Von falschen und richtigen Bedürfnissen [Newtopia 2]

Ich bin nicht hier, um auf Luxus zu verzichten.

Reality-Shows folgen ebenso dramaturgischen Grundsätzen wie fiktionale Programme und sind deshalb auf Figuren mit klaren Konturen angewiesen, die möglichst im Konflikt miteinander stehen. Nur so entsteht Dramatik, Handlung. Entsprechend werden die 15 Pioniere von Newtopia inszeniert. Fitness-Trainer und Modell Hans kommt derzeit die Rolle des egoistischen Idioten zu, der sich schon mit seinem ersten Statement – dem Wunsch nach Trainingsanzug und Joggingschuhen – unmöglich gemacht hat. Im gleichen Stil geht es weiter: Hans nimmt keine Rücksicht auf die anderen und isst, wozu er Lust hat – Eier, Bohnen, etc. Das führt natürlich zu Konflikten.[ref]Da die rund 50-minütige Sendung, die Sat.1 jeden Abend zeigt, einen Spannungsbogen haben muss, werden entsprechende Szenen natürlich besonders gerne gezeigt. Es wäre durchaus interessant, ob sich aus dem vorhandenen Material auch eine Gegenerzählung konstruieren liesse; etwa Hans als fürsorglicher Freund, der allen uneigennützig beisteht.[/ref]

Im Vordergrund steht bei Newtopia die Unterhaltung, doch wird im zugrunde liegenden Konflikt und in Hans’ Aussage, dass er nicht auf Luxus verzichten will, ein typisches Motiv der klassischen Utopie sichtbar. Luxus ist den klassischen Utopien suspekt. Die Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Bedürfnissen ist fester Bestandteil der Gattung. Während in der realen Welt alle nur an Geld, Ruhm und Macht interessiert sind, werden im utopischen Staat die wahren Werte hoch gehalten. Alle kriegen, was sie wirklich brauchen, falsche Bedürfnisse, die einem ohnehin nur von der fehlgeleiteten Gesellschaft eingeimpft werden, sind unbekannt.

Hans frisiert seinen Bart.

Hans plädiert für die Luxus-Utopie.

Es gibt eine lange Tradition der utopischen Genügsamkeit; Güter werden gleichmässig durch den Staat verteilt, Kleider und Bauten sind zweckmässig und schlicht – oft auch einheitlich gehalten. Es herrscht ein spartanisches Schönheitsideal. Schmuck und anderer Tand ist meist verpönt. In Utopia wird Gold so gering geschätzt, dass man daraus Nachttöpfe fertigt.

Es gibt durchaus Ausnahmen; in Francis Bacons Fragment Nova Atlantis, einem der frühesten Nachfolger Morus’, werden ausführlich die aufwendig gewirkten, mit Edelsteinen besetzten Kleider der Würdenträger beschrieben. Und später, Ende des 19. Jahrhunderts, ist man einem nicht-asketischen Lebensstil auch nicht mehr so kategorisch abgeneigt. In Edward Bellamys Looking Backward (1888) wird ein riesiges Warenhaus als der glückselig machende Ort schlechthin inszeniert, der Kaufrausch wird zum utopischen Gefühl. William Morris lehnt die von Bellamy zelebrierte Massenfertigung in seinem News from Nowhere (1890) zwar entschieden ab, auch er ist aber das Gegenteil von sinnesfeindlich. Vielmehr zeichnet sich seine Welt gerade durch ihre Schönheit aus.

Insgesamt überwiegt aber die Idee der Beschränkung. Wenn alle optimal versorgt werden, gehören viele soziale Probleme der Vergangenheit an, dann gibt es keinen Grund mehr, sich auf Kosten anderer zu bereichern. Die Schwierigkeit liegt allerdings darin, dass die Meinungen auseinandergehen, welches nun die wahren Bedürfnisse sind – wie auch das Beispiel Newtopia zeigt: Hans will zum Frühstück ein Ei, egal, was die anderen wollen. Dass die Ernährung einer der Hauptkonfliktpunkte, ist freilich nicht weiter erstaunlich. Nur weniges macht so sauer wie Unzufriedenheit über das Essen. Das kennt man bereits aus dem Schullager.  Unter den Frauen ist dagegen  – so viel Sexismus muss sein – bereits ein Streit um Make-up entbrannt.

Während sich ein Teil der Pioniere also um Eier und Rouge streitet, beharren andere unverdrossen darauf, dass der Aufbau einer neuen Gesellschaft mit neuen Werten einhergehen muss. Politologie-Penner Candy formuliert das Problem folgendermassen: «Jeder transportiert seine Bedürfnisse von aussen in die neue Welt.» Und Hans würde dem wohl auch nicht widersprechen. Sehr schön seine Aussage, am besten wäre es doch, wenn die Pioniere so viel Geld verdienen würden, dass sie sich das ganze Essen von aussen bestellen könnte. Utopie ist für Hans, wenn ich im bestehenden System genug Geld habe.

Legte ebenfalls Wert auf Bartpflege: Francis Bacon.

Legte ebenfalls Wert auf Bartpflege: Francis Bacon.

Die klassischen Utopien sehen das freilich etwas anders, und wissen auch, wie man die richtigen Werte in einer Gesellschaft verankert. Eine zentrale Rolle kommt der Erziehung zu. Wenn einem von klein auf die richtigen Werte beigebracht werden, wenn man in einer Welt aufwächst, in der alle gleich gekleidet sind und ihr Geschäft auf goldenen Nachttöpfen verrichten, ist immun gegen alle Versuchungen. Der utopische Glaube an die Pädagogik ist fast grenzenlos (eigentlich hat man uns doch beigebracht, dass Geld nicht glücklich macht). Worüber sich die meisten Autoren ausschweigen, ist, was in der Zeit geschah, bevor die utopische Ordnung schon installiert wurde. Was ist mit all jenen, die noch die falschen Werte internalisiert haben. Mit anderen Worten: Wo bleibt Hans, wenn die Utopie dereinst Wirklichkeit ist? Im Grunde gibt es nur eine Lösung – wer sich nicht an die utopische Ordnung anpassen will, muss gehen oder wird liquidiert. Trübe Aussichten für Hans …

Utopia Is Televised

In der Utopieforschung gehört es zu den Standard-Wendungen, darauf zu beharren, dass die Utopie entgegen anders lautenden Behauptungen alles andere als tot sei. Und tatsächlich: Vielleicht liegt es ja nur an meiner erhöhten Sensibilität für das Thema, aber mir scheint, dass keine Woche vergeht, in der ich nicht über einen Feuilleton-Artikel, eine Ausstellung oder sonst eine Veranstaltung stolpere, in der es um Utopien geht. Und als hätte es noch der Bestätigung bedurft, dass die Utopie allgegenwärtig ist, hat Thomas Morus’ altehrwürdige Gattung nun auch noch die Niederungen des Reality-TVs erreicht.

Das Newtopia-Logo

Wenn das Thomas Morus wüsste …

Newtopia, das seit Anfang dieser Woche auf Sat.1 läuft, ist ein Format der Firma Endemol, mit Big Brother für die Mutter aller Reality-TV-Formate zuständig (Bruder – Mutter, ist das nun ein besonders cleveres oder ein besonders doofes Wortspiel?).[ref]Newtopiaist bereits der dritte Aufguss der Sendung. Das holländische Original läuft anscheinend nach wie vor mit großem Erfolg. Die US-amerikanische Version von Fox, die wie das Original noch Utopia hieß, wurde nach anfänglichem großem Tamtam bereits nach wenigen Folgen eingestellt.[/ref] Newtopia ist der Versuch, dieses nicht mehr ganz taufrische Sendungkonzept mit neuen Ingredienzen wieder attraktiv zu machen. Zu diesem Zwecke werden 15 Freiwillige ein Jahr lang auf ein abgetrenntes Gelände verbannt, das mit rudimentärster Infrastruktur – ein Stall, zwei Kühe, ein paar Hühner, ein Teich, Ackerland, Mobiltelefon, 5000 Euro – ausgerüstet ist. Einziger Hightech: Es hat überall Kameras. Was das Grüppchen daraus macht, wie sie sich organisieren, ist ihre Sache – «Totales oder Glück oder totales Chaos», wie es zu Beginn der ersten Folge so schön heisst.

Der utopische Gehalt der Joggingschuhe

Natürlich liegt der Reiz von Newtopia wie bei anderen Reality-TV-Formaten auch primär im Zwischenmenschlichen. Hinter der Auswahl der Kandidaten steht einiges Kalkül; gewisse Fähigkeiten müssen abgedeckt sein, deshalb gehören unter anderem ein Landwirt, ein Koch und ein Handwerker zur Truppe. Ebenso klar ist aber, dass gewisse Leute nur mit dabei sind, weil sie für Reibereien sorgen werden. So etwa der 44-jährige Candy – ausgesprochen «Sandy» –, der sich selbst zwar als Politikwissenschaftler bezeichnet, der aber mehr wie eine Mischung aus faulem Althippie und asozialem Penner wirkt. Oder die Studentin Karolina, die zum Auftakt gleich verkündet, dass sie es nicht zulassen wird, dass in Newtopia Tiere geschlachtet werden. Der Konflikt mit Bauer Christian scheint vorprogrammiert. Und dann dürfen natürlich auch Leute vom Schlag eines Hans – Modell, Fotograf und Fitness-Trainer – nicht fehlen, die durch sagenhaft dumme Statements auffallen. Im Falle von Hans die Aussage, dass er vor allem anderen einen Trainingsanzug und Joggingschuhe brauche (logisch: Ist eine bessere Gesellschaft ohne fachkundig durchgeführte körperliche Ertüchtigung denkbar?). Soweit als das bekannte Prinzip: Als Zuschauer lehnt man sich bei Nüsschen und Bier zurück und mokiert sich über die Beschränktheit der Newtopier.

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Candy, der arbeitsscheue Politologe

Zwar geht es in Newtopia vorderhand um den Aufbau einer neuen Gesellschaft, da dies aber wohl nicht interessant genug ist, hat man alle möglichen Schikanen eingebaut. So wird jeden Monat ein Pionier durch das Publikum abgewählt und mit einem neuen ersetzt, was sehr deutlich zeigt, dass typische Gameshow-Aspekte letztlich wichtiger sind als der Aufbau einer neuen Gesellschaft. Zudem ist die Anlage weder mit Strom oder Wasser verbunden – beides müssen die Pioniere, wie sie offiziell heissen, selbst besorgen. Auch sonst gibt es allerhand Beschränkungen, die nicht aus der Anlage des Experiments – so die Selbstzeichnung – folgen, sondern einzig dramaturgische Gründe haben. Beispielsweise das erste Treffen vor Ort, wo den Pionieren eröffnet wird, das sie noch einmal nach Hause gehen dürfen, um lebenswichtige Dinge einzupacken. Der Haken: Um sich abzusprechen haben sie lediglich eine halbe Stunde Zeit, für die eigentliche Packaktion dann nur noch 15 Minuten,. Zudem darf jeder nur so viel mitnehmen, wie in eine nicht allzu große Kiste passt. Man würde ja meinen, dass für die Gründung einer neuen Gesellschaft etwas mehr Vorarbeit und Absprache nötig wäre, aber mit klaren Deadlines erzeugt nun mal mehr fernsehtaugliche Dramatik.

Sieht man mal über die offensichtliche Idiotie des Settings hinweg und betrachtet das Ganze mit dem Wissen über die Geschichte der Utopie im Hinterkopf, zeigen sich dennoch ein paar interessante Dinge. Da wären einmal die typischen Phrasen: «Ich träume von einer besseren Welt.» – «Es gibt eine bessere Welt als die  draussen». Und so weiter. Ernst Bloch wird’s freuen: Der utopische Impetus ist lebendig.

Utopie im Aufbau

Newtopia zeigt eine Phase, die in den literarischen Utopien typischerweise fehlt, nämlich die des Aufbaus. Normalerweise sind die utopischen Staaten bereits fertig und voll funktionsfähig – wie sie zustande gekommen sind, bleibt unklar. Newtopia ist diesbezüglich durchaus instruktiv, weil sich bereits hier das Grundproblem der klassischen Utopie zeigt: Die Ansichten über die ideale Gesellschaftsform gehen auseinander, und das eigentliche Problem liegt darin, hier einen Konsens zu erreichen.

Kriegsrat in Newtopia

Die Pioniere beim «Demokratie-Scheiß-Gelaber».

Sehr schön in diesem Zusammenhang eine der ersten Gruppensitzungen in der zweiten Folge: Eigentlich sollen praktische Dinge besprochen werden, aber sogleich landen einige Pioniere bei grundsätzlichen Fragen: Was für ein System haben wir eigentlich? Wird demokratisch abgestimmt, gibt es Hierarchien, Führungspositionen? Und soll man solche Fragen gleich zu Beginn diskutieren, weil aus ihnen alles andere folgt, oder wäre es nicht besser, sich mal aufs nackte Überleben zu konzentrieren und derartige Luxusprobleme später anzugehen. Ebenfalls sehr schön die Reaktion von Jogging-Enthusiast Hans: Nach kurzer Zeit hat er genug und läuft davon – «Ihr habt die Diskussion kaputt gemacht mit Eurem Demokratie-Scheiss-Gelaber». Ein bisschen mehr Debattierfreude ist wohl nötig, wenn man eine neue Gesellschaft errichten will.

Was ebenfalls schnell klar wird: Die Rahmenbedingungen sind so gesetzt, dass der effektive Gestaltungsspielraum für die Newtopier sehr eingeschränkt ist. Da die Ressourcen knapp sind, wird es nicht ohne Handel mit der Außenwelt gehen. Dazu braucht es Geld und dieses kriegt man nur mit Geschäftsideen. Mit anderen Worten: Eine echte Alternative zu einem kapitalistischen System haben die Pioniere gar nicht. Als autarke, von der Umwelt weitgehend abgetrennte Inseln umgehen die klassischen Utopien dieses Problem, Newtopia dagegen ist so konzipiert, dass es nicht selbstversorgend ist.

Zumindest zwei Pionieren ist dieses Problem durchaus bewusst. Sowohl der verpennte Candy als auch der äußerst rührige Steffen (Beruf: Hartz-IV-Empfänger) fragen immer wieder, ob es denn wirklich darum gehen kann, die Werte von «draußen» zu reproduzieren, oder ob eine neue Gesellschaft nicht auch neue Werte braucht. Auch damit sind wir wieder bei einem Grundproblem jeder Utopie.

Anders als die US-Version wird Newtopia täglich ausgestrahlt. Mal schauen, wie lange ich am Ball bleibe.