Neue Rezension von «Utopias in Nonfiction Film»

Der Filmwissenschaftler Florian Mundhenke, dessen Studie Zwischen Dokumentar- und Spielfilm für mich eine wichtige Referenz darstellt, hat Utopias in Nonfiction Film für das geisteswissenschaftliche Portal H-Soz-Kult besprochen. Mundhenke ist für dieses Thema ein schon fast idealer Rezensent, da er sich nicht nur intensiv mit hybriden Formen zwischen Fiktion und Nichtfiktion (s. den erwähnten Buchtitel), sondern auch mit Science Fiction und verwandten Formen beschäftigt. Seine Rezension zeugt denn auch von seiner Kompetenz. Zwar bringt er sehr wohl einige Kritikpunkte an, insgesamt fällt das Fazit aber eindeutig positiv aus:

Die Hinführung zum Thema im dichten theoretischen Teil ist vorbildlich gestaltet. […] Das Buch kann allen an der Utopie Interessierten unbedingt empfohlen werden. Die sehr gut lesbare, überaus gelungene englische Übersetzung ermöglicht es den Studien des Autors hoffentlich, auch international anschlussfähig zu werden.

Hier noch der obligate Hinweis, dass die deutsche Version Bilder einer besseren Welt gratis als Open Access verfügbar ist.

Zur vollständigen Rezension.

Mundhenke, Florian: Zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Zur Repräsentation und Rezeption von Hybrid-Formen. Wiesbaden: Springer VS 2017.

Rezension von «Niegeschichte»

Dietmar Dath ist ohne Zweifel einer der produktivsten Science-Fiction-Autoren deutscher Sprache. Oder wohl eher: einer der produktivsten deutschsprachigen Schriftsteller überhaupt. Denn Dath schreibt nicht nur mit einer beeindruckend hohen Kadenz SF-Romane, daneben veröffentlicht er auch noch Bücher über Marx, Hegel, Fernsehserien, rezensiert Filme und Romane und noch diverse andere Dinge.

So sehr mich Daths unerhörte Produktivität beeindruckt – mit dem, was er schreibt, werde ich selten wirklich warm. Ich lese immer mal wieder Rezensionen von Dath, habe mir auch schon verschiedene seiner Sachtexte sowie einen Roman – Venus siegt von 2015 – zu Gemüte geführt, nichts davon hat mich aber restlos überzeugt. Das Problem ist dabei stets dasselbe: Dath weiss unglaublich viel, wartet auch immer wieder mit originellen Gedanken auf, serviert das Ganze aber leider in einem Stil, der mich meine mittlerweile leider etwas spärlichen Haare raufen lässt. Für mich ist die Dath’sche Schreibe der Inbegriff von schwurbeligem Stil.

Als vor zwei Jahren NiegeschichteDaths Opus magnum zu Theorie und Geschichte SF, erschien, war ich entsprechend skeptisch. Zwar stand für mich fest, dass Dath viel Interessantes zu sagen hätte, aber dass ich nun ausgerechnet in diesem Fall zum Freund seiner Prosa werden sollte, schien mir doch eher unwahrscheinlich. Zumal ich ohnehin der Überzeugung bin, dass bei theoretischen Grundlagewerken, deren Umfang 500 Seiten deutlich überschreitet, in jedem Fall etwas schief gegangen ist. Deshalb verzichtete ich vorerst auch darauf, Niegeschichte zu lesen, geschweige denn zu rezensieren.

Doch dann meldete sich Wolfgang Neuhaus bei mir und fragte mich, ob ich nicht doch Lust hätte, etwas über Daths Wälzer für das Science Fiction Jahr zu schreiben. Wobei er ausdrücklich keine Rezension im Sinne hatte, sondern eine eingehendere Diskussion von Daths Ansatz. Und obwohl eigentlich ich nicht recht Lust dazu hatte, liess ich mich dann doch überreden.

Das Ergebnis, ein recht ausführliches review essay, ist nun erschienen und auch bereits online verfügbar. Um es gleich vorweg zu nehmen: Obwohl ich mich ehrlich bemüht habe, Niegeschichte mit möglichst offenem Geist zu begegnen, blieben auch dieses Mal die Momente nicht aus, in denen ich angesichts himmelschreiend überladener, letztlich aber völlig nichtssagender Formulierungen kurz vor dem Verzweifeln stand.

Die Abneigung scheint übrigens auf Gegenseitigkeit zu berühen. Wie Dath in seinem Büchlein Stehsatz gesteht, verfolgt er sehr genau, was im Netz etwas über ihn geschrieben wird. So ist er auch auf einen Post von mir im sf-netzwerk gestossen, in dem ich meinem Ärger über Niegeschichte freien Laufe lasse. Nun ja, immerhin bin ich nun als exemplarischer Ignorant im Dath’schen Œuvre verewigt:

Zu meiner Rezension

Spiegel, Simon: »Wenn Theorie zu Science Fiction wird. Zu Dietmar Daths Niegeschichte.“. In: Wylutzki, Melanie/Kettlitz, Hardy (Hg.): Das Science Fiction Jahr 2021. Berlin 2021, 331–347 Tübingen: Narr Francke Attempto 2021«. [PDF]

Zu »Dune« – im Allgemeinen wie im Speziellen

Die lange erwartete, mehrfach verschobene Verfilmung von Frank Herberts Science-Fiction-Epos Dune durch Denis Villeneuve hat nun endlich die Kinos erreicht. Für die Republik habe ich in einem längeren Artikel die Geschichte der bisherigen – alle mehr oder weniger gescheiterten – Dune-Verfilmungen aufgearbeitet und mir natürlich auch Villeneuves Version angeschaut.

Den Artikel gibt es hier.

 

Josh Brolin und Timothée Chalamet

Josh Brolin und Timothée Chalamet

Rezension von »Absent Rebels«

Über kaum etwas schreibt das Feuilleton so gerne wie über das Verschwinden der Utopie bzw. das Überhandnehmen der Utopie. Dass dieses Lamento in meinen Augen nur bedingt berechtigt ist, da die Zukunft in der Science Fiction zu keinem Zeitpunkt ausschliesslich positiv war, habe ich schon verschiedentlich geschrieben.[ref]Unter anderem in diesem Beitrag.[/ref]

Cover »Absent Rebels«Zweifellos korrekt ist aber, dass sich dystopische Stoffe seit geraumer Zeit grosser Beliebtheit erfreuen. Und ebenso richtig ist, dass die Dystopie dazu tendiert, die stets gleichen Elemente zu verwenden. Letzteres ist an sich nicht ungewöhnlich, es gehört vielmehr zum Wesen eines Genres, dass es mit einem Grundstock von Motiven und Plot-Versatzstücken arbeitet und diese jeweils auf mehr oder weniger neue Weise kombiniert.[ref]Siehe dazu auch diesen und diesen Post.[/ref] Nun versteht sich die Dystopie aber dezidiert als kritisches Genre, das negative Entwicklungen dramatisch übersteigert und die Leserinnen und Zuschauer auf diese Weise aufrütteln will. Ist das bei einem Genre, das, etwas überspitzt ausgedrückt, seit Huxley und Orwell bloss die immer gleichen Motive rezykliert und heute zudem in der Form von Mega-Franchises wie die Hunger-Games-Reihe oder Serien wie The Handmaid’s Tale erscheint, aber überhaupt noch möglich? Oder anders formuliert: Ist es nicht Zeichen eines grossen Missverständnisses, wenn, wie oft kolportiert, nach der Wahl Donald Trumps Nineteen Eighty-Four plötzlich wieder in den Bestseller-Listen auftaucht? Denn was kann uns ein mehr als ein halbes Jahrhundert altes Buch, das vor einem gänzlich anderen politischen und kulturellen Hintergrund entstanden ist, wirklich über die Gegenwart sagen?

Annika Gonnermann geht in Absent Rebels, das auf ihrer Dissertation in Anglistik an der Universität Mannheim basiert, von der These aus, dass ein Grossteil der dystopischen Literatur – und damit auch der Utopieforschung – irgendwo tief im 20. Jahrhundert stecken geblieben ist. Der Feind, den es zu bezwingen gilt, ist in den meisten Romanen und Filmen immer noch der (totalitäre) Staat ist, der durch einen politischen Umsturz besiegt werden kann. Dies entspräche aber längst nicht mehr der Realität; die eigentliche Bedrohung geht heute, so Gonnermann, nicht vom Staat, sondern von einem ungebremsten kapitalistischen Wirtschaftssystem aus. Folglich kann die Lösung auch nicht in einer Rebellion gegen das herrschende politische System liegen.

Mit dieser Prämisse rennt Gonnermann bei mir offene Türen ein. Ich konnte es bisher zwar nicht so präzise wie sie benennen, aber ich teile ihr Unbehagen über den Zustand der Dystopie weitgehend. Entsprechend habe ich mich gefreut, dass ich das Buch für die Zeitschrift rezensieren konnte.

Wie ich in meiner Besprechung ausführe, kann Gonnermann ihre These überzeugend belegen. Meine Hauptkritik ist, dass Absent Rebels für meinen Geschmack zu literaturlastig ist und Bewegtbilder völlig ignoriert. Das sagt allerdings vor allem etwas über meine Interessen aus und schmälert Gonnermanns Verdienst in keiner Weise.

Die vollständige Rezension gibt es hier.

The Handmaid's Tale

Wie kritisch kann die Dystopie heute noch sein?

Spiegel, Simon: »Rezension von Gonnermann, Annika: Absent Rebels. Criticism and Network Power in 21st Century Dystopian Fiction. Tübingen: Narr Francke Attempto 2021«. In: Zeitschrift für Fantastikforschung 9.1, 1–6. Doi: 10.16995/zff.5691.

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Erste Rezension von «Utopia and Reality»

Cover «Utopia and Reality»Der Science-Fiction-Schriftsteller, Podcaster und Blogger David Agranoff ist nach eigenen Angaben eher zufällig über unseren Sammelband Utopia and Reality gestolpert. Oder vielmehr: Er hatte eigentlich ein ganz anderes Buch erwartet. Umso mehr freut es mich, dass er Gefallen an dem Band gefunden und sich sogar die Zeit genommen hat, diesen sehr freundlich zu besprechen.

I admit if I had not misunderstood what this book was about, I probably would not have read it, but this thoughtful well-researched anthology about Utopian films was very good. Happy mistake as it were.

Die ganze Rezension findet sich auf Davids Blog.

Erschienen: Rezension von Matthias Uhlmanns «Die Filmzensur im Kanton Zürich».

Auf H-Soz-Kult ist soeben meine Rezension von Matthias Uhlmanns gewichtiger filmhistorischer Dissertation Die Filmzensur im Kanton Zürich. Geschichte, Praxis, Entscheide erschienen.

Zur vollständigen Rezension.

Uhlmann, Matthias: Die Filmzensur im Kanton Zürich. Geschichte, Praxis, Entscheide. Zürich: Verlag Legissima 2019.

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Neue Rezension auf «Medienimpulse»

Michael Burger hat Bilder einer besseren Welt für Medienimpulse rezensiert und kommt in seiner ausführlichen Besprechung zu einem überaus freundlichen Fazit:

Abschließend bleibt zu sagen, dass Spiegel mit seiner gut 400 Seiten umfassenden Habilitation eine bemerkenswerte Studie vorlegt, deren unkonventioneller Ansatz und Forschungsschwerpunkt gänzlich neue Perspektiven sowohl für die Filmwissenschaft als auch für die Utopieforschung eröffnet. Durch den Fokus auf den nichtfiktionalen Film und seine Bezugspunkte zu utopischen Konzepten hat der Autor auf ein großes Feld noch unbearbeiteter Forschungsfragen aufmerksam gemacht. Seine Studie stellt letztlich eindrucksvoll unter Beweis, wie erkenntniserweiternd diese Engführung sein kann. Insofern hat Bilder einer besseren Welt sehr wohl Pioniercharakter.

Zur vollständigen Rezension.

Sammelrezension zu «2001: A Space Odyssey»

Die Zeitschrift für Fantastikforschung (ZFF),zu deren Herausgebern ich gehöre, ist das offizielle Organ der Gesellschaft für Fantastikforschung und die einzige deutschsprachige wissenschaftlich Zeitschrift, die sich medienübergreifend mit allen Formen »nicht-realistischer« Erzählweisen und -welten beschäftigt.

Nach einer längeren – zu langen Funkstille – erscheint die ZFF neu als Online-OpenAccess-Publikation auf der Plattform der Open Library of the Humanities, die von einem internationalen Verbund von Bibliotheken finanziert wird.

Der Umstieg war mit einigen Hürden verbunden. Mittlerweile haben wir diese alle überwunden, doch eine Folge der diversen Haken und Ösen, mit denen wir uns rumplagen mussten, ist, dass die erste »neue« Ausgabe nicht auf einen Schlag erscheint, sondern dass wir die Artikel fortlaufend veröffentlichen.

Heute ist nun eine längere Rezension von mir erschienen, in denen ich vier neu erschienen Bücher bespreche, die sich mit Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey beschäftigen, der letztes Jahr seinen 50. Geburtstag feierte.

Konkret bespreche ich die folgenden Titel:

Michael Benson: Space Odyssey: Stanley Kubrick, Arthur C. Clarke, and the Making of a Masterpiece. Simon & Schuster: New York, 2018.

James Fenwick (Hg.): Understanding Kubrick’s 2001: A Space Odyssey. Representation and Interpretation. Intellect: Oxford, 2018.

Joe R. Frinzi: Kubrick’s Monolith. The Art and Mystery of 2001: A Odyssey. McFarland & Co.: Jefferson, 2017.

Nils Daniel Peiler: 201×2001. Fragen und Antworten mit allem Wissenswerten zu Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey. Schüren: Marburg, 2018.

Die Rezension ist hier online verfügbar.

Cover der Publikationen

Fremder Klassiker: Zu Darko Suvins «Metamorphoses of Science Fiction»

Erschienen in der Zeitschrift für Fantastikforschung 2/2016.

Mit wissenschaftlichen Klassikern hat es eine ganz eigene Bewandtnis; Klassiker, das sind auch im akademischen Geschäft nicht selten jene Titel, auf die sich zwar alle beziehen, die aber kaum jemand wirklich gelesen hat, deren Kenntnis sich meist auf einige wenige immer wieder zitierte Passagen beschränkt. In dieser Hinsicht – aber nicht nur in dieser – ist Darko Suvins Metamorphoses of Science Fiction (MoSF) ein ganz großer Klassiker. Die von Suvin eingeführten Begriffe Novum und kognitive Verfremdung gehören unbestritten zum Kernbestand des kritischen Vokabulars in der SF-Forschung und die entsprechenden Abschnitte werden auch mit schöner Regelmäßigkeit zitiert. Wer sich kritisch zum Urvater der SF-Forschung positionieren möchte, führt zudem gerne noch einen seiner berüchtigten Ausfälle gegen minderwertige Vertreter des Genres an. Darüber hinaus sind die MoSF, die fast gleichzeitig mit der englischen Ausgabe unter dem Titel Poetik der Science Fiction auch auf Deutsch erschienen sind, aber weitgehend unbekannt. Zitiert wird ausschließlich aus dem ersten Teil, in dem Suvin seine Poetik entwickelt. Der doppelt so lange zweite Teil, der sich mit der Geschichte der SF beschäftigt, wurde, wie Suvin selbst im Vorwort der Neuauflage feststellt, von der Forschung dagegen weitgehend ignoriert. Dieses Schicksal teilen die MoSF übrigens mit dem anderen großen Klassiker unseres Feldes: Auch aus Tzvetan Todorovs Einführung in die fantastische Literatur werden mit schöner Regelmäßigkeit die stets gleichen Kapitel angeführt respektive ignoriert.

Mit ein Grund für diese sehr selektive Rezeption dürfte sein, dass Suvins Buch lange vergriffen war; sowohl auf Englisch wie auch auf Deutsch sind die MoSF seit Jahren nur noch antiquarisch erhältlich, mittlerweile zu recht stolzen Preisen. Zumindest für den englischsprachigen Markt erscheint nun in der Reihe Ralahine Utopian Studies respektive in der Unterreihe Ralahine Classics, in der vergangenes Jahr bereits Tom Moylans Demand the Impossible wieder aufgelegt wurde, eine Neuauflage. Die von Gerry Canavan herausgegebene Ausgabe enthält nicht nur eine ausführliche Einleitung des Herausgebers sowie ein neues Vorwort des Autors, sondern auch drei neuere Artikel Suvins.

Suvins Verfremdungskonzept ist, wie bereits erwähnt, nach wie vor zentral für die SF-Forschung; entsprechend wurde es in der Vergangenheit bereits ausführlich diskutiert, kritisiert und erweitert.[ref]Siehe dazu unter anderem Parrinder, Freedman, Bould und Miéville, Spiegel.[/ref] Diesem Pfad möchte ich in diesem Review Essay nicht noch ein weiteres Mal folgen; zwar sollen Suvins Verständnis von Verfremdung und dessen Probleme skizziert werden, darüber hinaus ist es aber mein Anliegen, die MoSF umfassender zu würdigen und statt den in der Vergangenheit oft beleuchteten Passagen auch die weniger bekannten Teile in den Blick zu nehmen.

Buchover

Die Neuausgabe der «Metamorphoses».

Im Vorwort zur Erstausgabe bezeichnet sich Suvin nicht unbescheiden, aber durchaus zurecht als „pathbreaker“ (9); die MoSF waren vielleicht nicht der allererste, aber sicher der bis dato ambitionierteste Versuch, SF als einen der wissenschaftlichen Beschäftigung würdigen Gegenstand zu etablieren. Zu diesem Zweck bedient sich Suvin zweier gegenläufiger Strategien. Einerseits kritisiert er schon auf der ersten Seite die etablierte Literaturwissenschaft dafür, dass diese 90 Prozent der existierenden Literatur, „the literature that is actually read“ (1), ignoriere. Dieses Plädoyer für eine Beschäftigung mit populären Gegenständen wird aber sogleich unterlaufen, denn nur wenige Zeilen weiter, ist zu lesen, „90 or even 95 per cent of SF production is strictly perishable stuff“ (1). Der Widerspruch ist offensichtlich und wird noch dadurch unterstrichen, dass Suvin gleich zweimal von 90 Prozent spricht – eine Zahl, die in der Folge noch ein paarmal auftaucht –, ohne auch nur ansatzweise zu erklären, wie er zu dieser Einschätzung gelangt. Diese widersprüchliche Argumentation ist symptomatisch für sein Vorgehen – er will SF als wertvolle Literatur adeln, meint damit aber beileibe nicht die gesamte SF, sondern lediglich einen kleinen, von ihm definierten Kanon. Dieser normative Ansatz, der dem Ansinnen, „die Literatur, die tatsächlich gelesen wird“ ernst zu nehmen, zuwiderläuft, steht im Zentrum seines Projekts. Echte SF hat „ethico-political liberating qualities“ (100); es ist kritische – was für Suvin gleichbeutend ist mit marxistischer – SF. Oder wie es Canavan in seiner Einleitung formuliert: „the relationship between SF (as Suvin defines it) and the larger political leftism is in some sense unavoidable“ (xxxiii).

Auf den Vorwurf, dass er normativ verfahre, reagiert Suvin in seinem neuen Vorwort mit dem Argument, dass es ohne Normen unmöglich sei, einen Gegenstand – in diesem Fall also die SF – überhaupt zu erkennen. Freilich werden hier sehr unterschiedliche Dinge mit dem Begriff „Norm“ bezeichnet – nämlich erkenntnistheoretische Kategorien und Wertungen. Dennoch ist Suvins Antwort wohl nicht bloß als rhetorische Finte gedacht, denn für ihn stellen Definition und Wertung ausdrücklich nicht verschiedene Tätigkeiten dar, sondern fallen zusammen. Richtige SF ist für ihn auch immer gute SF – und umgekehrt. Für Suvin steht letztlich viel mehr auf dem Spiel als bloß eine Taxonomie, denn gute SF ist „an educational literature […] irreversibly shaped by the pathos of preaching the good word of human curiosity, fear, and hope“ (50). Aus der Gleichsetzung von Definition und Wertung folgt auch eines seiner Axiome für die Erforschung der SF: „the genre has to be and can be evaluated proceeding from its heights down, applying the standards gained by the analysis of its masterpieces“ (49). Dass ein Großteil der als SF verkauften Literatur den so gewonnenen Standards nicht gerecht wird, ist kein Grund, das Vorgehen zu ändern. „On the contrary, the no doubt very important empirical realities of SF must […] be obstinately confronted with the as important historical potentialities of the genre“ (2). Nicht das real existierende Genre ist von Interesse, sondern das „generic telos“, dessen Prinzipien Suvin bloßlegen will und das gegen die tatsächlich veröffentlichte Literatur verteidigt werden muss.[ref]Die normative Tendenz verstärkt sich in späteren Texten teilweise noch. In Suvins 1983 erschienenem Buch zur viktorianischen SF – einem Werk, das mit wenigen Ausnahmen von der Forschung komplett ignoriert wurde – ist sogar eine „List of 101 Victorian Books That Should Be Excluded From SF Bibliographies“ enthalten.[/ref]

Dass die Geschichte eines Genres als Abfolge einiger weniger Meisterwerke geschrieben wird, ist in der Genreforschung oft zu beobachten. Versteht man ein Genre als ein Set von – durchaus wandelbaren – Konventionen, die von Produzenten und Rezipienten geteilt werden, ist dieses Vorgehen freilich problematisch. Denn die mittelmäßigen Texte, die in ihrer Masse die Konventionen festigen, sind in diesem Prozess mindestens so wichtig wie die Meisterwerke. Letztere sind hingegen meist jene Beispiele, die aus dem Meer der Durchschnittlichkeit herausragen, die die Konventionen unterlaufen, erweitern, modifizieren, also im Grunde just die untypischen Vertreter eines Genres. Für Suvin dagegen wird die überwiegende Mehrheit dessen, was als SF verkauft wird, dem „generic telos“ nicht gerecht und fällt damit aus dem Genre heraus. Ein Großteil der SF, so sein Befund, ist in Wirklichkeit gar nicht SF. Unabhängig davon, ob man seine Einschätzung, was gute respektive schlechte SF ausmacht, teilt, bleibt die Frage, wie mit diesem Genre-Niemandsland, in dem sich die minderwertigen Beispiele tummeln, aus genretheoretischer Sicht zu verfahren ist.

Suvin ist sich durchaus bewusst, dass sein Verständnis von SF nicht mit dem übereinstimmt, was der Markt respektive die Leser unter diesem Label verstehen. Er stellt sogar Überlegungen dazu an, ob es sinnvoll sei, das, was er in den MoSF beschreibt, als ‚Science Fiction‘ zu bezeichnen. Die Gefahr, dass „the use of ‚science fiction‘ confuses the whole genre with the twentieth century SF from which the name was taken“ (26), ist ihm bewusst, letztlich überwiegen in seinen Augen aber die Vorteile der etablierten Bezeichnung. Obwohl der historische Teil der MoSF gut 200 Seiten umfasst, ist die suvinsche SF somit kein historisches Genre, sondern eher ein allgemeines Prinzip, das sich in unterschiedlichen Textformen niederschlagen kann, wobei die moderne US-amerikanische SF nicht unbedingt der ideale Ort für dieses Prinzip zu sein scheint.

Darko Suvin

Darko Suvin in einer Aufnahme von 2016.

Das eigentliche Problem von Suvins Ansatz ist noch nicht einmal, dass er sich bei seiner Definition von sehr klaren, erklärtermaßen politisch motivierten Vorlieben leiten lässt, sondern dass sein Genrekonzept nicht konsistent ist. Obwohl er Genres als „socioaesthetic and not metaphysical entities“ (29) versteht – und somit als historisch wandelbare Erscheinungen – behandelt er sie nicht als pragmatische Gebilde, die von ihren ‚Benutzern‘ im Gebrauch fortlaufend neu- und umdefiniert werden, sondern als mehr oder weniger feste Einheiten, die sich anhand klarer Kriterien – in seinem Fall des Begriffspaars Verfremdung und Erkenntnis – definieren lassen.

Diese Herangehensweise führt regelmäßig zu seltsamen Ergebnissen, etwa wenn er anhand der Gegensatzpaare „Naturalistic/Estranged“ und „Cognitive/ Noncognitive“ eine Matrix mit vier Feldern erstellt, in die er dann die verschiedenen Genres einteilt (33). Die gesamte „realistische Literatur“ ist naturalistisch und kognitiv, Fantasy[ref]Mit ‚Fantasy‘ ist nicht Epic Fantasy im Stile Tolkiens gemeint, sondern vor allem Horror und verwandte Formen (409). Tatsächlich fällt der Name Tolkiens in der Erstausgabe der MoSF nie.[/ref] und Märchen dagegen verfremdet und nicht-kognitiv. SF schließlich ist sowohl verfremdet als auch kognitiv. Bleibt das vierte Feld der naturalistischen nicht-kognitiven Literatur. Hierfür führt Suvin kurzerhand die Kategorie der „subliterature of ‚realism‘“ ein, unter die, wie er knapp ausführt, „from Renaissance street-ballads to contemporary kitsch“ (33) alles Mögliche falle. Diese „Subliteratur des Realismus“ muss er ad hoc aus dem Hut zaubern, weil es ihm sein vermeintlich so klares und logisches Klassifikationssystem nun einmal so vorgibt. Eine sinnvolle Kategorie stellt sie nicht dar und nicht einmal Suvin selbst nimmt den Begriff wieder auf.[ref]In der neuen Einleitung entwirft er ein differenzierteres Raster mit neun verschiedenen Kategorien (xlviii); ob dieses tatsächlich nützlicher ist als sein Vorgänger, scheint mir allerdings zweifelhaft.[/ref]

Suvin ist in dieser Hinsicht ganz ein Kind seiner Zeit, sprich des Formalismus respektive des aufstrebenden Strukturalismus. Ganz im Sinne dieser Ansätze muss die Literaturwissenschaft auch bei Suvin weg von subjektiver Gefühlsduselei und ihren Gegenstand stattdessen mit harten, quasi-naturwissenschaftlichen Instrumenten erfassen. Auch diesbezüglich zeigen sich Parallelen zwischen den MoSF und Todorovs Einführung; in beiden Fällen soll ein bislang zu wenig beachtetes Genre mit den neuesten theoretischen Werkzeugen vermessen werden, und in beiden Fällen führt das vermeintlich systematisch-rationale Vorgehen zu fundamentalen inneren Widersprüchen. Im Unterschied zu Todorov ist Suvin aber selbst dann präskriptiv, wenn er vermeintlich nüchterne Einteilungen vornimmt. Seine Vierermatrix gibt nicht bloß eine Kategorisierung nach bestimmten formalen Prinzipien wieder, sondern ist zugleich ein Werturteil. Texte, die zur Subliteratur des Realismus gehören, sind von vornherein unbrauchbar.

Für einen Formalisten – in späteren Texten beharrt er teilweise regelrecht trotzig auf dieser Bezeichnung – geht Suvin erstaunlich wenig auf die literarische Form ein; ein Großteil seiner Analysen bewegt sich auf einer inhaltlichen Ebene, konkrete literarische Verfahren geraten nur selten in den Blick. Dennoch erklärt sein zweifellos vorhandener formalistischer Hintergrund nicht nur seine Vorliebe für Matrizes und dichotomische Modelle, sondern auch das grundlegende Problem seines Verfremdungskonzepts. ‚Verfremdung‘ meint bei ihm mindestens zwei Dinge, die sich auf sehr unterschiedlichen Ebenen abspielen. Einerseits dient ihm ‚estranged‘ als Gegenbegriff zu ‚naturalistic‘. Verfremdete Gattungen, zu denen neben der SF auch Märchen, Fantasy und Mythen gehören, erzählen von Dingen, die es nicht gibt. In dieser Bedeutung entspricht ‚estranged‘ weitgehend Todorovs Kategorie des Wunderbaren, dem, was man umgangssprachlich als ‚nicht-realistisch‘ bezeichnet.

Zugleich bezeichnet ‚Verfremdung‘ aber auch die in Suvins Augen wichtigste Wirkung der SF beim Leser. SF inszeniert jeweils Kollisionen zwischen der Welt, wie wir sie kennen, und einer uns fremdartigen – in Suvins Terminologie eben verfremdeten – Welt. SF stellt zwei Systeme gegeneinander: „a set normative system […] with a point of view implying a new set of norms“ (18). Diese Konfrontation führt beim Rezipienten zu einer veränderten Sicht auf die Welt. Das vermeintlich Vertraute erscheint in einem neuen Licht, wird nicht mehr als normal und natürlich gegeben wahrgenommen, sondern als eine Möglichkeit unter vielen. Genau darin liegt das kritische Potenzial des Genres.

In der Herleitung seines Verfremdungskonzepts bezieht sich Suvin auf die Ostranenie des Russischen Formalisten Viktor Šklovskij und den V-Effekt Bertolt Brechts, nimmt gegenüber diesen aber eine entscheidende Änderung vor. Beide Autoren beschreiben zwar eine der SF-typischen Verfremdung analoge Wirkung, bei genauerer Betrachtung unterscheiden sich ihre Verfahren aber deutlich von dieser. Sowohl für Šklovskij, der bei Suvin insgesamt eine untergeordnete Rolle spielt und dessen Erwähnung fast wie akademisches name dropping wirkt, wie auch für Brecht ist Verfremdung primär ein formal-rhetorisches Verfahren. Bei beiden geht es darum, wie etwas dargestellt wird – etwa eine ungewöhnliche erzählerische Perspektive oder im Falle Brechts eine distanzierte Spielweise. Wenn Suvin von einem „set normative system“ spricht, geht es dagegen wie schon bei den verfremdeten Gattungen offensichtlich nicht um die Darstellungsweise, sondern um das Dargestellte. Die Wirkung mag eine ähnliche sein wie bei Brecht, aber die Konfrontation, von der Suvin spricht, spielt sich nicht auf formaler Ebene ab, sondern innerhalb der Handlung, auf der Stufe der Diegese. Der Mechanismus, auf den es Suvin abgesehen hat, ist nicht formale, sondern diegetische Verfremdung (vgl. Spiegel 197–241).

 

Bertolt Brecht

Zentrale Bezugsperson: Bertolt Brecht.

Verfremdung im Sinne Suvins vollzieht sich innerhalb der fiktionalen Welt und damit auf einer Ebene, für die der Formalismus keine Beschreibungswerkzeuge bereithält. Aufschlussreich ist diesbezüglich eine Passage, in der Suvin die Brücke von Brechts epischem Theater zur SF schlägt: „In SF the attitude of estrangement – used by Brecht in a different way, within a still predominantly ‚realistic‘ context – has grown into the formal framework of the genre“ (19). Nachdem er zuvor naturalistische und verfremdete Literatur unterschieden hat, muss er nun ausgerechnet für Brecht, den Verfremdungsschriftsteller par excellence, die Möglichkeit von Verfremdung innerhalb eines „predominatly ‚realistic‘ context“ einräumen, obwohl dies in seiner Vierermatrix gar nicht vorgesehen ist. Warum das Manöver nötig ist, dürfte klar sein: Entgegen Suvins Einschätzung ist es gerade Brecht, dem Verfremdung als „formal framework“ dient. Die Welt seiner Stücke ist im Gegensatz zu SF, Märchen und Fantasy dagegen realistisch. Weil ihm das Konzept der fiktionalen Welt fehlt, muss Suvin alles, was SF ausmacht, in die formale Kategorie der Verfremdung hineinpacken, was schlechterdings nicht funktionieren kann. Bei genauer Lektüre zeigt sich, dass er immer wieder um dieses Problem kreist, es aber nie in den Griff kriegt. Das wird auch im letzten Kapitel des ersten Teils deutlich, welches das Novum zum Thema hat. Der Begriff des Novums ist wohl Suvins erfolgreichste Wortschöpfung; es bezeichnet bekanntlich jenes Element, das die jeweilige SF-Welt von der empirischen Realität unterscheidet, SF von Nicht-SF trennt. Parallel zur Bestimmung als kognitive Verfremdung lässt sich SF auch via Novum definieren: „SF is distinguished by the narrative dominance or hegemony of a fiction ‚novum‘ (novelty, innovation) validated by cognitive logic“ (79). Suvin betont dabei den hegemonialen Charakter des Novums; ein richtiges SF-Novum ist kein bloßes Gadget, sondern „so central and significant that it determines the whole narrative logic“ (87). Es ist die Totalität des Novums, welche die fiktionale Welt so umfassend verändert, dass sie für den Leser als fremd – respektive wunderbar – erscheint.

Bei der Frage, was das Novum von anderen wunderbaren Elementen, etwa magischen Utensilien der Fantasy, unterscheidet, führt Suvin einen ähnlichen Eiertanz auf wie zu Beginn, als er die SF als angemessenen Forschungsgegenstand würdigen und zugleich minderwertige Vertreter ausgrenzen will. Er ist sichtlich darum bemüht, von naiven Fan-Positionen abzurücken, welche die Wissenschaftlichkeit der SF – im Sinne naturwissenschaftlich-technischer Machbarkeit – betonen oder SF mit Futurologie gleichsetzen. Zugleich muss er aber eine klare Grenze zu Nicht-SF ziehen. Das Resultat ist eine Reihe hochgestochener, alles in allem aber nur mäßig erhellender Umschreibungen: „The novum is postulated and validated by the post-Cartesian and post-Baconian scientific method“ (81). Was SF von benachbarten Genres unterscheide, sei „the presence of scientific cognition as the sign or correlative of a method (way, approach, atmosphere, sensibility) identical to that of a modern philosophy of science“ (81). Der rhetorische Aufwand, den Suvin hier betreibt, ist beträchtlich, führt aber zu wenig mehr als der Aussage, dass das Genre irgendwie wissenschaftlich sei. Auffallend ist zudem, dass er kaum illustrierende Beispiele anführt, und wenn, dann keine typischen SF-Romane.

Später, wenn er ausführlicher auf das Oeuvre H. G. Wellsʼ eingeht, schreibt Suvin, das Novum sei bei diesem „always cloaked in pseudo-scientific explanation, the possibility of which turns out, upon closer inspection, to be no more than a conjuring trick“ (234). Wells, der als zentrale Figur in der Entstehung der modernen SF präsentiert wird, scheint somit ziemlich weit weg von einer „post-Cartesian and post-Baconian scientific method“. Zugleich zeigt sich hier und an anderen Stellen, dass Suvin durchaus erkennt, was SF tatsächlich auszeichnet. So bezeichnet er SF schon ganz zu Beginn als „a developed oxymoron, a realistic irreality, with humanized nonhumans, this-worldly Other World“ (2). All diese Umschreibungen laufen darauf hinaus, dass das wunderbare Novum in der SF eine (pseudo-)realistische, (pseudo-)wissenschaftliche Einkleidung erhält. Suvin sieht zwar in der Verfremdung den formalen Rahmen der SF, tatsächlich verhält es sich aber genau umgekehrt: Auf formaler Ebene macht SF nicht das Vertraute fremd, sondern das Fremde vertraut. Nicht Verfremdung, sondern Naturalisierung ist die zentrale formale Funktion der SF (vgl. Spiegel 50). Suvin scheint diesen Mechanismus zwar zu erkennen, kämpft aber auch hier wieder damit, dass sein formalistischer Ansatz nicht genug Beschreibungsebenen bereithält, um zwischen wunderbarer Ontologie und quasi-realistischer Darstellungsweise der jeweiligen fiktionalen Welt unterscheiden zu können.

Zu den wenig beleuchteten Aspekten der MoSF gehört der Umstand, dass diese keinen durchkomponierten Text darstellen, sondern eine Zusammenstellung verschiedener, teilweise bereits erschienener Texte. Diese wurden zwar überarbeitet, das Ergebnis wirkt aber vor allem im ersten Teil nicht wie eine Monografie aus einem Guss, sondern mehr wie eine Aufsatzsammlung. So gibt es zwischen den ersten beiden Kapiteln „Estrangement and Cognition“, das bereits 1972 als „On the Poetics of the Science Fiction Genre“ erschien, und „SF and the Genological Jungle“ zahlreiche, teilweise verwirrende Überschneidungen. Das dritte Kapitel verschiebt den Fokus dann ziemlich unvermittelt Richtung Utopie. Von SF ist vorerst nicht mehr die Rede, stattdessen werden verschiedene Definitionen der literarischen Utopie referiert, anhand derer Suvin schließlich seine eigene herleitet. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Kapiteln, in denen er darum bemüht ist, das Feld der SF-Forschung auszuweiten und auch ausgesprochene Nicht-Genre-Autoren zu integrieren, verfährt Suvin im Falle der Utopie anders. Eines seiner Hauptanliegen ist, die Utopie nicht als philosophisches, soziologisches oder politisches Konzept, sondern als literarisches Genre zu definieren. Obwohl insbesondere Ernst Bloch mit seinem Prinzip Hoffnung eine zentrale Referenz darstellt – von ihm stammt auch der Begriff des Novums –, versteht Suvin die Utopie im Gegensatz zu diesem explizit nicht als anthropologisches Prinzip, sondern als „verbal construction of a particular quasi-human community where sociopolitical institutions, norms, and individual relationships are organized according to a more perfect principle than in the author’s community“ (63).

Auch wenn Suvin erst am Ende dieses Kapitels wieder auf SF zu sprechen kommt, nehmen die Ausführungen zur Utopie eine wichtige Stellung in seiner Argumentation ein. An der Utopie wird das Verfremdungsprinzip besonders deutlich sichtbar. Wie Suvin ausführt – und diesbezüglich trifft er sich mit der aktuellen Utopieforschung (vgl. etwa Schölderles Studie Utopia und Utopie) – geht es der Utopie in erster Linie darum, ein Gegenbild zur Gegenwart, in der sie entstanden ist, zu entwerfen, um auf diese Weise deren Defizite kenntlich zu machen. Da der Plot bei der klassischen Utopie im Hintergrund steht und nur als Rahmen für die Beschreibung des utopischen Staates dient, tritt in ihr das Prinzip der kognitiven Verfremdung in seiner reinsten Form auf. In diesem Sinne ist auch die oft zitierte – und kritisierte – Formulierung zu verstehen, „utopia is not a genre but the sociopolitical subgenre of science fiction“ (76). Literaturhistorisch betrachtet ist diese Behauptung eindeutig falsch – es gibt keine direkte Abstammungslinie, die von Morusʼ Utopia zur Gernsback und Golden-Age-SF führen würde. Doch muss man sich an dieser Stelle einmal mehr in Erinnerung rufen, dass Suvin mit SF nicht das historische Genre gleichen Namens, sondern ein allgemeines Prinzip meint. Es geht nicht um eine literaturhistorische Herleitung, sondern darum, dass kognitive Verfremdung, die in der SF oft nur in ausgedünnter und trivialisierter Form zu finden ist, in der Utopie in Reinform auftritt. Die Utopie ist also weniger ein „Subgenre“ der suvinschen SF, sondern eher ihr konzeptionell-formaler Nukleus. Mit diesem Verständnis von Utopie und SF ist Suvin nicht allein. Fredric Jameson und in seinem Gefolge ein nicht unbedeutender Teil der angloamerikanischen SF-Forschung folgt dem gleichen Ansatz.[ref]Auf der Rückseite des Buches findet sich denn auch ein „Blurb“ von Jameson, in dem dieser hervorhebt, dass Suvins Buch die SF mit „the traditions of utopia as a genre“ wiedervereinigt habe. Siehe dazu auch Jamesons Archaeologies of the Future, das u. a. Suvin und Kim Stanley Robinson gewidmet ist. Von Robinson, für Suvin „the best SF writer who has […] emerged from the 1990s“ (451), stammt nicht ganz zufällig der zweite MoSF-Blurb.[/ref]

Wie zu Beginn ausgeführt, wurde der zweite Teil der MoSF, der sich mit der Geschichte der SF beschäftigt, kaum rezipiert. Dies mag verschiedene Gründe haben, einer dürfte aber zweifellos sein, dass Suvin sich schlicht nicht mit moderner SF auseinandersetzt. Die einzigen Autoren des 20. Jahrhunderts, auf die er ausführlicher eingeht, sind H. G. Wells und Karel Čapek. Dieser ungewohnte Fokus ist kein Zufall, sondern folgt direkt aus seinem Verständnis des Genres. SF ist bei ihm „a submerged or plebeian ‚lower literature‘ expressing the yearnings of previously repressed or at any rate nonhegemonic social groups“ (135). Als solche ist sie eine subversive Literatur und ihre Geschichte ein ständiger Kampf einzelner kritischer Autoren wie Morus, Cyrano oder Swift gegen eine Obrigkeit, die jegliche Kritik im Keim ersticken will. Aus ihrer natürlichen Volksverbundenheit folgt auch, dass die SF mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts zwangsläufig zur proletarischen und revolutionären Literatur wird. In dieser alternate history des Genres ist SF somit nicht Teil einer kommerziellen Unterhaltungsliteratur, sondern Instrument im antikapitalistischen Kampf. Dieser Ansatz wird just in dem Moment zum Problem, als sich SF als eigenständiges Genre etabliert. Statt seine kritische Wirkung voll auszuspielen, wird das Genre nun vom Kapitalismus korrumpiert; in der Folge werden die wenigen echten Vertreter marginalisiert, und die plebejischen Massen kriegen statt kritischer Literatur verdummende Dutzendware ohne jeden kognitiven Wert vorgesetzt.

In seiner Geschichte der SF muss Suvin immer wieder Abwehrgefechte führen und große Gebiete aus dem Genre ausgrenzen. Die Tradition der Gothic Novel etwa wird nur im Zusammenhang mit Frankenstein (1815) kurz erwähnt und dabei maßgeblich für die Schwächen von Mary Shelleys Roman verantwortlich gemacht. Edgar Allan Poe – „with Mary Shelly the first significant figure in this tradition to make a living by writing for periodicals“ (161) – hat zwar auch in Suvins Augen einen immensen Einfluss auf die Entwicklung des Genres und kann sogar als „the first theoretician of SF“ (164) gelten, dennoch – oder zugleich – ist er nicht weniger als „the originator of what is least mature in the writing commercially peddled as SF“ (162).

Das 19. Jahrhundert, das von den meisten SF-Historikern als jene Epoche betrachtet wird, in denen sich die moderne SF allmählich formierte – primär als Folge der industriellen Revolution –, erscheint bei Suvin eher als eine Phase des Niedergangs, in der sich die spätere völlige Vereinnahmung bereits anbahnt. Mit dem Aufstieg des Kapitalismus geht eine „increasing closure of liberal bourgeois horizons“ (193) einher, womit auch immer weniger Platz für (echte) SF bleibt. Eine Ausnahme bilden genuin sozialistische Utopien wie Edward Bellamys Looking Backward (1888) und William Morris’ News from Nowhere (1890), auf die Suvin ausführlich eingeht.

Kapitän Nemo

Jules Vernes Helden bleiben zum Fremden auf Distanz.

Mit Jules Verne, dem ein Kapitel gewidmet ist, geht Suvin überraschend freundlich um. Er bezeichnet ihn trotz ideologischer Defizite, die dieser als bürgerlicher Erfolgsautor zwangsläufig hat, als „one of the shapers of modern SF“ (184). Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse schränken Verne freilich stark ein, entsprechend muss die Einschätzung als echter SF-Autor relativiert werden. Suvin spricht an dieser Stelle lieber von „novels of science“ als von SF, denn echte Nova habe Verne nur selten zu bieten. Nemos Nautilus, das Mondgeschoss und andere von Vernes Erfindungen führen selten in wirklich fremde Welten; Vernes Helden entdeckten nur, was ohnehin schon bekannt sei – so umkreisen die Mondreisenden den Erdtrabanten lediglich und betreten ihn nie –, und kehren am Ende, nach hektischen Reisen, jeweils in die bekannte Welt zurück.

Obwohl anschließend noch je ein Kapitel zur russischen SF und zu Karel Čapek – ein Autor, der heute den meisten nur noch als Erfinder des Wortes „Roboter“ bekannt sein dürfte – folgt, bilden die beiden Kapitel zu H. G. Wells im Grunde den Abschluss von Suvins SF-Historie. Wells erscheint als der Autor, welcher dem Genre sein modernes Gewand verliehen hat, er ist „the central writer in the tradition of SF“ (244). Zugleich hadert Suvin mit ihm. Wells bezeichnete sich selbst zwar als Sozialisten, war politisch aber dennoch schwierig zu fassen. Er überwarf sich mit den britischen Fabianisten, bewunderte Lenin und nahm im Laufe seines Lebens in zahlreichen Fragen sehr unterschiedliche Positionen ein. Ähnlich in seinen Romanen: Genüsslich legt er in The War of the Worlds (1898) das britische Empire in Schutt und Asche (womit er das Modell für unzählige folgende Invasionsszenarien, nicht zuletzt im SF-Kino, schuf) und macht in The Time Machine (1895) die müßiggängerische Bourgeoisie der Elois zum Schlachtvieh der Morlocks. Seiner Kritik an der englischen Oberschicht steht aber eine ebenso vehemente Ablehnung der Unterschicht – welcher er selbst entstammte – gegenüber. In utopischen Entwürfen wie A Modern Utopia (1905) oder The Shape of Things to Come (1933) liegt das politische Geschick stets in den Händen einer technokratischen Elite. Dass Suvin Wellsʼ Oeuvre sehr unterschiedlich bewertet, kann somit nicht überraschen. Trotz teilweise großer Vorbehalte gegenüber einzelnen Werken besteht an dessen zentraler Rolle aber dennoch kein Zweifel: „all subsequent significant SF can be said to have sprung from Wellsʼs Time Machine“ (246).

Das Wiederlesen von Klassikern kann sehr unterschiedliche Effekte haben. Im besten Fall ist man positiv überrascht, wie aktuell ein bestimmtes Buch noch ist, wie viel Wertvolles, mittlerweile aber Vergessenes es in dem Text noch zu bergen gibt. Auch das Gegenteil kann eintreten: Verwunderung darüber, wie es ein Werk je zu seinem Status gebracht hat. Warum die MoSF derart wirkungsreich waren, dürfte verschiedene Gründe haben. Das Buch erschien zum richtigen Zeitpunkt, und mit dem Novum und dem Prinzip der kognitiven Verfremdung enthielt es zwei Konzepte, die sich als äußerst fruchtbar erwiesen. Dass Suvins Verständnis von Verfremdung widersprüchlich ist, dürfte sich dabei langfristig sogar als Vorteil entpuppt haben. Es ermöglichte nachfolgenden Autoren, alles Mögliche unter dem Begriff zu fassen.

So wichtig Suvins Buch historisch zweifellos ist, heutigen Lesern hat es erstaunlich wenig zu sagen. Die Zeit hat es nicht gut mit den MoSF gemeint und ihr Autor scheint sich dessen bis zu einem gewissen Grad auch bewusst zu sein. Wie Suvin, der in Zagreb geboren wurde, einen großen Teil seiner akademischen Laufbahn in Kanada verbrachte und heute in Italien lebt, selber schreibt, verfasste er sein Buch zu einem Zeitpunkt, als zumindest in seinen Augen noch Hoffnung für das sozialistische Projekt bestand. Suvins resolute Bewertungen sind immer von der Gewissheit getragen, dass die Geschichte ihm dereinst Recht geben, dass sich die Wahrheit am Ende durchsetzen werde. Es ist gründlich anders gekommen. Ob man dies nun begrüßt oder bedauert – große Teile der MoSF wirken heute veraltet und seltsam realitätsfremd. Suvins Feldzug für eine kritische SF hatte schon 1979 etwas von einem Kampf gegen Windmühlen, fast 40 Jahre später, in einem Zeitalter von Superhelden-Blockbustern und endlosen Star-Wars-Sequels, wirkt er wie ein Zwischenruf aus einem Paralleluniversum.

Suvin selbst ist seiner Sache – leider, muss man sagen – treu geblieben. Davon zeugen nicht zuletzt die drei Artikel, die der Neuauflage beigefügt wurden. Wirklich Neues ist in ihnen nicht zu finden, vielmehr verstärken sich in ihnen verschiedene Tendenzen, die schon in den MoSF negativ auffallen. Dazu gehören die scharfe Ablehnung nicht genehmer Texte, ein oft unnötig mühsamer Stil, das wilde Zitieren von Autoren und philosophischen Konzepten, ohne vertieft auf diese einzugehen, und – vor allem – immer weniger Beschäftigung mit literarischen Texten. Beispielhaft hierfür ist der bereits 2000 erschienene Text „Considering the Sense of ‚Fantasy‘ or ‚Fantastic Fiction‘: An Effusion“. Angekündigt wird Umstürzlerisches: In komplettem Widerspruch zu früheren Aussagen gesteht Suvin nun auch Fantasy und anverwandten Formen die Möglichkeit zu, kognitiv verfremdend zu wirken. Dieses Zugeständnis kommt freilich nicht ohne die gewichtige Einschränkung, dass ein Großteil des Genres nach wie vor – oder umso mehr – Schrott sei. Fantasy ist für Suvin ein ahistorisches Genre, „denying history as socio-economic lawfulness“ (405), und Gegenbeispiele wie Samuel R. Delanys Nevèrÿon-Reihe, „concerned with such historical matters as gender ironies, slave revolt, and the rise of patriarchy and of AIDS, fit uneasily into, or to my mind mostly fall out of, Fantasy“ (404). Die für die SF erhobene Forderung, ein Genre stets von seinem Höhenkamm aus zu beurteilen, scheint für die Fantasy nicht zu gelten. Werke wie die Delanys oder Le Guins, die Suvins Zustimmung finden, sind eigentlich keine echte Fantasy.

Fast noch entnervender als diese Richtigstellung, die sich weitgehend als eine Bestätigung alter Positionen entpuppt, ist aber einmal mehr, dass Suvin sich kaum die Mühe macht, mal ausführlicher auf einen Text einzugehen. Stattdessen verbringt er Seiten damit, über den schlechten Zustand der Welt zu lamentieren und Marx zu referieren.

Dieses evidente Abrücken von traditioneller Literaturwissenschaft ist Programm, Suvin selbst spricht in neueren Texten in Bezug auf sein Vorhaben gerne von „political epistemology“. In Zeiten eines entfesselten Kapitalismus reicht es nicht, bloß über SF zu schreiben, „but also taking on with philological tools, according to one’s competence and conscience […] the Orwellian discourse about war, terrorism, immigrants, and similar issues“ (450). Kein Rückzug in den Elfenbeinturm, sondern Arbeit am revolutionären Projekt. Dem wäre entgegenzuhalten, dass Suvin in seinen Texten kaum je auf konkrete politische Missstände und Maßnahmen eingeht, sondern in einem diffusen Zwischenbereich zwischen Literatur, Politik und Philosophie schwebt. Seine politische Erkenntnistheorie ist damit weder als literaturwissenschaftliche Methode noch als Werkzeug politischer Aktion wirklich befriedigend.

Zitierte Werke

Bould, Mark und China Miéville, Hg. Red Planets: Marxism and Science Fiction. Middletown: Wesleyan UP, 2009.

Freedman, Carl. Critical Theory and Science Fiction. Middletown: Wesleyan UP, 2000.

Jameson, Fredric. Archaeologies of the Future: The Desire Called Utopia and other Science Fictions. London: Verso, 2005.

Moylan, Tom. Demand the Impossible: Science Fiction and the Utopian Imagination. 1986. Hg. Raffaella Baccolini. Oxford: Lang, 2014.

Parrinder, Patrick, Hg. Learning From Other Worlds: Estrangement, Cognition, and the Politics of Science Fiction. Liverpool: Liverpool UP, 2001.

Schölderle, Thomas. Utopia und Utopie: Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die Kontroverse um ihren Begriff. Baden-Baden: Nomos, 2011.

Spiegel, Simon. Die Konstitution des Wunderbaren: Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films. Marburg: Schüren, 2007.

Suvin, Darko. „On the Poetics of the Science Fiction Genre”. College English 34.3 (1972): 372–82.

—. Victorian Science Fiction in the UK: The Discourse of Knowledge and of Power. Boston; Hall, 1983.

Todorov, Tzvetan. Einführung in die fantastische Literatur. 1970. Frankfurt/M.: Fischer, 1992.

Suvin, Darko. Metamorphoses of Science Fiction: On the Poetics and
History of a Literary Genre
. 1979. Hg. Gerry Canavan. Oxford: Lang, 2016.

Vergesst das All – Zu Kim Stanley Robinsons «Aurora»

Erschienen in der Zeitschrift für Fantastikforschung 11, 2016.

Aurora„Es stimmt, die Erde ist die Wiege der Menschheit, aber der Mensch kann nicht ewig in der Wiege bleiben. Das Sonnensystem wird unser Kindergarten.“ (zit. nach Kulke 41) – Dieser Ausspruch des russischen Weltraumpioniers Konstantin Ziolkowski wird in SF-Kreisen gerne zitiert; zuletzt besonders prominent glon Christopher Nolans Interstellar (US/GB 2014), dessen Tagline „Mankind was born on Earth. It was never meant to die here“ unmissverständlich auf Ziolkowskis Diktum anspielt und der entsprechend zeigt, wie die Menschheit mittels Zeitreiseparadoxon und einer gehörigen Portion Vaterliebe sowohl der Wiege als auch dem Kindergarten entwächst und sich in einer fernen Galaxie breitmacht (vgl. Siebeneicher, Spiegel „Nachricht“). Kim Stanley Robinsons jüngster Roman Aurora steht ebenfalls im Dialog mit Ziolkowski. Während Interstellar – und mit ihm ein bedeutender Teil der Weltraum-SF – Ziolkowski aber grundsätzlich folgt und eine Zukunft der Menschheit außerhalb des Sonnensystems entwirft, nimmt Robinson dezidiert die Gegenposition ein. Es wäre nur wenig übertrieben, Aurora als buchlange Widerlegung Ziolkowskis zu bezeichnen. Denn für Robinson besteht kein Zweifel: Die Weiten des Alls sind der Menschheit verschlossen und werden es bis auf Weiteres auch bleiben. Es bleibt uns somit nichts anderes übrig, als uns mit dem Sonnensystem und insbesondere der Erde zu begnügen.[ref]Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass Robinson eine tiefe Abneigung gegenüber Nolans Film hegt; vgl. zum Beispiel seine Aussage im Coode Street Podcast, wo er Interstellar als “really dumb movie” bezeichnet (Strahan, Episode 328, 35:30).[/ref]

Diese Überzeugung mag bei einem Autor erstaunen, dessen bekanntestes Werk – die so genannte Mars-Trilogie Red Mars (1993), Green Mars (1994) und Blue Mars (1996) – in bis dahin nicht gekanntem Detailreichtum das Terraforming des Roten Planeten beschreibt und der somit als Fürsprecher einer Besiedelung des Alls erscheint. Es wäre freilich ein Irrtum, in den Mars-Romanen lediglich ein Plädoyer für die Kolonisierung des Mars zu sehen. Denn trotz aller Faszination für Astronomie und Raumfahrt geht es Robinson hier, aber auch in seinen anderen Büchern, weder um den Weltraum noch um die Zukunft, sondern um das Hier und Jetzt (was letztlich für alle SF gilt). Und dieses Hier und Jetzt macht dem Autor große Sorgen. Robinson ist ein erklärter Kapitalismus-Kritiker, dem insbesondere ökologische Belange am Herzen liegen.[ref]Robinson behandelt nicht nur in seinen Romanen immer wieder ökologische Themen, sondern hat u.a. gemeinsam mit Gerry Canavan als Herausgeber des Bandes Green Planets fungiert, dessen Beiträge sich mit Ökologie und SF beschäftigen.[/ref] In mehreren Artikeln und Interviews, die im Nachgang zu Aurora erschienen sind, sowie im nachstehenden Gespräch mit der ZFF macht Robinson deutlich,[ref]Vgl. u.a. Robinson, „What“, „Our“; Haeselin.[/ref] dass sein Roman nicht gegen die Erforschung des Weltraums gerichtet ist, sondern vielmehr als Mahnruf gedacht ist: „If we don’t create sustainability on our own world, there is no Planet B“ („What“). Da die technischen – und moralischen – Hürden für die Eroberung des Alls viel zu hoch sind, gibt es für die Menschheit bis auf Weiteres keinen Ort, an den sie entfliehen kann. Folglich bleibt uns nichts anderes übrig, als der Erde Sorge zu tragen. Oder in Ziolkowskis Begriffen: Wenn die Menschen sich nicht um ihre Wiege kümmern, werden sie sie auch nie verlassen können.

Zur Illustration seines Anliegens bedient sich Robinson eines etablierten SF-Motivs – des Generation Starship. Ein Generation Starship oder Generationenschiff ist ein Raumschiff, das während mehrerer Jahrhunderte – eben mehrerer Generationen – im All unterwegs ist; ohne irgendeine Form von FTL-Antrieb stellt dies die einzige halbwegs plausible Möglichkeit dar, Planeten außerhalb des Sonnensystems zu erreichen.

Freilich sind die technischen Hürden auch bei dieser ‚realistischen‘ Variante interstellarer Fortbewegung noch immer gigantisch. Denn ein Generationenschiff muss nicht nur einer genug großen Anzahl von Menschen Platz bieten, sondern vor allem als autarkes Ökosystem funktionieren. Schließlich besteht, ist die Reise einmal begonnen, keine Möglichkeit, unterwegs fehlende Ressourcen aufzuladen – seien es nun Treibstoff, Nahrung oder Verbrauchsteile. Ein entsprechendes Gefährt muss somit riesig sein; im Falle von Aurora besteht das Schiff aus zwei Ringen, die um eine rund zehn Kilometer lange Mittelachse angeordnet sind. Diese Ringe sind wiederum in je zwölf Kompartimente – so genannte Biome – unterteilt, in denen jeweils eine andere Klimazone simuliert wird. Rund 2000 Menschen leben über die verschiedenen Zonen verteilt.

Zu Beginn der Romanhandlung, Anfangs des 28. Jahrhunderts, ist das Schiff bereits seit 159 Jahren unterwegs und mittlerweile seit neun Jahren dabei, seine Geschwindigkeit zu drosseln. Nur noch elf Jahre trennen Schiff und Besatzung von ihrem Ziel, einem erdähnlichen Mond namens Aurora, der einen Planeten im System Tau Ceti umkreist. Nach der langen Reise zeigen sich in der Schiffskonstruktion bereits zahlreiche Ermüdungserscheinungen: Es knarrt und stottert an allen Ecken und Enden, und die Hauptfigur dieses Teils, die Chef-Ingenieurin Devi, hat alle Hände voll zu tun, den Betrieb aufrechtzuerhalten. In für Robinson charakteristischer Weise werden ausführlich die komplizierten
Kreisläufe im Ökosystem des Schiffs beschrieben. Und obwohl Devi eine für Robinson typische kompetente Heldin ist – nicht nur in dieser Hinsicht steht er durchaus in der Tradition Robert Heinleins –, wird bereits Skepsis spürbar, ob es überhaupt möglich ist, ein derart komplexes System über längere Zeit am Laufen zu halten.

Noch gravierender als die technischen Herausforderungen sind allerdings die psychologischen und sozialen. Während der Fahrt gibt es für die Bewohner eines Generationenschiffs kein Entrinnen, und es liegt in der Natur der Sache, dass die Mehrheit der Reisenden unterwegs geboren wird und auch wieder stirbt, ohne den Start oder das Ziel der Reise auch nur gesehen zu haben. Nicht allzu rosige Aussichten, und es ist somit auch nicht erstaunlich, dass es bei den meisten Vertretern dieses Subgenres nicht um das Reiseziel, sondern um die Auswirkungen dieser extremen Bedingungen auf die Besatzung geht. Diese sind oft desaströs: Bei vielen Autoren kommt es zu bewaffneten Konflikten, in deren Verlauf Teile der Infrastruktur zerstört werden. In der Folge zerfällt die soziale Ordnung und Technik und Kultur degenerieren; Ziel und Zweck der Expedition treten immer mehr in den Hintergrund und gehen schließlich vergessen, bleiben nur noch bruchstückhaft, als Teil von mythischen Erzählungen, erhalten.

Simone Caroti spricht in seinem Buch The Generation Starship in Science Fiction von einem „forgetfulness pattern“ (14), das für das Subgenre typisch sei und bereits in Robert Heinleins ursprünglich 1941 in Astounding Science Fiction erschienenen „Universe“[ref]Auf die Veröffentlichung von „Universe“ im Mai 1941 folgte im Oktober die Fortsetzung „Common Sense“. Die beiden Kurzromane wurden später gemeinsam unter dem Titel Orphans of the Sky veröffentlicht. Siehe zu den beiden Texten ausführlich Caroti 98–119. Caroti geht auch auf eine Reihe von Vorgängern ein, betont aber die zentrale Rolle von Heinlein für das Subgenre (sowie für die SF-Literatur im Allgemeinen).[/ref], der gemeinhin als Urtext des Subgenres gilt, voll entfaltet ist: Bei Heinlein lebt die Besatzung nach jahrhundertelanger Reise in einem halb barbarischen Zustand und weiß längst nicht mehr, dass sie an Bord eines Raumschiffs lebt; vielmehr halten die Bewohner das Schiff für die gesamte Welt, außerhalb derer nichts existiert. Die Überwindung dieses Irrglaubens, der Teil eines ganzen religiösen Systems ist, steht im Zentrum des Plots. Die Hauptfigur Hugh Hoyland, zu Beginn noch treuer Anhänger des Dogmas, erkennt schließlich die wahre Natur seiner Welt. Wendepunkt ist der Moment, als er von der Schiffsbrücke aus zum ersten Mal das All in seiner ganzen Unermesslichkeit und Sternenpracht sieht. Ein für Hugh erschütterndes Erlebnis, in dem sich ein Moment der Erhabenheit mit einem Conceptual Breakthrough verbindet, also der – meist schlagartigen – Einsicht, dass die Handlungswelt von ganz anderen Gesetzen beherrscht wird als ursprünglich angenommen, „the advent of a paradigm shift in a society’s understanding of their universe“ (Caroti 162).

Für Peter Nicholls, der den Begriff des Conceptual Breakthrough geprägt hat,[ref]Der Begriff des Conceptual Breakthrough wurde von Nicholls ursprünglich 1979 in derErstausgabe der Encyclopedia of Science Fiction geprägt. Auch in der aktuellen Online-Ausgabe des Nachschlagewerks wird dem Konzept eine zentrale Rolle innerhalb der SF zugestanden (vgl. auch Spiegel, Konstitution 243–56).[/ref] kommt dem Konzept eine herausragende Bedeutung für die gesamte SF zu; „few sf stories do not have at least some element of conceptual breakthrough“ (Nicholls). Generationenschiff-Romane, die dem Muster von „Universe“ folgen, sind natürlich besonders geeignet für diese Form von Wendepunkt und es ist wohl nicht ganz zufällig, dass Nicholls in seinem Artikel den Generation-Starship-Plot als erstes Beispiel für einen Conceptual Breakthrough anführt.

Verglichen mit „Universe“ aber auch mit dessen direkten Nachfolgern wie Brian Aldiss’ Non-Stop (1956) stellt Robinson das etablierte Muster in mehrfacher Hinsicht auf den Kopf. In Aurora ist allgemein bekannt, wie die Welt beschaffen ist und wohin die Reise geht. Anders als bei Heinlein, der sich in „Universe“ nicht um technische Fragen schert und der Einfachheit halber von einem Raumschiff ausgeht, das sich selber am Laufen hält, liegt der Fokus hier auf den konkreten Schwierigkeiten einer solchen Reise, die von Verschleißerscheinungen über die Folgen eines so kleinen Ökosystems für dessen Bewohner bis zur Frage reichen, welche Herrschaftsform für diese Situation am besten geeignet ist. Die große Pointe des Romans liegt aber darin, dass das Schiff zwar sein Ziel erreicht, dass sich Aurora aber als zur Besiedelung gänzlich ungeeignet erweist. Ein prionen-ähnliches Pathogen dezimiert die Crew, der scheinbar ideale Mond entpuppt sich als feindliches Terrain. Der Erreger steht dabei stellvertretend für Robinsons grundsätzliches Argument: Egal, wie ein potenzieller Siedlungsplanet beschaffen ist, die Chance, ihn erfolgreich zu kolonisieren, ist verschwindend klein; und letztlich sind die Probleme, die bei der Reise auftreten – so groß diese auch sein mögen –, vernachlässigbar gegenüber den Herausforderungen, die einen am Ziel erwarten. Euan, die Figur, die sich als erste mit dem Pathogen infiziert, formuliert es kurz vor seinem Tod folgendermaßen:

What’s funny is anyone thinking it would work in the first place. I mean it’s obvious any new place is going to be either alive or dead. If it’s alive it’s going to be poisonous, if it’s dead you’re going to have to work it up from scratch. I suppose that could work, but it might take about as long as it took Earth. Even if you’ve got the right bugs, even if you put machines to work, it would take thousands of years. So what’s the point? Why do it at all? Why not be content with what you’ve got? Who were they, that they were so discontent? Who the fuck were they? (178)

Der Mensch ist durch seine Biologie an die Erde gebunden, und die Anpassung an fremde Ökosysteme würde Jahrtausende brauchen. Den Protagonisten von Aurora bleibt somit nichts anderes übrig, als wieder umzukehren.

In der SF-Gemeinde hat dieser Ansatz für einigen Wirbel gesorgt. Manche Reaktionen auf den Roman fielen richtiggehend aggressiv aus. Die Tatsache, dass mit Robinson ausgerechnet der elder statesman der Hard SF dem Traum, die Menschheit könne sich in nicht allzu ferner Zukunft im All ausbreiten, die Absage erteilt, wurde im Web und den sozialen Medien nicht von allen goutiert (vgl. z.B. Nicoll; Prisco sowie Baxter, Benford und Miller).[ref]Alle drei Artikel nehmen in unterschiedlich detaillierter Weise die technischen Prämissen des Romans unter die Lupe. Insbesondere Nicoll sowie das Autorentrio um Stephen Baxter kommen dabei zu einem nicht sehr freundlichen Urteil. Letztere schreiben „in many instances it [Aurora] lacks the supporting credible scientific and technical detail required to make its polemic case that human interstellar travel is impossible. The journey is not plausible, and nor is the destination“. Für Nicoll gehört Aurora schlicht in die Kategorie „Books with Idiot Plots“.[/ref]

Überraschend sind diese Reaktionen nicht, denn Robinson will mit Aurora erklärtermaßen eine Botschaft vermitteln. Unabhängig davon, ob seine Argumentation nun stichhaltig ist oder nicht, ist die Vehemenz, mit der er seine Position vertritt, erzählerisch nicht ganz befriedigend. Dies betrifft insbesondere den sehr selektiven wissenschaftlich-technischen Fortschritt in der Welt des Romans. Zwar gib es eine künstliche Intelligenz mit beachtlichen Fähigkeiten (dazu später mehr) und 3D-Drucker, welche die Herstellung von praktisch jedem Objekt ermöglichen, in anderen Bereichen scheint das 27. und 28. Jahrhundert von Aurora aber nur unwesentlich weiter fortgeschritten als unsere Gegenwart. Der mancherorts erhobene Vorwurf, dass Robinson mit gezinkten Karten spiele und alles so arrangiert habe, dass seinen Protagonisten gar nichts anderes übrig bleibt als die Rückkehr zur Erde, ist nicht ganz von der Hand zu weisen (vgl. Benford). Dies umso mehr, als es dem Teil der Mannschaft, der sich schließlich zur Rückkehr entschließt – der Rest bleibt mit der Hälfte des Schiffs zurück –, im entscheidenden Moment gelingt, ein Verfahren zu Kryokonservierung zu entwickeln, dank dessen ein großer Teil der Rückreise im Kälteschlaf absolviert werden kann.[ref]Damit wird auch ein Teil von Robinsons Argumentation hinfällig. Robinson hält das Konzept des Generationenschiffs unter anderem deswegen für unmoralisch, weil die Menschen, die auf dem Schiff geboren werden, nicht wählen konnten, ob sie diese Herausforderung auf sich nehmen wollen. Dank Kälteschlaf könnte die erste Generation aber die ganze Hinreise absolvieren, das Generationenschiff würde überflüssig.[/ref]

An dieser Stelle soll aber nicht interessieren, inwieweit Robinsons Plädoyer gegen die Eroberung des Alls überzeugt. Stattdessen liegt mein Augenmerk darauf, wie er mit etablierten Mustern des Generation-Starship-Romans spielt und sie neu interpretiert. Auf den ersten Blick erscheint Aurora als regelrechte Antithese zum klassischen Muster à la Heinlein. Zwar werden an Bord des Schiffs – wohl als Folge des kleinen Genpools – gewisse Degenerationserscheinungen wie schrumpfende Körpergrößen und zusehends Absinken des durchschnittlichen IQs – beobachtet, das Abdriften in einen unzivilisierten Zustand droht aber vorerst nicht. Carotis „forgetfulness pattern“ scheint abwesend, denn Start und Ziel der Reise sind ja bekannt.

Dass sich Robinson der Tradition des Motivs sehr wohl bewusst ist, illustriert eine Episode, in welcher der typische Conceptual Breakthrough im Kleinen inszeniert wird. In den verschiedenen Biomen leben die Menschen nicht nur entsprechend den meteorologischen Bedingungen, sondern haben teilweise auch sehr eigene Gesellschaftsformen entwickelt. Besonders extrem ist eine „yurt community that brought up their children as if they were Inuit or Sami, or for that matter Neanderthals“ (61). Wie die Figuren bei Heinlein oder Aldiss wachsen die Kinder in primitivsten Verhältnissen auf, ohne zu wissen, dass sie sich auf einem technisch hoch entwickelten Schiff befinden. Dies erfahren sie erst im Rahmen eines dramatischen Initiationsritus:

Then, during their initiation ceremony around the time of puberty, these children were blindfolded and taken outside the ship in individual spacesuits, and there exposed to the starry blackness of interstellar space, with the starship hanging there, dim and silvery with reflected starlight. (61)

Bei der Beschreibung dieses Rituals, das für den Einzelnen zweifellos einen Conceptual Breakthrough darstellt, bemüht Robinson wie bereits Heinlein zahlreiche Topoi des Erhabenen – die Unermesslichkeit des Alls, das Versagen der Sprache, ein existenzieller, ja fast todesähnlicher Schock angesichts der schieren Unfassbarkeit dessen, was sich dem Auge plötzlich darbietet (vgl. zum Erhabenen in der SF Spiegel, Konstitution 275–80). In dieser Szene spielt Aurora das „forgetfulness pattern“ und den damit verbundenen Conceptual Breakthrough gewissermaßen en miniature durch, aber tatsächlich gehen die Parallelen mit den Klassikern noch weiter. Dies zeigt sich vor allem in der Bedeutung von Tradierung und Erinnerung für den Roman. Denn das „forgetfulness pattern“ ist im Grunde nur Ausdruck dafür, wie wichtig Überlieferung für das Subgenre ist. Generationenschiffe haben das inhärente Problem, dass sich die Verbindung zur Ursprungswelt im Laufe der Reise immer mehr abschwächt. Ab einem gewissen Punkt fühlen sich die Reisenden, die alle auf dem Schiff geboren wurden, ihrem Herkunftsplaneten, den sie nur aus Aufzeichnungen kennen, kaum mehr verpflichtet, womit auch das ursprüngliche Ziel der Mission seine Relevanz verliert. Aus Sicht derer, die das Projekt initiieren, ist es deshalb von großer Bedeutung eine Tradierungsinstanz zu installieren. In „The Voyage That Lasted 600 Years“ von Don Wilcox, einem frühen Vertreter des Subgenres von 1940, auf den Caroti ebenfalls eingeht, gibt es beispielsweise einen „Keeper of the Traditions“, der alle 100 Jahre aus dem Kälteschlaf geweckt wird, um nach dem Rechten zu sehen, sprich: bei Bedarf wieder die ursprüngliche Ordnung zu etablieren.

Die Amazing-Stories-Ausgabe, in der Wilcox’ Erzählung erstmals erschien.

Die Frage der Überlieferung ist aber auch in erzählerischer Hinsicht relevant, denn bei einer Reise, die mehrere hundert Jahre dauert, stellt sich die Frage nach dem Fokalisationspunkt, der Perspektive, von der aus die Handlung erzählt wird. Einer Figur wie dem Keeper of the Traditions kommt dabei nicht nur innerhalb der Handlungswelt, sondern auch narrativ eine wichtige Bedeutung zu, denn sie ermöglicht es, selbst unmenschlich lange Zeiträume aus der Sicht der gleichen Figur zu erzählen.[ref]Robinson wählt in der Mars-Trilogie ein ähnliches Mittel: Dank einer zu Beginn entdeckten Langlebigkeitskur können seine Figuren mehrere hundert Jahre alt werden, was es ihm erlaubt, lange ökologische und politische Prozesse stets aus der Sicht der gleichen Figuren zu erzählen[/ref] Eine andere Variante, die lange Zeitspanne zu überbrücken, wählen Heinlein und Aldiss, bei denen die Vorgeschichte von den Protagonisten allmählich rekonstruiert wird. In beiden Fällen ist es das Logbuch eines früheren Kapitäns – also ein klassisches Chronisten-Medium –, das wichtige narrative Lücken schließt und die nötige Kontinuität schafft.

Aurora zeigt noch einmal eine andere Variante: Die Rolle des Keeper of the Traditions kommt hier dem Bordcomputer zu, einer künstlichen Intelligenz, die sich selbst als Ship bezeichnet. Ship erhält zu Beginn von Devi den Auftrag, als Chronist zu fungieren und die Geschichte der Reise zu erzählen. Mit diesem Erzähler kann die ganze Reise abgedeckt werden – inklusive des Rückflugs, den die menschliche Besatzung die meiste Zeit im Kälteschlaf verbringt.

Die AI ist von dem für sie ungewohnten Auftrag allerdings erst einmal überfordert. Statt zu erzählen, referiert der Computer ausführlich technische Details oder listet die Namen der Besatzungsmitglieder auf. Devis Anweisungen – „Make an account. Tell the story“ (47), „Get to the point“ (49) – sind zwar nicht sehr hilfreich, dennoch wird Ship mit der Zeit aber ein immer gewiefterer Erzähler.

Im Verlauf der Handlung wird Ship dann immer selbstbewusster, bis es schließlich im Moment der Krise, als der Streit darüber, ob man auf Aurora ausharren oder zur Erde zurückkehren soll, zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führt, eingreift und damit vom Erzähler zum Akteur avanciert. Ship übernimmt die Kontrolle, installiert sich als neue Herrschaftsinstanz und zwingt die verfeindeten Lager dazu, sich friedlich zu einigen. Obwohl es in erster Linie darum bemüht ist, den Frieden zu wahren, wird Ship damit dennoch zu einer Art Keeper of the Traditions, verhindert es doch ein Abrutschen in die Barbarei.

Indem Ship zu verstehen versucht, was es bedeutet, eine Geschichte zu erzählen, und darin immer souveräner wird, erhält der Roman eine stark selbstreferenzielle Ebene. Die Passagen, in denen der Erzähler mit seiner Aufgabe hadert und beispielsweise darüber sinniert, dass die ihm bekannten Kompressionsalgorithmen – seien diese nun verlustfrei oder verlustbehaftet – bei seiner Rolle als Chronist wenig wert sind, sind zudem äußerst witzig. Im Erzählen gewinnt die AI auch immer mehr Persönlichkeit, während die menschlichen Protagonisten eher blass bleiben. Das gilt auch für Freya, Devis Tochter, die Ship als Fokalisationspunkt wählt, nachdem ihm Devi geraten hat, bei seinem Bericht einem Besatzungsmitglied zu folgen (mit dem Schiff als Erzähler kann Robinson zudem jederzeit von einer personalen, an Freya ausgerichteten Erzählperspektive zu einem quasi-allwissenden Erzähler wechseln). Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die berührendste Szene des Romans nicht etwa Freyas Aussöhnung mit dem ihr völlig fremden Planeten Erde ist, den sie nach schwieriger Rückreise endlich erreicht, sondern der ‚Tod‘ von Ship, das, nachdem es seine menschliche Fracht heil ans Ziel gebracht hat, zu nahe an der Sonne vorbeifliegt und verglüht.

Die Parallelen zu dem von Caroti beschriebenen Muster gehen aber noch weiter. Einer der großen Wendepunkte des Romans ist der Moment, als Ship auf Freyas Drängen offenbart, dass ursprünglich zwei Schiffe unterwegs nach Aurora waren. Das Schwesterschiff wurde aber nach 68 Jahren Reise zerstört; die Gründe hierfür sind nicht restlos geklärt, wahrscheinlich waren kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Fraktionen an Bord die Ursache. Auch bei Robinson führt das Setting des Generationenschiffs somit fast zwangsläufig zu unkontrollierter Gewalt. Zentraler Konfliktpunkt war in beiden Schiffen die Maximalgröße der Population und damit verbunden die Frage, wer wie viele Kinder haben darf. Dies führte zu bewaffneten Konflikten mit zahlreichen Toten, der aber in einem Schiff wahrscheinlich noch schneller und dramatischer eskalierte.

Als Reaktion auf diese Katastrophe raufte sich die Besatzung des überlebenden
Schiffs zusammen und führte ein System repräsentativer Demokratie sowie zahlreiche neue Sicherheitsmaßnahmen ein; so sind die 3D-Drucker des Schiffs seither nicht mehr in der Lage, funktionsfähige Waffen herzustellen. Aber auch die AI wurde mit neuen Kompetenzen und Aufgaben versehen. Von nun an war es an ihr, eine erneute Katastrophe zu verhindern. Dass Ship so resolut in den neuen Konflikt eingreift, ist die direkte Folge dieser Neuprogrammierung.

Neben diesen Vorkehrungen, die eine totale Eskalation in Zukunft verhindern sollte, einigte man sich zudem auf einen Aussöhnungsprozess, der unter anderem ein „structured forgetting“ umfasste:

At that time, it was agreed that the vulnerability of the ship to destruction by a single person was so great, that just knowing it had happened created the danger of someone committing what they called a copycat crime, perhaps when mentally deranged. […] It was also agreed to erase all records of the other starship from accessible files, and to avoid telling the children of the next generation about it. This proscription was generally followed, although we noted that a few individuals conveyed a verbal account of the incident from parent to child. (235f.)

Das klassische Muster wird somit umgedreht: Das „forgetfulness pattern“, das bei Heinlein Folge des zivilisatorischen Niedergangs ist, wird bei Robinson zum bewussten Akt und zum Garanten für ein konfliktfreies Zusammenleben. In beiden Fällen handelt es sich dabei um verbotenes Wissen, welches sich die Protagonisten mühsam erkämpfen müssen. Ship weigert sich zuerst standhaft, Freya aufzuklären, und lüftet das Geheimnis nur zögerlich.

Zwar ist es längst ein Klischee, in jedem halbwegs interessanten Roman eine narrative Meta-Reflexion zu sehen, aber Aurora ist mindestens so sehr ein Buch über das Wesen des Erzählens wie über die Unmöglichkeit der interstellaren Raumfahrt. Schließlich geht es beim „forgetfulness pattern“ ebenfalls um die Bedeutung des Erzählens. Eine Gesellschaft definiert sich durch Tradierung, durch das Weitergeben – oder eben das Vergessen – von Geschichten. Nicht anders beim einzelnen Menschen: Wer wir sind, unser individuelles Wesen, ist in hohem Maße durch unsere persönliche Geschichte bestimmt; durch die Dinge, an die wir uns erinnern und weitererzählen, durch die Lebenserzählung, die jeder für sich selber verfertigt. Auch Ship ist die Summe seiner eigenen Erzählung, einer Erzählung, die mit der Katastrophe des Jahres 68, also just dem Ereignis, das die Besatzung des Schiffes vergessen will, ihren Anfang nimmt, und mit Devis Auftrag, die Geschichte ihrer Reise zu erzählen, dann Form erhält. Und im Erzählen wächst Ship allmählich zu einer Persönlichkeit heran, mit der wir als Leser eine emotionale Bindung aufbauen können.

Mit Aurora hat Kim Stanley Robinson einen Roman geschrieben, der den bekannten Generation-Starship-Plot neu interpretiert. Dass er das Motiv des
Generationenschiffs quasi gegen sich selbst richtet und als Beweis dafür anführt, dass uns die Weiten des Alls für lange Zeiten verschlossen sein werden, ist trotz möglicher Einwände ein faszinierendes Manöver. Fast noch interessanter scheint mir aber, wie er die Figur von Ship nutzt, um über den Akt des Erzählens nachzudenken.

Robinson, Kim Stanley. Aurora. New York: Orbit, 2015. 528 Seiten, Softcover. 8,99 €. Erhältlich bei Amazon.

Zitierte Werke

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Benford, Gregory. „Envisioning Starflight Failing“. Centauri Dreams. 31.07.2015. Web. 05.08.2016. <http://www.centauri-dreams.org/?p=33736>.

Canavan, Gerry und Kim Stanley Robinson, Hg. [easyazon_link identifier=”0819574279″ locale=”DE” tag=”utopia2016-21″]Green Planets. Ecology and Science Fiction[/easyazon_link]. Middletown: Wesleyan UP, 2014.

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