Die Zukunft mit der Maus – Walt Disneys EPCOT

Der Name «Walt Disney» ist für die meisten gleichbedeutend mit Animationsfilm. Weitgehend vergessen ist dagegen seine Rolle als futuristischer Visionär. Der folgende Artikel, der in der Ausgabe 5/2016 der Zeitschrift Vintage Times erschienen ist, ergänzt meine früheren Überlegungen zum Disney-Film Tomorrowland.

Seinen letzten Film drehte Walt Disney im Oktober 1966, knapp zwei Monate vor seinem Tod. Hauptdarsteller: er selbst. Thema: die Stadt der Zukunft. Für alle, die mit dem Namen Walt Disney primär familientaugliche Unterhaltung assoziieren, dürfte der knapp 25-minütige Promotionsfilm eine echte Überraschung darstellen. Denn was der Herr der Mäuse hier präsentiert, hat weder mit putzigen Nagern oder Prinzessinnen noch mit Themenparks zu tun. Zwar spricht Disney über sein neuestes und bislang grösstes Projekt Disney World, für einmal geht es aber nicht um Zauberschlösser, Achterbahnen und Merchandising. Herz der geplanten Anlage soll vielmehr eine technische Musterstadt der Zukunft sein. Eine «Experimental Prototype City of Tomorrow», kurz EPCOT.

Mit EPCOT wollte Disney einen Beitrag zu dem in seinen Augen drängendsten Problem der Gegenwart leisten, der Stadtplanung. In den 1960er Jahren litten Grossstädte wie New York oder Los Angeles unter Verkehr, Kriminalität und sozialen Unruhen, und Disney war überzeugt, dass er dazu berufen war, hier segensreich zu wirken. Schliesslich hatte er mit Disney Land schon einmal vorgemacht, wie man erfolgreich eine Idealstadt betreibt.

EPCOT-Modell

Das Herz von EPCOT im Modell.

Ein mittelmässiger Zeichner

So vermessen Disneys Anspruch erscheinen mag, im Grunde war EPCOT der logische Schlusspunkt vieler Projekte und Initiativen, die der umtriebige Studioboss im Laufe seines Lebens lanciert hatte. Schon früh war Disney nicht nur ein Animator. Tatsächlich war der 1901 geboren Trickfilmpionier ein eher mittelmässiger Zeichner, was in späten Jahren zu peinlichen Momenten führte, wenn er etwa auf Wunsch eines kleinen Fans seine berühmte Maus zu Papier bringen sollte und nur eine krakelige Karikatur zustande brachte. Disney war aber ein begnadeter Organisator, der es nicht nur verstand, Talente zu entdecken und an sich zu binden, sondern der auch bereit war, grosse unternehmerische Risiken einzugehen. Technische Neuerungen spielten dabei eine wesentliche Rolle. Disney sah nicht nur sehr früh, welche Möglichkeiten der Ton dem Animationsfilm eröffnete. Als die Firma Technicolor 1932 ihr neues Dreifarben-Verfahren präsentierte, war er davon derart begeistert, dass er den in der Produktion bereits weit fortgeschrittenen Kurzfilm «Flowersand Trees» komplett neu als Farbfilm konzipieren liess und einen über drei Jahre laufenden Exklusivvertrag mit Technicolor abschloss.

Seine Interessen beschränkten sich bald nicht nur auf die Filmbranche. Das 1955 im kalifornischen Anaheim eröffnete Disneyland gab eine erste Kostprobe davon, was Disney jenseits der Leinwand alles vorhatte. Mochten bei der Eröffnung auch gut die Hälfte der Attraktionen noch nicht funktionieren, so fungierten der Themenpark und das Disney-Fernsehprogramm gleichen Namens für Walt dennoch als eine Art Trainingscamp für die Zukunft. In den Fernsehsendungen, in denen der eigentlich kamerascheue Patron als Host auftrat, erklärte er mittels Zeichentrickeinschüben und mit fachkundiger Unterstützung von Experten wie dem deutschen Raketenpionier Wernher von Braun die Möglichkeiten und Risiken der Raumfahrt oder warb – in einer Episode mit dem neckischen Titel «Our Friend the Atom» – für die Nutzung der Atomenergie. Und das eigentliche Prunkstück von Disneyland war die Sektion Tomorrowland, welche die Welt im Jahre 1968 zeigte und in der man im TWA Moonliner einen Mondflug miterleben und im Autopia-Ride einen Vorgeschmack auf das im Entstehen begriffene Fernstrassennetz erhaschen konnte.

EPCOT-Stadtplan

Walt Disney vor einem Stadtplan von EPCOT.

«A Great Big Beautiful Tomorrow»

Disney sah in diesen Attraktionen mehr als reine Amüsements. Für ihn stand ausser Frage, dass Wissenschaft und Technik der Menschheit eine glänzende Zukunft bescheren würden. Wenig überraschend war er auch ein begeisterter Befürworter von Weltausstellungen, die traditionell als technische Leistungsschau konzipiert waren. Zur World’s Fair von 1964 in New York steuerten seine «Imagineers» nicht weniger als vier Attraktionen bei, von denen drei später ihre permanente Bleibe in einem der Disney-Themenparks finden sollten. Disneys persönlicher Favorit, von dem er nach eigener Aussage wünschte, dass er nie seinen Betrieb einstellen sollte, war das Carousel of Progress, in dem Roboter-Puppen als amerikanische Durchschnittsfamilie agierten und über mehrere Stationen hinweg den technischen Fortschritt zelebrierten. Schwärmt der Familienvater zu Beginn des Jahrhunderts noch von Gaslampen und einer handbetriebenen Wäschemangel, kommen später ein Radio, elektrisches Licht und schliesslich ein automatischer Geschirrspüler sowie ein Fernsehgerät hinzu. Unterlegt ist diese Erfolgsgeschichte von einem nervtötend fröhlichen Song der Oscar-gekrönten Sherman Brothers mit dem viel sagenden Titel «There’s a Great Big Beautiful Tomorrow».

Das Carousel of Progress, das heute in Walt Disney World noch immer in Betrieb ist, wurde mehreren Revisionen unterzogen. In der letzten, 1993 konzipierten Episode sieht man nun eine Familie im Jahr 2000 bei ihrer Weihnachtsfeier. Während der Hausherr mit dem auf Sprachkommandos reagierenden Ofen kämpft, versucht sich die Grossmutter am neuesten Virtual-Reality-Game. Obwohl man mit solchen Aktualisierungen auf der Höhe der Zeit bleiben will, wirkt die ganze Anlage auf eine unangenehme Weise altmodisch. Das liegt nicht an den Robotern, die eher einen retrofuturistischen Charme versprühen, sondern an der stockkonservativen Gesinnung, welche die gesamte Inszenierung durchdringt. Dass die Oma ihren Neffen im Computergame schlägt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Welt von Disney auch im 21. Jahrhundert noch die der weissen Mittelklasse ist, einer «All American Family», die es so wohl auch zu Walts Zeiten nicht gab und die mit der gesellschaftlichen Realität der Gegenwart definitiv nichts mehr zu tun hat.

Carousel of Progress

Der Hund darf in der “All American Family” des Carousel of Progress nicht fehlen.

Die Planstadt als Labor der Zukunft

Fortschritt bedeutete für Walt Disney nie gesellschaftliche Progressivität; vielmehr verschmelzen bei ihm technische Innovation und soziale Rückwärtsgewandtheit auf eigentümliche Weise. Dies zeigt sich auch in seiner Konzeption von EPCOT, das mehr werden sollte als ein blosser Themenpark. EPCOT war nicht als Jahrmarktsattraktion gedacht, sondern als echte Stadt, in der 20’000 Menschen wohnen und arbeiten und auf diese Weise die Zukunft quasi vorleben sollten. Mit Unterstützung der gesamten amerikanischen Industrie wollte Disney ein lebendiges Stadtlaboratorium mit Wohn-, Arbeits- und Konsumbezirken, unterirdischen Highways und einem ausgeklügelten öffentlichen Verkehrssystem aus dem Boden stampfen.

Frappant an dem Projekt ist nicht nur der unbedingte Glaube an technische Lösungen, sondern auch die völlige Absenz von Politik. Stadtplanung ist in EPCOT ausschliesslich eine Aufgabe für Ingenieure; soziale Probleme werden, soweit sie überhaupt registriert werden, auf technische Probleme reduziert. Klassenunterschiede, gesellschaftliche Entwicklungen oder Fragen der politischen Organisation sind für diese Stadt der Zukunft nicht weiter relevant.

EPCOT war von Walt Disney als sein Vermächtnis gedacht, als Geschenk an die Menschheit, dem er sich am Ende seines Lebens voll und ganz widmete. Selbst als er sich einen Monat vor seinem Tod einer schweren Lungenoperation unterzog, werkelte er noch im Spitalbett an seiner Vision. Ohne die Begeisterung ihres geistigen Vaters wurden die Ambitionen für die Zukunftsstadt dann aber schnell zurückgefahren. Als Walts Bruder Roy Walt Disney World 1971 eröffnete, war von EPCOT nichts zu sehen. 1982 wurde schliesslich doch noch ein Vergnügungspark namens EPCOT auf dem Gelände von Walt Disney World in Betrieb genommen. Im EPCOT von heute geht es auch irgendwie um Wissenschaft und Technik, von der ursprünglichen Idee einer funktionierenden Zukunftsstadt ist aber nichts übrig geblieben.

Dinge, die am Radio kommen

Als Nachschlag zur Berliner Things-to-Come-Tagung, von der hier schon die Rede war, zwei Radiobeiträge des Deutschlandfunks

Zuerst ein Beitrag aus der Sendung Corso; Sigrid Fischer spricht mit mir über Science Fiction im Allgemeinen sowie über Tomorrowland – das Thema meines Vortrags – im Besonderen.

 

Tomorrowland

Tomorrowland: In der Ferne leuchtet die verheissungsvolle Zukunft.

Ausserdem noch eine Sendung, in der verschiedener Redner der Tagung zu Wort kommen (und in der man mich zum Kulturwissenschaftler ernannt hat).

Tomorrowland zum Zweiten

Wie immer gilt ein genereller Spoilervorbehalt.[ref]Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie leidet, sollte die Einträge zu aktuellen Filmen somit besser meiden.[/ref]

Nachtrag zu meinem letzten Eintrag zu Tomorrowland: Dass der Film eine Utopie frei von Politik entwirft, habe ich ja bereits dargelegt. Der Fokus liegt ganz auf der individuellen Kreativität; wenn sich alle Genies austoben dürften, können sie die Welt flicken. – Tatsächlich ist dieser Begriff zentral für den Film. Protagonistin Casey fragt in in einer zentralen Sequenz, in der vorgeführt wird, wie sie und ihre Altersgenossen in der Schule nur mit negativen Szenarien zugeschüttet werden, entnervt: «How do we fix it.»

Obwohl «to fix» auch anders übersetzt werden kann, legt Brad Birds Film immer wieder nahe, dass die Frage einer guten Zukunft letztlich technischer Natur ist. Es herrscht eine Ingenieurslogik vor, die besagt, dass die drängenden Probleme der Gegenwart von schlauen Tüftlern wie Frank und Casey gelöst werden könnten. Diese Einschätzung ist natürlich kreuzfalsch. Eigentlich ist kaum eines der grossen Probleme der Gegenwart – Hunger, Klimaerwärmung, Armut etc. – primär technischer Natur. Der Klimawandel wird natürlich durch fossile Brennstoffe etc. hervorgerufen, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, bräuchte es aber keine bahnbrechenden Technologien, sondern in erster Linie eine sinnvollere Nutzung der bestehenden.

Das Maximum an Futurismus? – Der junge Frank mit seinem selbst gebastelten Raketenrucksack.

Das Maximum an Futurismus? – Der junge Frank mit seinem selbst gebastelten Raketenrucksack.

Technische Weiterentwicklungen würden sicher nicht schaden, aber solange der neue Supermotor oder das Wunderkraftwerk nicht günstiger ist als bestehende Technologien, werden sie nicht viel verändern. So prosaisch und langweilig das auch klingen mag, am Ende läuft vieles auf wirtschaftliche Überlegungen hinaus. Auch die Tatsache, dass viele Menschen nicht genug zu essen kriegen, liesse sich mit einer Wundererfindung kaum lösen. Respektive: Selbst wenn diese Wundererfindung – Superdünger, Essen, das sich selbst regeneriert, etc. – existierte, hätten die Hungernden sehr wahrscheinlich dennoch nichts davon, weil sie sie sich nicht leisten könnten. Genug zu essen auf der Erde gäbe es ohnehin schon heute; das Problem ist – und das gilt letztlich für fast alle Bereiche – die Verteilung. Die Ursachen für das Elend der Welt sind politischer resp. wirtschaftlicher Natur; solange es wirtschaftlich attraktiv ist, dass Menschen hungern, Regenwälder abgeholzt und Kohlekraftwerke gebaut werden, werden diese Dinge auch weiterhin geschehen. Technische Neurungen werden daran wenig ändern.[ref]Allenfalls die Energieversorgung ist ein technisches Problem, wobei – analog zur Klimaerwärmung – bereits heute zahlreiche Möglichkeiten bestünden, den Verbrauch zu senken. Dass dies nicht geschieht hat – einmal mehr – primär politisch-wirtschaftliche Gründe.[/ref]

Wirklich frappant ist aber, dass Tomorrowland für einen Film, der Freude für die Welt von morgen wecken soll, erstaunlich wenig futuristische Elemente enthält. Frank hat in seinem Anwesen einige lustige Gadgets untergebracht, Tomorrowland selbst verharrt dagegen weitgehend in einem überholten 1960er-Futurismusm, wo Raketenrucksack und Einschienenbahn das Höchste der Gefühle darstellen. Was Tomorrowland feiert, ist denn auch gar nicht die Zukunft, sondern die Erinnerung an eine längst vergangene Zukunft.

Dass die Verbindung von fehlenden Optimismus und dem Niedergang der NASA, die in Tomorrowland nahe gelegt wird, unsinnig ist, habe ich bereits ausgeführt. Matt Novak argumentiert auf dem Paleofuture-Blog ähnlich:

In fact, most people of the 1960s thought space travel was a waste of time and money. Baby Boomers who were kids in the 1960s remember support for the space program as universal because they were kids at the time. And they weren’t polling 10 year olds about the space program in 1964.

Novaks Beobachtung scheint mir korrekt. Der Weltraum-Zukunftsoptimismus von Tomorrowland ist ein zutiefst kindlicher. Was der Film zelebriert, ist gar nicht der Blick nach vorne, sondern die wehmütige Rückschau. Es geht in Birds Film nicht um Zukunftsoptimismus, sondern um Nostalgie.

Das traditionelle Disney-Logo …

Das traditionelle Disney-Logo …

… und die neue Version von <em class="Film">Tomorrowland</em>.

… und die neue Version von Tomorrowland.

Nun ist es ja nicht weiter erstaunlich, dass ein Disney-Film auf Nostalgie setzt. Das feierliche Inszenieren einer niedlichen Vergangenheit, die niemals war, ist gewissermassen die Kernkompetenz des Mäuse-Konzerns. All die Märchenschlösser, Feen, Kutschen und süssen Zwergenhüttchen, aber auch die Einfamilienhäuschen in Suburbia mit weissem Lattenzaun und rotem Briefkasten, die wir mit Disney assoziieren, sind hoch artifiziell; Imaginationen einer besseren Zeit, die es nie gab. Dass früher oder später auch das, was einmal die Zukunft war, mit diesem Nostalgie-Zuckerguss überzogen wird, kann nicht erstaunen. Dass man sich bei Disney dieser Entwicklung sehr bewusst ist, zeigt sich an Details wie dem Disney-Logo zu Beginn des Films: Statt der traditionellen Magic-Kingdom-Silhouette setzt man auf eine Tomorrowland-Skyline, die mit dem traditionellen Look wunderbar harmoniert.

Nostalgie ist der SF keineswegs fremd. In meiner Dissertation habe ich vielmehr argumentiert, dass das, was in Fankreisen oft als Sense of Wonder bezeichnet wird, jenes erhabene Gefühl des Ergriffenseins, das SF im besten Fall auslösen kann, ein durch und durch nostalgisches Phänomen ist. Im Schlusskapitel habe ich dazu Folgendes geschrieben:

Der Sense of Wonder ist keine Empfindung, die alleine der SF vorbehalten wäre, wahrscheinlich steht er als Grunderfahrung am Beginn jeglicher Liebe zur Kunst – vielleicht sogar der Liebe überhaupt. Und wahrscheinlich erwächst aus ihm ebenso romantisierende Nostalgie wie jene bornierte Rückwärtsgewandtheit, die überzeugt ist, dass früher grundsätzlich alles besser war. Wenn dem so ist und wenn die SF, wie ich in dieser Studie versucht habe darzulegen, dank ihres Wesens und Funktionierens besonders dazu geeignet ist, den Sense of Wonder zu erzeugen, dann scheint SF kein Modus des visionären Vorwärtsschauens zu sein, sondern vielmehr des wehmütigen Blicks zurück, zurück in jene Zeit, als die Zukunft noch jung war und alles möglich schien (Die Konstitution des Wunderbaren333 f.).

Auf die Gefahr hin, mich selbst zu loben: Als Beschreibung dessen, was in Tomorrowland geschieht, scheint mir das überaus treffend. Der Film selbst liegt diesen Schluss übrigens selbst nahe: Nicht umsonst spielt eine wichtige Szene des Films in einem SF-Fanshop, der Blast from the Past heisst (betrieben wird er übrigens von einem Hugo Gernsback  …).

Angefüllt mit SF-Nostalgie: Blast from the Past.

Angefüllt mit SF-Nostalgie: Blast from the Past.

Die Verbindung von SF und Nostalgie ist somit durchaus nicht ungewöhnlich, wie aber verhält es sich mit der Utopie? Dass zumindest die Dystopie oft die heile Vergangenheit der Gegenwart gegenüberstellt, habe ich schon mehrfach argumentiert. Ganz knapp zusammengefasst meine Überlegung: Die Dystopie nimmt negative Tendenzen der Gegenwart und projiziert sie in riesenhaft überhöht in die Zukunft. Die Botschaft: Noch besteht die Möglichkeit, den Niedergang aufzuhalten, wir müssen bloss zurück zu … Die meiste Dystopien haben zumindest implizit eine nostalgische Schlagseite. [ref]Siehe dazu: «Bilder einer besseren Welt. Über das ambivalente Verhältnis von Utopie und Dystopie». In: Mamczak, Sascha/Jeschke, Wolfgang (Hgg.): Das Science Fiction Jahr 2008. München 2008, 58–82. [PDF]; «Schöne Aussichten oder: Warum die Zukunft auf jeden Fall schrecklich sein wird». In: Cinema, Nr. 53, 2007, 133–140. [PDF][/ref]

Was das Verhältnis von Utopie und Nostalgie betrifft, bin ich mir noch unsicher. Ich muss mir dazu wohl noch ein paar Gedanken machen,  spontan scheinen mir aber die meisten Utopien dezidiert unnostalgisch. Der Reiz der klassischen Utopie liegt gerade in der Tabula rasa: Reinen Tisch machen und alles neu entwerfen. Nostalgie steht dieser Haltung diametral entgegen. Das müsste man aber noch im Detail untersuchen; insbesondere im Zusammenhang mit neueren Utopien des 20. und 21. Jahrhunderts, die nicht den totalen – und totalitären – Anspruch der klassischen Entwürfe haben. Auch die Geschichte von Tomorrowland – dem Disney-Themenpark – und die Rolle von Walt Disney müsste man in diesem Zusammenhang genauer anschauen. Dass Disney nicht nur eine konservative, sondern auch eine sehr progressive Seite hatte, dass er seine Themenparks durchaus als utopische Projekte verstand, habe ich schon mehrfach gelesen. Systematisch damit beschäftigt habe ich mich aber noch nicht. Mal schauen, ob ich irgendwann dazu komme …

Update: Der neue Artikel von Charlie Jane Anders auf io9.com bringt einige Aspekte, die ich angesprochen hat, auf den Punkt. Zum Beispiel dieses schöne Zitat: «Nostalgia is closer to being optimism’s enemy than its friend. Nostalgia is a fundamentally regressive, non-constructive sentiment.»

Tomorrowland

Wie immer gilt ein genereller Spoilervorbehalt.[ref]Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie leidet, sollte die Einträge zu aktuellen Filmen somit besser meiden.[/ref]

In William Gibsons mittlerweile klassischer Kurzgeschichte The Gernsback Continuum[ref]Die Erzählung erschien erstmals 1981 und war später u.a. im Gibsons Kurzgeschichtensammlung Burning Chrome sowie in der von Bruce Sterling herausgegebenen Cyberpunk-Anthologie Mirrorshades enthalten. Eine deutsche Übersetzung ist gratis auf diezukunft.de zu finden.[/ref] erhält ein Fotograf den Auftrag, die Überbleibsel futuristischer US-Architektur der 1930er- und 1940er-Jahre zu fotografieren, einen Stil, den Gibson als Raygun Gothic bezeichnet – Art-Déco- und Streamline-Moderne-Bauten mit Kurven, Chromstahl und knalligen Farben. Gebäude, die direkt aus den zeitgleich erschienen SF-Magazinen oder Filmen wie Metropolis und Things to Come zu stammen scheinen und damals von einer nicht allzu fernen Zukunft kündeten, die aber nie eintreffen sollte; «a kind of alternate America, 1980 that never was».

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Die Zukunft, die nie war. Ein Beispiel für Gibsons Raygun Gothic.

Der Ich-Erzähler lässt sich so sehr auf seinen Auftrag ein, dass er zu halluzinieren beginnt. Er sieht auf einmal «semiotic ghosts»; gegen seinen Willen spinnt er diese vergangenen Visionen der Zukunft weiter und imaginiert schliesslich eine ganze Hightech-Metropole, komplett mit ihren Bewohnern. «They were white, blond, and they probably had blue eyes. […] their bright eyes shining with enthusiasm for their floodlit avenues and silver cars. It had all the sinister fruitiness of Hitler Youth propaganda.»

Gibsons Erzählung ist eine beissende Polemik gegen die frühe Pulp-SF, deren naivem Technikoptimismus eine quasi-faschistische Ideologie unterstellt wird. Entsprechend ist der Protagonist am Ende froh, in der mehr oder weniger dystopischen Gegenwart und nicht der einst imaginierten blitzblanken – scheinbar perfekten – Zukunft zu leben.

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Noch mehr vergangener Futurismus.

Man kann sich darüber streiten, inwieweit Gibsons Diagnose fair ist, ob Hugo Gernsback und Co. tatsächlich verhinderte Wegbereiter einer Welt properer Nazi-Jünglinge waren. Auf jeden Fall ist es faszinierend zu sehen, wie skeptisch der wohl wichtigste SF-Autor der 1980er-Jahre seinem eigenen Genre gegenüberstand. The Gernsback Continuum ist eine grosse Absage an die einstigen Verheissungen der SF.

In meinem letzten Blogeintrag ging ich auf die derzeit oft gehörte Klage ein, dass es uns heute an positiven Zukunftsentwürfen mangle. Tomorrowland von Brad Bird,[ref]Weil «Tomorrowland» in diversen europäischen Ländern eine geschützter Markenname ist, wird der Film hier unter dem Titel A World Beyond vertrieben.[/ref] dessen bisherige Filme mich alle mehr oder weniger stark begeistert haben,[ref]Für Rezensionen zu The Incredibles, Ratatouille sowie Mission: Impossible – Ghost Protocol siehe hier, hier und hier.[/ref] erscheint wie eine direkte Antwort auf die Frage, ob wir uns derzeit nur noch Dystopien vorstellen können. Wie Gibson fragt auch Bird danach, was aus dem Enthusiasmus von einst geworden ist, allerdings kommt er zu einem völlig anderen Schluss. Tomorrowland ist quasi die optimistische Gegenposition zu The Gernsback Continuum.

Der Film erzählt von einer Welt – das titelgebende Tomorrowland, von dem nie ganz klar wird, ob es in der Zukunft, im All oder in einer Parallelwelt liegt –, in der die kreativen Genies dieser Welt ungehindert ihre Träume realisieren dürfen. Doch wie es bei Märchenländern üblich ist, ist auch diese Welt verwunschen und nur Auserwählten zugänglich. Diese Rolle kommt der jungen Casey (Britt Robertson) zu, einem aufgeweckten Teenager, der nicht begreifen will, warum alle Welt die Zukunft ausschliesslich in düsteren Farben sieht. Casey will sich nicht durch fiktionale und reale Dystopien deprimieren lassen, sie interessiert vielmehr, wie trotz allem eine bessere Zukunft realisiert werden kann.

Disney's TOMORROWLAND Tomorrowland Ph: Film Frame ©Disney 2015

Brad Birds Vision einer besseren Zukunft.

Tomorrowland ist ein unverhohlenes Plädoyer für Zukunftsoptimus für – obwohl der Begriff, soweit ich mich erinnere, nie fällt – positive Utopien. Grundsätzlich ein sympathisches Unterfangen, das leider überhaupt nicht funktioniert. Bird hat einen seltsam verkorksten Film abgeliefert, der auf so ziemlich allen denkbaren Ebenen Probleme hat. Was freilich nicht heisst, dass er gänzlich belanglos wäre. Vielmehr fällt Tomorrowland wie der hier bereits diskutierte Things to Come in die Kategorie ›hoch interessanter Murks‹.

Da wäre mal die Ebene der Erzählung: Natürlich weiss auch Bird, dass eine glückliche Welt keinen Stoff für einen Spielfilm abgibt, weshalb er eine Geschichte bastelt, die zwar extrem simpel ist – Prinzessin Casey und Zauberer Frank (George Clooney) vertreiben die böse Hexe resp. den bösen Nix (Hugh Laurie) aus dem Märchenland –, die aber ungeheuer umständlich dargeboten wird. Bis der Film halbwegs in die Gänge kommt, dauert es gut eine halbe Stunde. Von da an wird das Geschehen dann immer actionlastiger, was der Botschaft des Erzählten eigentlich diametral zuwider läuft. Respektive gibt der Film selbst hier eine Antwort darauf, warum Dystopien so populär sind: Krieg und Zerstörung sind nun mal spannender anzuschauen als Harmonie.

Wirklich bedenklich wird es aber, wenn man die Argumentation des Films genauer unter die Lupe nimmt. Wie Interstellar verknüpft auch Tomorrowland den schwindenden Zukunftsoptimismus mit dem Niedergang des US-Raumfahrtprogramms. In den 1950ern und 1960ern, als die USA zum Mond wollten, sah man noch hoffnungsvoll nach vorne, nun aber, da die Last Frontier für immer verschlossen scheint, macht sich Verzweiflung breit (die beiden Filme weisen übrigens noch weitere Parallelen auf: In beiden Fällen haben wir es mit einem frustrierten ehemaligen NASA-Mitarbeiter und alleinerziehenden Vater sowie dessen aufgeweckter Tochter zu tun. Mütter sind der Zukunft wohl generell nicht wohlgesonnen und fehlen deshalb jeweils).

Disney's TOMORROWLAND Casey (Britt Robertson) Ph: Film Frame ©Disney 2015

Da bleibt Casey nur das Staunen.

Warum Raumfahrt und Zukunftsoptimismus irgendwie voneinander abhängen sollen, ist mir zwar nicht ersichtlich, man kann das aber immerhin als Generationen-Phänomen erklären. Für alle, die die besagte Zeit erlebt haben, dürften die beiden Dinge emotional wohl ganz direkt miteinander verbunden sein. Weitaus problematischer ist da die völlige Absenz von Politik in dieser Vision einer besseren Welt. Für Bird scheint eine Utopie allein eine Frage technischer Machbarkeit zu sein. Es ist nicht einmal so, dass sich der Film nicht für Politik interessieren würde, er lehnt sie vielmehr erklärtermassen ab. Tomorrowland ist der Ort, an dem sich Genies austoben dürfen; ungehindert von kleinen Geistern, Bürokratie und – ganz explizit – Politik.

Diese Konzeption einer Utopie – wenn man ein politikfreies Gebilde überhaupt so nennen kann – ist in mehrfacher Hinsicht absurd. Denn egal, wo man selber politisch steht, die Organisation einer Gesellschaft ist immer eine politische Frage. Technischer Fortschritt ist nicht etwas, was sich ausserhalb der Gesellschaft vollzieht, sondern wird offensichtlich in hohem Masse durch politisch-gesellschaftliche Rahmenbedingen beeinflusst. Das stimmt auch und gerade für die Raumfahrt, die Bird so wichtig ist. Nicht nur wäre es ohne den Kalten Krieg wohl nie zum Apollo-Programm gekommen, wenn es ein Beispiel für ein – erfolgreiches – staatlich initiiertes und finanziertes technisches Mammutprojekt gibt, dann ist es zweifellos die Mondlandung. Ohne die viel gescholtenen Politiker und Bürokraten hätte kaum bereits 1969 ein Mensch den Mond betreten.

Die Argumentation des Films ist somit in hohem Masse widersprüchlich. Ist das nur naiv oder doch schon Schlimmeres? Manche Kritiker sehen in dem Film den Widerhall von Ayn Rands Ideologie, die besagt, dass herausragende Individuen nicht durch die dumpfe Masse behindert werden dürfen.[ref]Siehe etwa den Artikel von Charlie Jane Anders auf io9.com.[/ref] Dies ist exakt, was in Tomorrowland geschieht: Hier dürfen sich einige Auserwählte verwirklichen, ohne auf den Pöbel Rücksicht nehmen zu müssen. Demokratie, Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit, das ist etwas für kleine Geister. Gibsons arische Übermenschen scheinen in der Tat nicht allzu fern.

NB: Wie bereits Pirates of the Caribbean ist auch Tomorrowland die Verfilmung einer Disney-Themenpark-Attraktion. Anders als Fredric Jameson meint, scheinen sich erzkapitalistische Gesinnung und Utopie also durchaus nicht auszuschliessen …