu erzeugen, dann scheint SF kein Modus des visionären Vorwärtsschauens zu sein, sondern vielmehr des wehmütigen Blicks zurück, zurück in jene Zeit, als die Zukunft noch jung war und alles möglich schien (Die Konstitution des Wunderbaren333 f.).

Auf die Gefahr hin, mich selbst zu loben: Als Beschreibung dessen, was in Tomorrowland geschieht, scheint mir das überaus treffend. Der Film selbst liegt diesen Schluss übrigens selbst nahe: Nicht umsonst spielt eine wichtige Szene des Films in einem SF-Fanshop, der Blast from the Past heisst (betrieben wird er übrigens von einem Hugo Gernsback  …).

Angefüllt mit SF-Nostalgie: Blast from the Past.

Angefüllt mit SF-Nostalgie: Blast from the Past.

Die Verbindung von SF und Nostalgie ist somit durchaus nicht ungewöhnlich, wie aber verhält es sich mit der Utopie? Dass zumindest die Dystopie oft die heile Vergangenheit der Gegenwart gegenüberstellt, habe ich schon mehrfach argumentiert. Ganz knapp zusammengefasst meine Überlegung: Die Dystopie nimmt negative Tendenzen der Gegenwart und projiziert sie in riesenhaft überhöht in die Zukunft. Die Botschaft: Noch besteht die Möglichkeit, den Niedergang aufzuhalten, wir müssen bloss zurück zu … Die meiste Dystopien haben zumindest implizit eine nostalgische Schlagseite. [ref]Siehe dazu: «Bilder einer besseren Welt. Über das ambivalente Verhältnis von Utopie und Dystopie». In: Mamczak, Sascha/Jeschke, Wolfgang (Hgg.): Das Science Fiction Jahr 2008. München 2008, 58–82. [PDF]; «Schöne Aussichten oder: Warum die Zukunft auf jeden Fall schrecklich sein wird». In: Cinema, Nr. 53, 2007, 133–140. [PDF][/ref]

Was das Verhältnis von Utopie und Nostalgie betrifft, bin ich mir noch unsicher. Ich muss mir dazu wohl noch ein paar Gedanken machen,  spontan scheinen mir aber die meisten Utopien dezidiert unnostalgisch. Der Reiz der klassischen Utopie liegt gerade in der Tabula rasa: Reinen Tisch machen und alles neu entwerfen. Nostalgie steht dieser Haltung diametral entgegen. Das müsste man aber noch im Detail untersuchen; insbesondere im Zusammenhang mit neueren Utopien des 20. und 21. Jahrhunderts, die nicht den totalen – und totalitären – Anspruch der klassischen Entwürfe haben. Auch die Geschichte von Tomorrowland – dem Disney-Themenpark – und die Rolle von Walt Disney müsste man in diesem Zusammenhang genauer anschauen. Dass Disney nicht nur eine konservative, sondern auch eine sehr progressive Seite hatte, dass er seine Themenparks durchaus als utopische Projekte verstand, habe ich schon mehrfach gelesen. Systematisch damit beschäftigt habe ich mich aber noch nicht. Mal schauen, ob ich irgendwann dazu komme …

Update: Der neue Artikel von Charlie Jane Anders auf io9.com bringt einige Aspekte, die ich angesprochen hat, auf den Punkt. Zum Beispiel dieses schöne Zitat: «Nostalgia is closer to being optimism’s enemy than its friend. Nostalgia is a fundamentally regressive, non-constructive sentiment.»

Tomorrowland

Wie immer gilt ein genereller Spoilervorbehalt.[ref]Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie leidet, sollte die Einträge zu aktuellen Filmen somit besser meiden.[/ref]

In William Gibsons mittlerweile klassischer Kurzgeschichte The Gernsback Continuum[ref]Die Erzählung erschien erstmals 1981 und war später u.a. im Gibsons Kurzgeschichtensammlung Burning Chrome sowie in der von Bruce Sterling herausgegebenen Cyberpunk-Anthologie Mirrorshades enthalten. Eine deutsche Übersetzung ist gratis auf diezukunft.de zu finden.[/ref] erhält ein Fotograf den Auftrag, die Überbleibsel futuristischer US-Architektur der 1930er- und 1940er-Jahre zu fotografieren, einen Stil, den Gibson als Raygun Gothic bezeichnet – Art-Déco- und Streamline-Moderne-Bauten mit Kurven, Chromstahl und knalligen Farben. Gebäude, die direkt aus den zeitgleich erschienen SF-Magazinen oder Filmen wie Metropolis und Things to Come zu stammen scheinen und damals von einer nicht allzu fernen Zukunft kündeten, die aber nie eintreffen sollte; «a kind of alternate America, 1980 that never was».

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Die Zukunft, die nie war. Ein Beispiel für Gibsons Raygun Gothic.

Der Ich-Erzähler lässt sich so sehr auf seinen Auftrag ein, dass er zu halluzinieren beginnt. Er sieht auf einmal «semiotic ghosts»; gegen seinen Willen spinnt er diese vergangenen Visionen der Zukunft weiter und imaginiert schliesslich eine ganze Hightech-Metropole, komplett mit ihren Bewohnern. «They were white, blond, and they probably had blue eyes. […] their bright eyes shining with enthusiasm for their floodlit avenues and silver cars. It had all the sinister fruitiness of Hitler Youth propaganda.»

Gibsons Erzählung ist eine beissende Polemik gegen die frühe Pulp-SF, deren naivem Technikoptimismus eine quasi-faschistische Ideologie unterstellt wird. Entsprechend ist der Protagonist am Ende froh, in der mehr oder weniger dystopischen Gegenwart und nicht der einst imaginierten blitzblanken – scheinbar perfekten – Zukunft zu leben.

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Noch mehr vergangener Futurismus.

Man kann sich darüber streiten, inwieweit Gibsons Diagnose fair ist, ob Hugo Gernsback und Co. tatsächlich verhinderte Wegbereiter einer Welt properer Nazi-Jünglinge waren. Auf jeden Fall ist es faszinierend zu sehen, wie skeptisch der wohl wichtigste SF-Autor der 1980er-Jahre seinem eigenen Genre gegenüberstand. The Gernsback Continuum ist eine grosse Absage an die einstigen Verheissungen der SF.

In meinem letzten Blogeintrag ging ich auf die derzeit oft gehörte Klage ein, dass es uns heute an positiven Zukunftsentwürfen mangle. Tomorrowland von Brad Bird,[ref]Weil «Tomorrowland» in diversen europäischen Ländern eine geschützter Markenname ist, wird der Film hier unter dem Titel A World Beyond vertrieben.[/ref] dessen bisherige Filme mich alle mehr oder weniger stark begeistert haben,[ref]Für Rezensionen zu The Incredibles, Ratatouille sowie Mission: Impossible – Ghost Protocol siehe hier, hier und hier.[/ref] erscheint wie eine direkte Antwort auf die Frage, ob wir uns derzeit nur noch Dystopien vorstellen können. Wie Gibson fragt auch Bird danach, was aus dem Enthusiasmus von einst geworden ist, allerdings kommt er zu einem völlig anderen Schluss. Tomorrowland ist quasi die optimistische Gegenposition zu The Gernsback Continuum.

Der Film erzählt von einer Welt – das titelgebende Tomorrowland, von dem nie ganz klar wird, ob es in der Zukunft, im All oder in einer Parallelwelt liegt –, in der die kreativen Genies dieser Welt ungehindert ihre Träume realisieren dürfen. Doch wie es bei Märchenländern üblich ist, ist auch diese Welt verwunschen und nur Auserwählten zugänglich. Diese Rolle kommt der jungen Casey (Britt Robertson) zu, einem aufgeweckten Teenager, der nicht begreifen will, warum alle Welt die Zukunft ausschliesslich in düsteren Farben sieht. Casey will sich nicht durch fiktionale und reale Dystopien deprimieren lassen, sie interessiert vielmehr, wie trotz allem eine bessere Zukunft realisiert werden kann.

Disney's TOMORROWLAND Tomorrowland Ph: Film Frame ©Disney 2015

Brad Birds Vision einer besseren Zukunft.

Tomorrowland ist ein unverhohlenes Plädoyer für Zukunftsoptimus für – obwohl der Begriff, soweit ich mich erinnere, nie fällt – positive Utopien. Grundsätzlich ein sympathisches Unterfangen, das leider überhaupt nicht funktioniert. Bird hat einen seltsam verkorksten Film abgeliefert, der auf so ziemlich allen denkbaren Ebenen Probleme hat. Was freilich nicht heisst, dass er gänzlich belanglos wäre. Vielmehr fällt Tomorrowland wie der hier bereits diskutierte Things to Come in die Kategorie ›hoch interessanter Murks‹.

Da wäre mal die Ebene der Erzählung: Natürlich weiss auch Bird, dass eine glückliche Welt keinen Stoff für einen Spielfilm abgibt, weshalb er eine Geschichte bastelt, die zwar extrem simpel ist – Prinzessin Casey und Zauberer Frank (George Clooney) vertreiben die böse Hexe resp. den bösen Nix (Hugh Laurie) aus dem Märchenland –, die aber ungeheuer umständlich dargeboten wird. Bis der Film halbwegs in die Gänge kommt, dauert es gut eine halbe Stunde. Von da an wird das Geschehen dann immer actionlastiger, was der Botschaft des Erzählten eigentlich diametral zuwider läuft. Respektive gibt der Film selbst hier eine Antwort darauf, warum Dystopien so populär sind: Krieg und Zerstörung sind nun mal spannender anzuschauen als Harmonie.

Wirklich bedenklich wird es aber, wenn man die Argumentation des Films genauer unter die Lupe nimmt. Wie Interstellar verknüpft auch Tomorrowland den schwindenden Zukunftsoptimismus mit dem Niedergang des US-Raumfahrtprogramms. In den 1950ern und 1960ern, als die USA zum Mond wollten, sah man noch hoffnungsvoll nach vorne, nun aber, da die Last Frontier für immer verschlossen scheint, macht sich Verzweiflung breit (die beiden Filme weisen übrigens noch weitere Parallelen auf: In beiden Fällen haben wir es mit einem frustrierten ehemaligen NASA-Mitarbeiter und alleinerziehenden Vater sowie dessen aufgeweckter Tochter zu tun. Mütter sind der Zukunft wohl generell nicht wohlgesonnen und fehlen deshalb jeweils).

Disney's TOMORROWLAND Casey (Britt Robertson) Ph: Film Frame ©Disney 2015

Da bleibt Casey nur das Staunen.

Warum Raumfahrt und Zukunftsoptimismus irgendwie voneinander abhängen sollen, ist mir zwar nicht ersichtlich, man kann das aber immerhin als Generationen-Phänomen erklären. Für alle, die die besagte Zeit erlebt haben, dürften die beiden Dinge emotional wohl ganz direkt miteinander verbunden sein. Weitaus problematischer ist da die völlige Absenz von Politik in dieser Vision einer besseren Welt. Für Bird scheint eine Utopie allein eine Frage technischer Machbarkeit zu sein. Es ist nicht einmal so, dass sich der Film nicht für Politik interessieren würde, er lehnt sie vielmehr erklärtermassen ab. Tomorrowland ist der Ort, an dem sich Genies austoben dürfen; ungehindert von kleinen Geistern, Bürokratie und – ganz explizit – Politik.

Diese Konzeption einer Utopie – wenn man ein politikfreies Gebilde überhaupt so nennen kann – ist in mehrfacher Hinsicht absurd. Denn egal, wo man selber politisch steht, die Organisation einer Gesellschaft ist immer eine politische Frage. Technischer Fortschritt ist nicht etwas, was sich ausserhalb der Gesellschaft vollzieht, sondern wird offensichtlich in hohem Masse durch politisch-gesellschaftliche Rahmenbedingen beeinflusst. Das stimmt auch und gerade für die Raumfahrt, die Bird so wichtig ist. Nicht nur wäre es ohne den Kalten Krieg wohl nie zum Apollo-Programm gekommen, wenn es ein Beispiel für ein – erfolgreiches – staatlich initiiertes und finanziertes technisches Mammutprojekt gibt, dann ist es zweifellos die Mondlandung. Ohne die viel gescholtenen Politiker und Bürokraten hätte kaum bereits 1969 ein Mensch den Mond betreten.

Die Argumentation des Films ist somit in hohem Masse widersprüchlich. Ist das nur naiv oder doch schon Schlimmeres? Manche Kritiker sehen in dem Film den Widerhall von Ayn Rands Ideologie, die besagt, dass herausragende Individuen nicht durch die dumpfe Masse behindert werden dürfen.[ref]Siehe etwa den Artikel von Charlie Jane Anders auf io9.com.[/ref] Dies ist exakt, was in Tomorrowland geschieht: Hier dürfen sich einige Auserwählte verwirklichen, ohne auf den Pöbel Rücksicht nehmen zu müssen. Demokratie, Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit, das ist etwas für kleine Geister. Gibsons arische Übermenschen scheinen in der Tat nicht allzu fern.

NB: Wie bereits Pirates of the Caribbean ist auch Tomorrowland die Verfilmung einer Disney-Themenpark-Attraktion. Anders als Fredric Jameson meint, scheinen sich erzkapitalistische Gesinnung und Utopie also durchaus nicht auszuschliessen …

Things to Come

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Ein zeitgenössisches Plakat – zuoberst thront Wells’ Name.

In der neuen Ausgabe des Quarber Merkurs, Franz Rottensteiners Urgestein der deutschsprachigen Phantastik-Publizistik, ist neben zwei Rezensionen ein längerer Artikel von mir zu William Cameron Menzies’ Things to Come enthalten.[ref]Bei den besprochenen Werken handelt es sich um das Metzler-Handbuch Phantastik sowie im Wolfgang Ruges Studie Roboter im Film. Die Rezensionen sind hier und hier erhältlich.[/ref] Things to Come gehört zu den Werken, an denen man nicht vorbei kommt, wenn man sich für filmische Utopien interessiert. Vielerorts ist zu lesen, dass dieser Film am ehesten als filmisches Gegenstück einer literarischen Utopie gelten kann. Für den Spielfilm dürfte dieser Befund wahrscheinlich sogar korrekt sein – Frank Capras Lost Horizon wäre ein anderer Kandidat –, was aber im Grunde nur zeigt, wie schlecht (positive) Utopie und Spielfilm zusammenpassen. Denn das, was die literarische Utopie ausmacht – die detaillierte Beschreibung der utopischen Ordnung –, ist in Things to Come weitgehend abwesend. Zwar zeigt uns der Film eine wunderbare Stadt der Zukunft, in der – fast – alle zufrieden sind, darüber, wie diese Gesellschaft organisiert ist, schweigt sich der Film aber aus.

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Wells am Set von Things to Come

Things to Come gehört zur Kategorie der grandios gescheiterten Filme. Produzent Alexander Kordas Ziel war eine sowohl inhaltlich aus auch formal anspruchsvolle Prestige-Produktion. Herausgekommen ist ein seltsamer Murks, in dem sich einzelne visuell beeindruckende Momente mit langen Monologen hölzerner Schauspieler abwechseln. Als Spielfilm definitiv gescheitert, aber als Analysenobjekt – nicht zuletzt aufgrund seiner Probleme – hoch interessant.

Die zentrale Figur des Projekts war H. G. Wells. Er sollte garantieren, dass ein ernsthafter, wichtiger Film entstehen würde, und er war wohl auch in nicht geringem Masse für dessen Probleme verantwortlich. Wells spielte sowohl in der Geschichte der Utopie als auch in derjenigen der Science Fiction eine zentrale Rolle. Obwohl es zahlreiche literarische Vorläufer gab, spricht doch einiges dafür, die Geburt der SF als eigenständiges Genre mit dem Erscheinen von The Time Machine (1895) anzusetzen.[ref]Gemeint ist hier, dass es vorher zwar durchaus Werke gab, die man heute der SF zurechnen würde, dass diese aber in anderen Genrezusammenhängen entstanden sind. Frankenstein ist eine Gothic Novel, Jules Verne steht in der Tradition phantastischer Reiseberichte etc. Wells hingen kann durchaus als Begründer einer neuen Genretradition gesehen werden, auch wenn diese erst rund 30 Jahre später in den USA zu ihrem Namen kam.[/ref] Zugleich trug Wells’ massgeblich zur Modernisierung der utopischen Literatur bei. A Modern Utopia von 1905 bringt dem Genre eine entscheidende Änderung: Wells schreibt bereits im Vorwort, dass eine moderne Utopie im Gegensatz zu ihren klassischen Vorgängern nicht statisch sein dürfe. Vielmehr muss eine zeitgemässige Form der Utopie offen und nicht auf einen fixierten Endzustand hin konzipiert sein.

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Die Stadt der Zukunft

In der zweiten Hälfte seiner Karriere trat Wells immer mehr als Politaktivist in Erscheinung. In zahlreichen Veröffentlichungen – Romanen und Sachbüchern – propagierte er seine Vision eines sozialistischen Weltstaats. Zu diesen Büchern gehört auch das 1933 erschiene The Shape of Things to Come,  eine fiktionale Chronik der Zukunft, welche die Geschichte der Menschheit von 1933 bis 2106 beschreibt. Am Ende ist der Weltstaat Realität und die Probleme der Menschheit gelöst. Dieses ziemlich dröge Buch, das die Geschehnisse primär protokolliert, also ohne eigentliche Protagonisten und dramatischen Bogen auskommt, war die Basis für den Film. Wells sollte aber nicht nur die Vorlage liefern, sondern auch das Drehbuch verfassen. Zudem gestand ihm sein Vertrag zu, bei jedem Aspekt der Produktion mitzureden. Ein Recht, von dem Wells – der davon überzeugt war, das Medium Film verstanden zu haben – ausgiebig Gebrauch machte. Die Tatsache, dass Regisseur Menzies von Haus aus Ausstatter war und weitaus mehr Erfahrung im Entwerfen dramatischer Szenerien als im Führen von Schauspieler besass, machte die Sache nicht besser.

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In Wells’ Zukunft gibt es wenig zu lachen.

Das wirklich Merkwürdige an Things to Come ist aber, dass der Film zwar zahlreiche Szenen enthält, in denen ernste Herren – in Wells’ Zukunft spielen Frauen keine grosse Rolle – ausführlich die Ansichten des Autors verbreiten, dass wir aber dennoch kaum etwas über die Organisation dieser Welt erfahren. In dieser Hinsicht erweist sich diese filmische Utopie als äusserst utopieuntypisch. Stattdessen inszeniert der Film im letzten Teil, als der Weltstaat Wirklichkeit ist, einen merkwürdigen Showdown um den Start einer Mondrakete – genauer: eines Mondprojektils –, wobei diese nur als Vorwand für einen langen Schlussmonolog der Hauptfigur erscheint.

Alles Weitere zum Film im aktuellen Quarber Merkur. Beizeiten werde ich den Artikel dann auch online stellen. Zum Schluss als kleines Schmankerl noch eine Passage aus dem Tagebuch von Arthur C. Clarke. Clarke arbeitete bekanntlich eng mit Stanley Kubrick zusammen, um das Drehbuch von 2001: A Space Odyssey zu entwickeln. Kubrick sah zu dieser Zeit alles, was er an filmischer SF auftreiben konnte, und sein Co-Autor empfahl ihm, sich doch auch mal Things to Come zu Gemüte zu führen. Kubrick Reaktion gibt Clarke folgendermassen wieder:

Stanley calls after screening H. G. Wells’ Things to Come, and says he’ll never see another movie I recommend« (Clarke 1972: 35).

Ich kann Kubricks Reaktion durchaus nachvollziehen. Man würde allerdings meinen, dass sich der Geschmack zweier Autoren, die an einem gemeinsamen Projekt arbeiten, halbwegs decken muss. Aber anscheinend ist dem nicht so …

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Bereit für den Aufbruch ins All

 

Update: Der Artikel ist nun als PDF verfügbar.

Spiegel, Simon: «‹A Film Is No Place For Argument›. William Cameron Menzies’ Things to Come». In: Quarber Merkur. Franz Rottensteiners Literaturzeitschrift für Science Fiction und Phantastik Nr. 115, 2014, 99–116.

Weitere erwähnte Literatur

Clarke, Arthur C.: The Lost Worlds of 2001. The Ultimate Log of the Ultimate Trip. New York 1972.
Wells, H. G.: Tono-Bungay and A Modern Utopia. London 1908[1905]).
Wells, H. G.: The Shape of Things to Come. New York 1979[1933].

Utopie Europa

An den 18. Internationalen Kurzfilmtagen Winterthur, die gestern zu Ende gingen, war ein grosser thematischer Schwerpunkt Europa gewidmet. Für mich besonders interessant war das Programm Visionen I: Werben für Europa, in dem Filme aus den 1950er- und 1960er-Jahren zu sehen waren, in denen unterschiedliche Organisationen (Marshall-Plan, Montanunion, Europarat etc.) für ein geeintes Europa warben. Die sechs gezeigten Filmen waren von der Machart her sehr unterschiedlich, dennoch gab es Motive, die sich mehr oder weniger durch alle Beispiele zogen: die Sinnlosigkeit der vielen Grenzen in Europa, das europäische Projekt als Garant für den Frieden (der Zweite Weltkrieg war je nach Film explizit ein Thema oder wurde nur indirekt angedeutet) und die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben würden (die lästige Tatsache, dass man ständige andere Währungen braucht, wurde ebenfalls thematisiert). Immer wieder waren Europa-Karten mit Mauern zu sehen, die es zu überwinden galt. Wobei die Mauern gegen das «andere Europa» des Ostblocks oft ein wenig höher ausfielen als die innerhalb Westeuropas. Die Schweiz war übrigens erstaunlich oft ein integraler Teil des imaginierten geeinten Europas. Mehrfach wurde zudem explizit der Vergleich mit den USA – «die vereinigten Staaten von Europa» – gezogen.

Ein Büro-Roboter ohne Manieren

Ein Büro-Roboter ohne Manieren

Da in fast allen Beispielen  eine besser zukünftige Welt gezeigt wurde – und zwar als Resultat konkreter politischer Schritte –, passten die meisten Filme in mein Thema. Und obwohl es immer wieder Spielszenen gab, hatten alle Filme letztlich einen dokumentarischen Charakter. Besonders interessant war der Film Europa 1978 (Alternativtitel: Twenty Years After) von Paul Claudon. Der Film aus dem Jahr 1958 zeigt einen fiktiven Rückblick aus dem Jahr 1978, in dem das geeinte Europa prosperiert. Wir sehen alle möglichen Wunderwerke wie Einschienenbahnen, modernste Wolkenkratzer, die Einheitswährung Europa, Atom- und Solarkraftwerke, Linienflüge zum Mond, Roboter und einiges mehr (im einzigen Screenshot, den ich auftreiben konnte, ist ein Roboter zu sehen, der eine Sekretärin begrapscht). Gemäss dem Filmwissenschaftler Thomas Tode, der das Programm zusammengestellt und moderiert hat, verarbeitet Europa 1978 bestehendes Material aus anderen Industrie- und Werbefilmen. Die Zukunft, die uns der Film zeigt, ist somit ein Potpourri des damals Neusten vom Neuen, wobei man bei einigen Aufnahmen nur erahnen kann, was wir da eigentlich sehen. Zum Beispiel ist in einer Einstellung ein Mann in einem seltsamen aufblasbaren Kunststoffanzug zu sehen, während der Off-Kommentar von den Möglichkeiten der Atomkraft schwärmt. Nach einem Strahlenschutzanzug sieht der überdimensionale Ballon allerdings nicht aus; wahrscheinlich hat man relativ wahllos Material verwendet, das irgendwie futuristisch aussah. Der Film ist ein schönes Beispiel dafür, wie mittels primär dokumentarischer Aufnahmen ein fiktives Szenario illustriert werden kann und die Behauptungen des Films kraft der dokumentarischen Bilder faktualisiert werden.

Thomas Tode ist übrigens Mitarbeiter in dem DFG-Forschungsprojekt Werben für Europa und die Filme, die er gezeigt hat, Teil eines Korpus mehrerer hundert Filme, die im Rahmen des Projekts untersucht wurden. Eine Publikation ist für nächstes Jahr angekündigt. Eine wahre Fundgrube für mich …

Publikationen

Wie es der Zufall resp. die nicht immer ganz durchschaubaren Regeln des akademischen Publizierens wollen, sind in den vergangenen Wochen zwei Texte von mir erschienen, die zusammen genommen mein Forschungsprojekt ziemlich gut abstecken.

«Auf der Suche nach dem utopischen Film» ist mein Beitrag zu den Proceedings der dritten Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung (GfF), die 2012 in Zürich stattfand. In dem Artikel gehe ich der Frage nach, welche Form die klassische Utopie im Film annehmen könnte. Dass der Spielfilm für positive – eutopische – Entwürfe nicht geeignet ist, ist hinlänglich bekannt (es gibt keinen Konflikt und somit keine Handlung, die Figuren sind stereotyp, es geschieht nichts). Als Alternative plädiere ich in dem Text dafür, nichtfiktionale Filme zu untersuchen – also Dokumentarfilme, Propagandafilme und was es da sonst noch alles gibt. Als konkretes Beispiel für einen Film, der so ziemlich mit dem gesamten Arsenal klassischer utopischer Topoi aufwartet, analysiere ich Peter Josephs Low-Budget-Film Zeitgeist: Addendum, in dem das Venus Project als Ausweg aus unserer aktuellen Misere propagiert wird.

«Authentische Wunschträume. Einige Überlegungen zur Utopie im nichtfiktionalen Film» ist mein Beitrag zu den Proceedings der GfF-Tagung von 2013 in Wetzlar. Der Text ist zwar bereits Ende 2013 erschienen, stellt aber eigentlich die Fortsetzung von «Auf der Suche nach dem utopischen Film» dar. Darin gehe ich vor allem der Frage nach, wie sich utopische Filme aus der Sicht der Dokumentarfilmtheorie fassen lassen. Auf den ersten Blick haben wir es hier mit einem fundamentalen Widerspruch zu tun: Das Wesen des Dokumentarfilms ist es – vermeintlich – ja gerade, die Ereignisse vor der Kamera unverfälscht festzuhalten. Wie verhält sich das mit der Utopie, die ihrerseits von einem Staatswesen erzählt, das es (noch) nicht gibt? Ausführlicheres dazu hier.

Das theoretische Fundaments meines Projekts wäre somit gelegt, nun müssen nur noch die passenden Filme rangeschafft werden …

 

Bibliographische Angaben:

Spiegel, Simon: „Authentische Wunschträume. Einige Überlegungen zur Utopie im nichtfiktionalen Film“. In: Komparatistik Online. Nr. 1, 2013, 188–199.

Spiegel, Simon: „Auf der Suche nach dem utopischen Film“. In: Lötscher, Christiane/Schrackmann, Petra/Tomowiak, Ingrid et al. (Hgg.): Übergänge und Entgrenzungen in der Fantastik. Berlin 2014, 421–435.

«Authentische Wunschträume» kann als PDF runtergeladen werden. Leider verbietet der LIT-Verlag seinen Autoren ausdrücklich, ihre Artikel online zu veröffentlichen, weshalb ich Interessierte an die Buchhandlung oder Universitätsbibliothek ihres Vertrauens verweisen muss.

 

 

Authentische Wunschträume

In der Zeitschrift Komparatistik Online ist dieser Tage ein Teil der Proceedings der letzten Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung erschienen — unter anderem darin enthalten ist ein Artikel von mir zur Utopie im nicht-fiktionalen Film.

Das Timing ist nicht ganz optimal, da ich mich in dem Artikel u.a. auf einen Text beziehe, den ich für die Proceedings der 2012er Jahrestagung geschrieben habe, welche voraussichtlich erst im Herbst erscheinen werden.[ref]Hier die vorläufigen bibliografischen Angaben: «Auf der Suche nach dem utopischen Film». In: Christiane Lötscher, Petra Schrackmann, Ingrid Tomkowiak, Aleta-Amirée von Holzen (Hg.): Übergänge und Entgrenzungen in der Fantastik, Berlin: Lit 2014 [im Druck].[/ref] Ich denke aber, dass der Artikel auch so verständlich sein sollte. Kurz zum Inhalt: Grundthese meines Forschungsprojekts ist, dass es im nicht-fiktionalen Film (vulgo: Dokumentarfilm) zahlreiche Beispiele für utopische Entwürfe gibt, die dem von Thomas Morus in Utopia etablierten Modell weitgehend entsprechen. Ein Beispiel hierfür, das ich im besagten noch nicht veröffentlichten Artikel analysiere, ist Zeitgeist: Addendum von Peter Joseph, ein Low-Budget-Film (auf YouTube frei erhältlich), der neben viel verschwörungstheoretischem Geraune mit dem Venus Project auch einen Gegenentwurf präsentiert.[ref]Ursprünglich aufmerksam auf das Venus Project resp. Josephs Filme wurde ich durch einen Thread auf sf-netzwerk.de. Die Diskussion, in die sich zwischendurch auch ein Vertreter des Venus Project einschaltet, driftet zwar immer wieder ab, zeigt aber sehr schön die Probleme dieses Projekts.[/ref] Das Venus Project wiederum ist zwar durchaus ernst gemeint, präsentiert sich aber als einzige Ansammlung utopischer Topoi. Sei es Geldlosigkeit, zentrale Verteilung der Güter, Erziehung zum besseren Menschen, Abschaffung des politischen Prozesses – das Venus Project bietet die volle Packung.[ref]Aus Josephs Zeitgeist-Filmen ist das Zeitgeist Movement hervorgegangen, das sich ursprünglich als aktivistischer Arm des Venus Project verstanden hat. Wie es derartigen bei sektenähnlichen Vereinigungen aber oft vorkommt, haben sich die beiden Bewegungen mittlerweile überworfen und gehen seither getrennte Wege.[/ref]

Während ich in dem nun später erscheinenden ersten Artikel ganz grundlegend dafür plädiere, den Dokumentarfilme für die Utopieforschung zu erschliessen, konzentriere ich mich in dem in Komparatistik Online erschienenen Aufsatz auf die Frage, wie sich ein Film wie Zeitgeist: Addendum aus Sicht der Dokumentarfilm-Theorie präsentiert. Denn auf den ersten Blick erscheint ein solcher utopischer Film als Paradoxon: Ausgerechnet im Dokumentarfilm, der die Wirklichkeit abbildet, soll es utopische Entwürfe geben, zu deren wesentlichen Eigenschaften es gehört, dass sie (noch) nicht existieren. Bei genauerer Betrachtung ist die Sache freilich gar nicht so widersprüchlich. Dass Dokumentarfilme die Wirklichkeit keineswegs einfach abbilden, dass das Verhältnis zwischen Realität und Film einiges komplexer ist, dürfte jedem klar sein, der sich ein bisschen in diesem Bereich auskennt. Das macht die Sache aber nicht einfacher, und die Filmtheorie müht sich schon seit geraumer Zeit mit der Frage ab, wie das Verhältnis zwischen Dokumentarfilm und Wirklichkeit am besten zu fassen ist. Persönlich scheint mir der semiopragmatische Ansatz von Roger Odin hier am sinnvollsten. Sehr vereinfacht gesagt geht dieser davon aus, dass ein Film vom Rezipienten immer auf verschiedene Arten gelesen werden kann, und dass die unterschiedlichen Lektüre-Modi sowohl durch formale Merkmale im Film – z.B. Kameraführung, Einsatz von Off-Kommentar, Montage – wie auch durch den Kontext, in dem der Film rezipiert wird, nahegelegt werden. Wenn ein Film z.B. als Dokumentarfilm beworben wird, liegt es nahe, dass ich als Zuschauer den dokumentarisierenden Modus wähle. Es stet mir aber immer frei, entgegen der Vorgaben, die ein Film resp. der Kontext macht, einen anderen Lektüremodus zu wählen.

Entwurf von Jacque Fresco.

vlcsnap-2014-05-19-22h31m29s68vlcsnap-2014-05-19-22h31m23s11Die Zukunft, wie man sie sich beim Venus Project vorstellt.

Der dokumentarisierende Modus unterscheidet sich vom  fiktionalisierenden unter anderem dadurch, dass ich als Zuschauer immer davon ausgehe, dass der Filmemacher Aussagen zur Wirklichkeit macht. Das heisst nun nicht, dass die Bilder und Töne im Film tatsächlich reale Ereignisse wiedergeben müssen, aber dass ich seinen Inhalt in Bezug zur Realität setze, dass der Film als Ganzer dem Wahrheitsgebot unterliegt. Zugespitzt formuliert: Ein Dokumentarfilm kann lügen, ein Spielfilm nicht. Der Filmtheoriker Carl Plantinga, der diesbezüglich ähnlich argumentiert wie Odin, spricht von einer assertorischen Haltung.

Was geschieht nun, wenn ein Dokumentarfilm Dinge zeigt, die es offensichtlich nicht gibt, wenn zum Beispiel in Zeitgeist: Addendum die computeranimierten Entwürfe von Venus-Project-Guru Jacque Fresco zu sehen sind?[ref]Fresco, Jahrgang 1916, also genau 400 Jahre jünger als Morus’ Utopia, ist gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin Roxanne Meadows die treibende Kraft hinter dem Venus Project. Benannt ist dieses nach seinem Namen in Venus, Kalifornine.[/ref] Verliert der Film dann seinen dokumentarischen Status? Ich bin der Ansicht, dass das nicht der Fall ist, denn an der grundsätzlichen Haltung des Films ändert sich nichts. Folgendes Zitat aus dem Artikel bringt den Sachverhalt – hoffentlich – auf den Punkt:

Die in Josephs Film gezeigten futuristischen Bauten und Gefährte sind zweifellos (noch) nicht real, im Kontext des Films verändern sie aber ihren Status und erscheinen nicht als völlig fiktive Elemente. Vielmehr ist die Argumentation des Films gerade darauf ausgerichtet, das Gezeigte als plausibel und wünschenswert erscheinen zu lassen. Mittels dieser Strategie verliert das Fiktive seine ursprüngliche Nicht-Wirklichkeit und erhält einen quasi-assertorischen Status. Diesen Vorgang, das Quasi-real-Erscheinen-lassen fiktiver Elemente, bezeichne ich als Faktualisierung (195 f.)

Faktualisierung führt also dazu, dass fiktive Elemente in einem Dokumentarfilm ihren nicht-realen Status zumindest teilweise verlieren. Das heisst nun keineswegs, dass Frescos Entwürfe damit automatisch plausibel werden. Aber auch ein Skeptiker, der das Venus Project für Unsinn hält, wird wohl zugestehen, dass dessen futuristische Städte einen anderen Status haben als die Metropolen eines Science-Fiction-Films. Ein Film wie Blade Runner erhebt keinen Anspruch darauf, eine ernsthafte Prognose zur Stadtentwicklung in den USA abzugeben. Fresco versteht seine Entwürfe dagegen ausdrücklich als ernsthafte Vorschläge, über welche man diskutieren und die man schliesslich auch umsetzen soll.

Mit dem Begriff der Faktualisierung, der übrigens von meiner Projektpartnerin Andrea Reiter stammt, scheint mir ein für mein Projekt ganz wesentliches Element benannt. Momentan haben wir dieses Konzept noch nicht detailliert ausgearbeitet, sondern nur grob skizziert. Auch mein Artikel ist nur als erster Entwurf zu verstehen, der das Phänomen des utopischen Dokumentarfilms aus filmtheoretischer Sicht umreisst. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich der Ansatz als fruchtbar erweisen wird. Der Vorgang der Faktualisierung scheint mir dabei für viele Spielarten des Dokumentarfilms relevant, im Falle der von mir untersuchten utopischen Filme bildet er aber das zentrale Scharnier zwischen Fiktion und Faktualität.

Es ist soweit

Vergangenen Donnerstag kam der erlösende Telefon-Anruf: Der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) fördert unser Projekt Alternative Weltentwürfe: Der politisch-aktivistische Dokumentarfilm. Das bedeutet, dass ich ab Juni  drei Jahre Zeit habe, um zur Utopie im Dokumentarfilm zu forschen. Parallel dazu wird sich Andrea Reiter in ihrem Dissertationsprojekt mit einem Korpus von Dokumentarfilmen auseinandersetzen, die in den Jahren nach dem Zerfall Jugoslawiens ab 1991 entstanden sind und sich kritisch mit den Kriegsereignissen und deren Folgen befassen.

Worum geht’s?

Es geht um den utopischen Film oder vielmehr um die Frage, ob es Filme gibt, die der Gattung der Utopie entsprechen, wie sie von Thomas Morus mit Utopia begründet wurde. In der Geschichte der Literatur hat sich diese Gattung als erstaunlich langlebig erwiesen. Seit der Erstveröffentlichung von Utopia im Jahre 1516 gab es einen steten Strom utopischer Texte, die dem morusschen Vorbild sowohl inhaltlich wie auch in der Form folgen. Viele dieser Texte sind heute vergessen, mache waren bei Erscheinen aber veritable Bestseller; etwa Johann Gottfried Schnabels Wunderliche Fata einiger See-Fahrer …,besser bekannt als Insel Felsenburg (1731–1743)ein Roman, der Mitte des 18. Jahrhunderts ungemein populär war, oder, rund 150 Jahre später, Edward Bellamys Looking Backward: 2000-1887 (1888), dessen Auflage in die Millionen ging und das in den USA zur Gründung zahlreicher Nationalist Clubs führte

Im 20. Jahrhundert wird es um die positive Utopie zwar stiller, es werden aber nach wie vor entsprechende Texte geschrieben. Vor allem bringt das 20. Jahrhundert neue Gattungs-Varianten hervor, allen voran die Dystopie, aber auch sogenannte critical utopias. Welche Rolle aber spielt das Leitmedium des Jahrhunderts, der Film, in diesem Zusammenhang?

An Beispielen für filmische Dystopien herrscht kein Mangel. Die Klassiker dieser Gattung wurden fast ausnahmslos verfilmt, und generell tendiert der SF-Film insgesamt stark zur Dystopie. Sei es Star Wars, Matrix oder Total Recall – dystopische Schreckensregime sind ein fester Bestandteil des Genres.

Was aber ist mit der positiven Utopie, der Eutopie, also der detaillierten Schilderung einer – zumindest vermeintlich – besseren Staatsordnung. Folgt man der aktuellen Forschung,[ref]Siehe zum Beispiel Zirnstein, Chloé: Zwischen Fakt und Fiktion. Die politische Utopie im Film. München 2006; Müller, André: Film und Utopie. Positionen des fiktionalen Films zwischen Gattungstraditionen und gesellschaftlichen Zukunftsdiskursen. Berlin 2010; Endter, Heike: Ökonomische Utopien und ihre visuelle Umsetzung in Science-Fiction-Filmen. Nürnberg 2011.[/ref] existieren positive Utopie im Film schlichtweg nicht. An diesem Punkt setzt mein Forschungsprojekt an: Meine Grundthese, die ich in späteren Einträgen sicher noch genauer ausführen werde, lautet, dass der Spielfilm ohnehin ungeeignet für Eutopien ist. Der Dokumentarfilm hingegen – insbesondere der Propagandafilm und verwandte Erscheinungen – scheint mir der Ort, an dem eutopische Entwürfe aller Art gedeihen können.

Wozu ein Blog?

In den kommenden Monaten werde ich viel zur Utopie und benachbarten Feldern lesen. Ich werde mir manchen seltsamen Film zu Gemüte führen und – hoffentlich – den einen oder anderen originellen Gedanken dazu entwickeln. Dieser Blog soll dabei als eine Art Notiz- und Sudelheft fungieren, als Ort, an dem ich erste Ideen skizzieren, interessante Fundstücke kommentieren und mit Menschen mit ähnlichen Interessen ins Gespräch kommen kann.

Schauen wir, was draus wird.