Die Macht der Nostalgie

Der jüngsten Star-Wars-Episode wurde schon viel, sehr viel Tinte, Druckerschwärze und Bits gewidmet. Etwas Neues zum Film selbst lässt sich kaum noch sagen. Dieser Blogeintrag ist deshalb auch nicht als  Kritik im eigentlichen Sinne gedacht, vielmehr möchte anhand des Films über gewisse Entwicklungen in der Rezeption und Vermarktung von Blockbustern nachdenken.

John Boyega

Von wegen keine Neuerungen: Es gibt einen schwarzen Stormtrooper,

Vorausgeschickt sei, dass ich mich nie wirklich für Star Wars begeistern konnte. Das mag damit zusammen hängen, dass ich relativ spät in den Genuss der Filme kam. Tatsächlich bin ich noch nicht einmal sicher, wann ich die drei Urfilme zum ersten Mal gesehen habe, was bereits illustrieren dürfte, wie wenig sie mich beeindruckt haben. Wenn Fans davon schwärmen, wie sie als Kinder von Star Wars verzaubert wurden, wie sehr sie die magisch-naive Art der Filme lieben, dann kann ich dazu nicht allzu viel sagen. Kommt hinzu, dass mir einige Formen des gemeinen Fantums ohnehin ziemlich fremd sind. So geht mir die für Fans typische Sammel- und Komplettheitswut, die dazu führt, dass man alles liest, sammelt und weiss, was zu einem bestimmten fiktionalen Kosmos gehört, weitgehend ab.

Im All nichts Neues

Ich bin somit alles andere als der ideale Star-Wars-Zuschauer. Umso interessanter finde ich es zu beobachten, wie in SF-Foren sowie in sozialen und anderen Medien über den Film gesprochen wird. Besonders auffällig ist dabei, welche Ausmasse die Spoiler-Panik im Falle von The Force Awakens angenommen hat. Mittlerweile wird man als Filmjournalist sogar vom Verleiher dazu angehalten, auf Spoiler in der Berichterstattung zu verzichten. Seltsamerweise scheint dies just bei den Filmen zu geschehen, bei denen es ohnehin wenig bis nichts zu spoilern gibt; so etwa jüngst bei Spectre und eben The Force Awakens.[ref]Siehe zu Spectre meine Spoiler-Kolumne sowie meine Rezension.[/ref] Mir ist sowieso nicht ganz klar, warum so viele Leute der Meinung sind, die Qualität eines Filmerlebnisses hänge primär davon ab, dass man von der Geschichte überrascht wird. Als ob ein Film nicht noch sehr viel anderes und vor allem mehr wäre als bloss der Plot.[ref]Stefan Höltgen bringt dies in einem Artikel auf Persepolis auf den Punkt: «Für einen Cineasten hingegen ist es traurig, dass Film dort, wo er erzählerisches Unterhaltungskino geworden ist, auf diese beiden Elemente reduziert wird: Auf das Sagen und Handeln der Protagonisten. Beides könnte aus dem Drehbuch herausgelesen werden und Film wäre damit nicht mehr als ein Roman (von dem man bekanntlich auch nicht allzu viel vorab verraten bekommen möchte). Die Misere des Experimentalfilms ist vor allem damit zu erklären, dass er nicht ‹erzählt› und damit nacherzählbar ist. Dass all die anderen ästhetischen Elemente eines Films in den Hintergrund geraten, hat sowohl Tradition als auch Kalkül: Über nichts von einem Film lässt sich ohne Fachkenntnisse besser sprechen als über den Plot, weshalb jeder Historiker ein passabler Film(plot)kritiker werden kann, wenn er Plots wie Quellen strukturieren und analysieren gelernt hat».[/ref] Im Falle von Mega-Blockbustern wie den jüngsten Abenteuern von James Bond respektive Luke Skywalker und Co. – ist mit der Nennung des Namens bereits etwas verraten? – wird das Spoiler-Getue aber regelrecht grotesk. Denn wenn diese Filme etwas nicht bieten, dann sind es Neuerungen auf inhaltlicher Ebene.

Daisy Ridley

Luke ist nun weiblich,

The Force Awakens – da scheinen sich Kritiker und Befürworter weitgehend einig – ist im Wesentlichen ein Neu-Arrangement von Elementen des ersten Star-Wars-Films von 1977. Ob man das nun Pastiche, Re-Interpretation oder Beinahe-Remake nennt – es kommt immer aufs Gleiche raus: Auf der Handlungsebene folgt J.J. Abrams dem Urfilm fast schon sklavisch. Was ich dabei faszinierend finde, ist, dass dies von vielen Fans nicht nur nicht abgelehnt, sondern vielmehr begrüsst wird. Bei The Force Awakens scheinen viele gängige Bewertungskriterien hinfällig zu werden: Originalität, Unstimmigkeiten im Plot, logische Fehler – alles egal. Was zählt, ist einzig, ob es dem Film gelingt, das sagenhafte Gefühl der Verzauberung von Anno dazumal hervorzurufen (dass damit der Plot und somit auch die Angst vor Spoilern weitgehend irrelevant wird, sei hier nur am Rande noch einmal erwähnt). Adam Roberts formuliert es mal wieder treffend:

They [the Star Wars fans] don’t want anything that deviates so far from the original template. Indeed, I’d go so far as to suggest that they’re not interested in the film as such. They are interested in recapturing a certain feeling they experienced once upon a time when watching another film.

Um was es in anderen Worten geht, ist Nostalgie.

Adam Driver

die neue Ausgabe von Darth Vader hat einen gepimpten Lightsaber,

Der wehmütige Blick zurück

Dass die Science Fiction – oder vielleicht eher das Dasein des SF-Fans – einen stark nostalgischen Zug besitzt,[ref]Ja, ja, ich weiss: Star Wars ist gar nicht SF, sondern Fantasy, Märchen, Western, denn die Force, «a long time ago in a galaxy far far away», campbelsche Heldenreisen etc. etc. Dass die Fantasy-Elemente in Star Wars wichtig sind, ist offensichtlich. Ebenso offensichtlich ist aber auch, dass sich die Reihe einer SF-Ästhetik bedient. Innerhalb des Kontinuums zwischen SF und Fantasy liegt Star Wars ziemlich genau auf der Mitte und ist somit – wenn man den Begriff für sinnvoll hält – ein Paradebeispiel für Science Fantasy.[/ref] zeigt sich nicht erst seit Filmen wie Tomorrowland, die den hoffnungsvollen Blick in die Zukunft mit der Sehnsucht nach der eigenen Kindheit verwechseln (siehe dazu hier und hier). Die genretypische Nostalgie kommt auch in dem in SF-Kreisen oft zitierten Ausspruch «The Golden Age of science fiction is twelve» zum Ausdruck.[ref]Dieses Zitat wird oft David Hartwell zugeschrieben, scheint aber bedeutend älter. Anscheinend stammt es aus einem Artikel von Peter Graham, der 1957 in dem Fanzine Void erschien.[/ref] Das im SF-Jargon gemeinhin als Sense of Wonder (Sow) bezeichnete Gefühl erhabener Ergriffenheit, das sich einstellt, wenn man von einer SF-Geschichte völlig in den Bann gezogen wird und sich mit einem Schlag ganze Welten eröffnen, ist eine typische Adoleszenz-Erfahrung. Ein nicht unwesentlicher Teil des Fan-Daseins kann als Versuch verstanden werden, diesem Initiationsmoment wieder nahe zu kommen. In Die Konstitution des Wunderbaren schreibe ich dazu:

Der SoW ist keine Empfindung, die alleine der SF vorbehalten wäre, wahrscheinlich steht er als Grunderfahrung am Beginn jeglicher Liebe zur Kunst – vielleicht sogar der Liebe überhaupt. Und wahrscheinlich erwächst aus ihm ebenso romantisierende Nostalgie wie jene bornierte Rückwärtsgewandtheit, die überzeugt ist, dass früher grundsätzlich alles besser war. Wenn dem so ist und wenn die SF, wie ich in dieser Studie versucht habe darzulegen, dank ihres Wesens und Funktionierens besonders dazu geeignet ist, den SoW zu erzeugen, dann scheint SF kein Modus des visionären Vorwärtsschauens zu sein, sondern vielmehr des wehmütigen Blicks zurück, zurück in jene Zeit, als die Zukunft noch jung war und alles möglich schien (333f.)

Zweifellos ist dies nicht die einzige Art und Weise, SF zu rezipieren, und natürlich gilt diese Beschreibung längst nicht für alle Fans. Aber wenn The Force Awakens etwas unter Beweis stellt, dann, wie stark dieses nostalgische Verlangen vielerorts offensichtlich ist.

BB-8

und der knuddlige Roboter ist noch knuddliger geworden.

Aus ökonomischer Perspektive ist bemerkenswert, wie sehr eine solche Rezeptionshaltung den Interessen der Unterhaltungsindustrie entgegenkommt. Vermarktungstechnisch sind Fans ohnehin eine attraktive Zielgruppe, da sie sich nicht nur die Filme ansehen, sondern auch Abnehmer für alle möglichen Arten von Merchandising und Tien-ins sind. Auch hierfür ist Star Wars das Lehrbuchbeispiel; George Lucas hat das moderne Merchandising zwar nich erfunden, er hat es aber auf eine neue Intensitätsstufe gehoben. Und wenn die Fans wie im Falle von Star Wars regelrecht danach verlangen, dass alles beim Alten bleibt, ist aus Sicht der Produzenten so etwas wie ein Idealzustand erreicht. Disney respektive J.J. Abrams müssen nicht einmal so tun, als würden sie etwas Neues erzählen. Dass sie sich weitgehend darauf beschränken, die altbekannte Geschichte zu rezyklieren, wird hier zum Qualitätsmerkmal. Der Blockbuster im Zeitalter seiner ewigen Reproduzierbarkeit.

Rian Johnson, der als Regisseur für Episode VIII vorgesehen ist, dürfte es allerdings schwerer haben als Abrams. The Force Awakens kam unter anderem das schlechte Image der zweiten Trilogie zugute. Der allgemeine Konsens lautet, dass George Lucas mit diesen Filmen dem Geist der ersten Trilogie untreu wurde,[ref]Das Image von Lucas innerhalb der Star-Wars-Welt unterscheidet sich markant von dem anderer Saga-Begründer. Im Falle von Star Trek etwa lautet die gängige Formel, dass deren Erfinder Gene Roddenberry seine völkervereinende Vision mühsam gegen die Widerstände von einzig auf kommerziellen Erfolg ausgerichteten Managern durchsetzen musste. Alles, was einem an der Serie nicht passt, ist somit nicht Roddenberrys Fehler, sondern kann bösen Kräften angelastet werden. Dieses Muster ist im Fandiskurs oft anzutreffen: Es gibt eine mythische Frühphase, in der Autoren und Fans noch auf Augenhöhe miteinander verkehren und eine gemeinsame Vision teilen. Früher oder später setzt aber eine Degeneration ein, die geliebte Serie wird Mainstream, kommerzialisiert und büsst in den Augen der Fans essenzielle Qualitäten ein. Zu Star Wars will diese Erzählung freilich nicht recht passen. Zum einen hat Lucas wie kein anderer die Kommerzialisierung seiner Erfindung vorangetrieben; zum anderen zeichnet er selbst als Regisseur für die misslungene zweite Trilogie verantwortlich. Der Schöpfer selbst ist der dunklen Seite anheim gefallen und taugt damit nicht mehr als Bewahrer der ursprünglichen Werte. Diese Rolle kommt nun alleine den Fans zu. Siehe dazu auch Die Konstitution des Wunderbaren, S. 326–330.[/ref] dass die ursprüngliche Magie abhanden kam. Nach dem neuen Film präsentiert sich die Situation nun anders; jetzt gibt es wieder einen Film, der sich richtig anfühlt, die Messlatte ist somit ungleich höher gesetzt. Zudem dürfte sich der Trick, den gleichen Film mit leichten Variationen noch einmal zu drehen, kaum wiederholen lassen, schliesslich muss die Geschichte von The Force Awakens ja weiter gehen und ein zweites The Empire Strikes Back dürfte trotz allem kaum machbar sein. Das wahre Pi­èce de Ré­sis­tance steht somit noch bevor.[ref]Siehe dazu auch den lesenswerten Artikel von Gerry Canavan der aufgrund eines Vergleichs mit Lord of the Rings zum Schluss kommt, dass die folgenden Star-Wars-Filme deutlich düsterer ausfallen könnten als The Force Awakens.[/ref]

Von Phantastik sprechen

Tzvetan Todorov

Todorov und kein Ende.

Die nächste Ausgabe der Zeitschrift für Fantastikforschung verspätet sich leider etwas und wird erst im neuen Jahr erscheinen. Gewissermassen zur Überbrückung der Wartezeit stelle ich nun meinen Artikel «Wovon wir sprechen, wenn wir von Phantastik sprechen» online, der in der letzten Ausgabe der ZFF erschienen ist.

Ich habe schon früher kurz über diesen Artikel geschrieben; es ist ein Versuch, die leidige Diskussion um den Phantastikbegriff, die seit der Veröffentlichung von Tzvetan Todorovs Einführung in die fantastische Literatur (das französische Original erschien 1970, die erste deutsche Übersetzung bereits zwei Jahres später)  in der deutschsprachigen Forschung mehr oder weniger heftig tobt, auf eine Meta-Ebene zu hieven. Ausgangspunkt ist die im Grunde nicht sonderlich neue Einsicht, dass Genredefinitionen kontextgebunden sind; jede Genredefinition, sei sie nun explizit oder – was häufiger der Fall ist – nur implizit, vollzieht sich vor dem Hintergrund eines Genrebewusstseins und ist somit auch nicht überzeitlich stabil.[ref]Siehe dazu den lesenswerten Text von Jörg Schweinitz. Als Filmwissenschaftler schreibt Schweinitz zwar über den Film, seine Überlegungen gelten aber ebenso für die Literatur.[/ref] Vielmehr sind Genres historisch und – abhängig von der jeweiligen «Benutzergruppe» – hochgradig wandelbar. Die zeitweise ziemlich erbittert geführte Diskussion, was Phantastik denn nun wirklich ist, erscheint vor dem Hintergrund der modernen Genretheorie als ziemlich sinnlose Angelegenheit.

Der ZFF-Artikel war nicht zuletzt der Versuch, das Thema Todorov zumindest für mich endlich abzuschliessen. Nach längeren Passagen in meiner Diss, einem ganzen Buch zum Thema sowie eben dem ZFF-Artikel glaube ich, eigentlich alles zum Thema gesagt zu haben. Frei nach Wittgenstein: «Worüber man schon alles gesagt hat, darüber muss man schweigen.»

Thomas Morus

Keine Liebe für Thomas Morus bei der GFF.

Mittlerweile bin ich aber bereits unsicher, ob ich diesem Vorsatz treu bleiben kann. Die nächste Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung, die vom 22. bis 24. September an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster stattfinden wird, läuft nämlich unter dem Thema: «The Fantastic Now: Tendenzen der Fantastikforschung im 21. Jahrhundert». Nun sind solche Schwerpunkte zwar nicht wirklich bindend, erfahrungsgemäss sind die Beiträge inhaltlich weitaus weiter gestreut als das eigentliche Tagungsthema. Dennoch bin ich nicht sonderlich begeistert über diesen Schwerpunkt. 2016 würde sich angesichts des 500-jährigen Jubiläums der Erstausgabe eines gewissen Buches eigentlich ein anderes Thema, das mir derzeit sehr viel näher steht – siehe auch die Adresse dieses Blogs – anbieten. Und wenn als erstes mögliches Vortragsthema im Call for Paper «Was ist ‹Fantastik›?» genannt wird, wirkt das auf mich fast ein bisschen, als wolle man die Forschungsgeschichte zurückdrehen und wieder zu den wenig ergiebigen Diskussionen rund um Todorov und die Frage, was Phantastik denn nun wirklich ist, zurückkehren. Ich bezweifle, dass hier noch viel Interessantes geleistet werden kann und verweise diesbezüglich ganz unbescheiden noch einmal auf meinen Artikel.

Wie ich gehört habe, äussert sich Todorov selbst übrigens seit Jahren nicht mehr zum Thema und lehnt alle entsprechenden Einladungen und Anfragen ab. Vielleicht nicht die schlechteste Strategie.

Literatur

Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Aus dem Französischen übers. von Karin Kersten, Senta Metz, Caroline Neubaur et al. Frankfurt a.\,M. 1992 (Original: Introduction à la littérature fantastique. Paris 1970).

Schweinitz, Jörg:«‹Genre› und lebendiges Genrebewusstsein. Geschichte eines Begriffs und Probleme seiner Konzeptualisierung». In: montage/av. Jg. 3, Nr. 2, 1994, 99–118. [→ PDF]

Spiegel, Simon: Theoretisch phantastisch. Eine Einführung in Tzvetan Todorovs Theorie der phantastischen Literatur. Murnau am Staffelsee 2010.

– : «Wovon wir sprechen, wenn wir von Phantastik sprechen». In: Zeitschrift für Fantastikforschung. Jg. 5.1, Nr. 9, 2015, 3–25. [→PDF]

Steven Pinker und die Utopie

Leben wir in finsteren Zeiten, oder ist die allgegenwärtige Klage über den dystopischen Zustand der Welt nur die Folge einer falschen Wahrnehmung? Für Letzteres plädiert Steven Pinker in einem Vortrag, den er vor einem Monat in Zürich hielt. Pinker ist mir aus meinem Germanistik-Studium als Linguist ein Begriff; sein Buch The Language Instinct[ref]Auf Deutsch: Der Sprachinstinkt.[/ref] war im Grundstudium Pflichtlektüre.

Mittlerweile beschränkt sich Pinker nicht mehr auf sein angestammtes Gebiet der Kognitionspsychologie, sondern ist zum Universaldenker avanciert, der sich zu den ganz grossen Menschheitsfragen äussert. So auch in Zürich, wo er auf Einladung des UBS International Center of Economics in Society einen Vortrag zu «The Past, Present, and Future of Violence» hielt, in dem er die wesentlichen Punkte seines Buches The Better Angels of Our Nature[ref]Auf Deutsch: Gewalt.[/ref] von 2011 präsentierte (der komplette Vortrag ist hier eingebettet).

Pinkers Kernthese ist schnell zusammengefasst: Allen Unkenrufen zum Trotz ist die Geschichte der Menschheit eine Erfolgsgeschichte, denn die Welt war noch nie so friedlich wie heute. Die täglichen Meldungen über kriegerische Konflikten, Terroranschläge und Amokläufe mögen darüber hinwegtäuschen, aber weltweit ist die Zahl der Opfer von Gewalttaten stark rückläufig ist. Egal, welche Statistik man heranzieht, Gewalt ist in so ziemlich jeder Ausprägung – seien es Kriege, Morde, Folter oder Todesstrafe – deutlich im Abnehmen begriffen.

The Better Angels of Our Nature

Der Linguist wagt sich an die ganz grossen Fragen.

Bevor ich zur obligaten Kritik komme, möchte ich doch festhalten, dass mir die Grundaussage Pinkers eigentlich sehr sympathisch ist. Wie ich hier schön früher geschrieben habe, halte ich unsere Gegenwart durchaus nicht nur für schlecht. Und wenn Pinker darauf hinweist, dass Krieg in Westeuropa während Jahrhunderten Normalzustand war, heute aber fast undenkbar scheint, oder dass Sklaverei und Folter, die mittlerweile weltweit geächtet sind, über Jahrtausende hinweg unbestrittener Bestandteil jeder menschlichen Kultur waren, dann relativiert das die Klage über die vermeintliche Unmenschlichkeit der kapitalistischen Gesellschaft schon etwas. Als Psychologe kann Pinker auch diverse Mechanismen benennen, die dazu führen, dass man entgegen der tatsächlichen Zahlen zum Eindruck gelangen kann, Gewaltverbrechen würden zunehmen.

Ebenfalls recht hat Pinker mit der Feststellung, dass Terroranschläge und Schulmassaker zwar schreckliche Ereignisse seien, im Vergleich mit einem «richtigen Krieg» im Grunde aber  als vernachlässigbar erscheinen. Nimmt man etwa den Vietnamkrieg als Referenz, dem je nach Schätzung zwischen 1.5 und 3.6 Millionen Menschen zum Opfer fielen, werden die 130 Toten der Anschläge von Paris – Pinkers Vortrag fand nur drei Tage nach den Attentaten statt – statistisch irrelevant.[ref]Was mich an Pinkers Vortrag nicht zuletzt irritierte, war, dass er es fertig brachte, in völlig apolitischer Weise über Gewalt und Terror zu sprechen. Zwar deutete er im anschliessenden Q&A an, dass angesichts der statistischen Vernachlässigbarkeit von Terroranschlägen militärische Reaktionen vollkommen unverhältnismässig seien. Die Toten, die etwa der Irak-Krieg auf beiden Seiten gefordert hat, stehen in keinem Verhältnis zur Zahl der Opfer des 11. Septembers. In Anbetracht der Kriegsrhetorik von François Holland wirkte seine Antwort aber sehr zahm und ausweichend. Gerade so, als wolle er bloss niemandem auf die Füsse treten.[/ref] Trotz aller Schreckensmeldungen ist unser Leben heute so friedlich wie noch nie.

Wie gesagt: Von der grundsätzlichen Haltung her ist mir das durchaus sympathisch, und es würde nicht schaden, wenn Fakten wie die zurückgehenden Mordraten in der politischen Diskussion vermehrt beachtet würden. Aber auch mein Wohlwollen ändert nichts daran, dass Pinkers Argumentation in so ziemlich jedem Punkt angreifbar ist.

Dass Pinker diverse Dinge zusammenwirft und seine Ausführungen nicht nur auf Kriege und Morde beschränkt, sondern auch das Abnehmen von häuslicher Gewalt und Repressionen gegen Homosexuelle sowie den boomenden Vegetarismus als Belege für den Rückgang von Gewalt anführt, hat schon fast etwas Drolliges. Weitaus heikler sind aber grundsätzliche methodische Probleme. Der MIT-Professor ist definitiv kein Historiker, sondern zuerst und vor allem ein positivistischer Zahlenhuber. Sein Vortrag ist denn auch im Wesentlichen eine Aneinanderreihung unzähliger Statistiken, Grafiken und Kurven, die stets das Gleiche illustrieren sollen: Alles wird immer besser.

Die Top 20 schrecklichsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte nach Steven Pinker.

Die Top 20 schrecklichsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte nach Steven Pinker.

Mit seinem umfangreichen Zahlenmaterial kann Pinker erstaunliche Zaubertricks vollführen. Spontan würde man beispielweise meinen, dass die beiden Weltkriege jeweils zu gigantischen Peaks in den diversen Kurvendiagrammen führen müssten.[ref]Die Schätzungen gehen naturgemäss auseinander, aber selbst konservative Ansätze gehen alleine für den Zweiten Weltkrieg von 50 Millionen direkten Kriesgtoten aus.[/ref] Pinker gelingt es aber, selbst diese statistischen «Ausreisser» zu relativieren, indem er nicht von absoluten Zahlen, sondern vom Verhältnis der Zahl der Kriegsopfer im Vergleich zur Weltbevölkerung ausgeht. So gemessen erreicht der Zweite Weltkrieg lediglich Platz 9 auf der Rangliste der opferreichsten Konflikte. Der erste Platz gebührt dagegen der An-Lushan-Rebellion im China das 8. Jahrhunderts.

Spätestens bei solchen Vergleichen wird offensichtlich, dass Pinker wenig Verständnis für quellenkritische Überlegungen hat. Denn natürlich ist es mehr als fragwürdig, ein über tausend Jahre zurückliegendes Ereignis auf diese Weise – vermeintlich – präzise zu erfassen und mit einem modernen Krieg zu vergleichen.

Interessanter als reine Statistik sind aber ohnehin die Erklärungen für den ausgemachten Trend: wenig überraschend bieten Pinkers Ausführungen reichlich Angriffsflächen. Ich möchte hier nicht im Detail auf die verschiedenen Gründe eingehen, die er für den Rückgang der Gewalt anführt, und beispielhaft nur einen rausgreifen. Pinker sieht in der Alphabetisierung eine Ursache für die Erweiterung dessen, was der Philosoph Peter Singer als «empathy circle» bezeichnet. Indem die Menschen Erzählungen lesen, lernen sie andere Standpunkte kennen und können sich deshalb besser empathisch in ihre Mitmenschen  einfühlen. Das wiederum macht es schwieriger, in einem Fremden ein nicht-menschliches Wesen zu sehen, dem man jedes erdenkliche Leid antun kann. Das klingt zwar sehr nett, wird aber spätestens dann fragwürdig, wenn man sich konkrete Beispiele anschaut. So dürfte der Alphabetisierungsgrad im Deutschland der 1930er Jahre im weltweiten Vergleich sehr hoch gewesen sein. Doch auch eine blühende Literatur hat das Volk der Dichter und Denker nicht am Holocaust gehindert. Einzelne Ereignisse sind für Pinker aber nur als Datenpunkt in der grossen Statistik interessant; deshalb kann selbst ein Ereignis wie der Holocaust seine These nicht widerlegen.

Obwohl Pinker nicht so naiv ist zu behaupten, dass die von ihm erzählte Geschichte zwangsläufig so weitergehen muss, ist seine Argumentation doch stark teleologisch angehaucht. Es gibt einen grossen geschichtlichen Bogen, und alles, was diesem widerspricht, sind Einzelfälle, die von seiner Zahlenmühle erbarmungslos klein gerieben werden. Und Gegenbeispiele gibt es zuhauf. So kennen heute zwar tatsächlich (fast?) alle Länder zumindest nominell Folterverbote, wenn es aber darauf ankommt, sind sich selbst Staaten wie die USA nicht zu schade, zur Folter zu greifen. Zwar werden solche Praktiken mit juristischen Gutachten legitimiert, aber letztlich zeigt sich hier sehr deutlich: Ob und welche Form von Gewalt zum Einsatz kommt, hängt weitaus mehr von der spezifischen Situation als von einer übergreifenden geschichtlichen Logik ab. Der Historiker Jörg Baberowski bringt es in einem Interview in der aktuellen Ausgabe des Magazins des Tages-Anzeigers auf den Punkt: «Gewalt ist eine Ressource, derer sich jeder bedienen kann.» Und ob man sich ihrer bedient, hängt primär von der jeweiligen Konstellation ab.

Es gäbe noch einiges zu Pinkers Version der Weltgeschichte zu sagen, ich möchte hier aber nur noch auf einen Punkt eingehen, der auch der Grund ist, warum ich ihm einen Blogeintrag widme. Pinker äussert sich auch zu Utopien, denn in diesen sieht er eine der Ursachen für Gewalt. Anhänger von utopischen Ideologien wähnen sich im Besitz der alleinigen Wahrheit, was sie zu jeglicher Gewalttat ermächtigt. Denn wer meint, im Namen einer höheren Gerechtigkeit zu agieren, kann jede Handlung rechtfertigen. Kommt hinzu, dass Utopien nicht vom Individuum, sondern von einer harmonisch funktionierenden Gesellschaft ausgehen. Der Einzelne ist nur ein Rädchen im grossen sozialen Getriebe. Wenn er den reibungslosen Ablauf stört, kann er im Interesse des utopischen Ganzen getrost eliminiert werden.

Karl Popper sieht in der Utopie den Ursprung des Totalitarismus.

Karl Popper sieht in der Utopie den Ursprung des Totalitarismus.

Diese Gleichsetzung von Utopie und Totalitarismus hat, wie bereits Rick Searle in seinem Blog dargelegt hat, eine lange Tradition. Ihr prominentester Vertreter ist Karl Popper, der in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945) eine direkte Linie von Platon über Morus, Hegel und Marx bis zu Sowjetterror und Nationalsozialismus zieht. Dieses Verständnis von Utopie hat freilich wenig mit dem Utopiebegriff zu tun, wie er etwa in der Literaturwissenschaft oder der Politologie verwendet wird, und wurde in der Vergangenheit schon oft kritisiert. Popper und Pinker ignorieren die Tradition der anarchistischen Utopie – siehe dazu den Eintrag zu News from Nowhere – komplett und gehen zudem davon aus, dass Utopien zur Umsetzung gedacht sind, was sie in der Mehrheit der Fälle nicht sind.[ref]Es wäre zudem nicht nur danach zu fragen, inwieweit die sowjetische Einparteiendiktatur noch etwas mit Marxʼ Theorie zu tun hatte, sondern auch, inwiefern Kommunismus und Nationalsozialismus tatsächlich utopische Projekte sind. Marx und Engels taten die utopischen Entwürfe der Frühsozialisten Charles Fourier, Henri de Saint-Simon und Robert Owen als realitätsfremde Träumereien ab, denen sie ihren «wissenschaftlichen Sozialismus» gegenüberstellten. In seiner Schrift «Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft» (1880) bezeichnet Engels die Frühsozialisten zwar als seinen geistige Vorläufer, kritisiert aber deren Entwürfe. Gerade die detaillierte Beschreibung mache diese als politische Programme wertlos: «je weiter sie in ihren Einzelnheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine Phantasterei verlaufen«. Die Nazis wiederum verfügten – nicht zuletzt im Vergleich zu den Kommunisten – über keine ausgearbeitete Gesellschaftstheorie.[/ref]

Was Pinker bei seiner Utopie-Kritik ebenfalls übersieht, ist, dass er selbst an einer grossen utopischen Erzählung bastelt. Das beginnt schon damit, dass er von einer klar definierten menschlichen Natur ausgeht, die ­– natürlich mit den Mitteln der kognitiven Psychologie – adäquat beschrieben werden kann. Die Utopie kann nur deshalb von sich behaupten, die beste alle Staatsformen zu sein, weil sie der wahren menschlichen Natur entspricht, und Pinkers Argumentation baut ebenfalls darauf auf, dass bei allem historischen Wandel so etwas wie eine überzeitliche menschliche Natur existiert, die sich mittels richtiger Massnahmen und politisch-sozialen Einrichtungen modellieren und in gewünschte Bahnen lenken lässt.[ref]Dass gerade die Frage, was denn die menschliche Natur ausmacht, historisch höchst unterschiedlich beantwortet wird, interessiert Pinker nicht. Eine Konzeption von Geschichten in Brüchen, wie sie etwa Michel Focault postuliert, scheint ihm gänzlich fremd.[/ref] Diese Überzeugung steht am Beginn jedes utopischen Entwurfs und ist für die Utopie letztlich von grundlegenderer Bedeutung als eine totalitäre Ausgestaltung des Staatsentwurfs.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Jörg Baberowski in dem bereits erwähnten Interview seinerseits gegen Pinker Stellung bezieht. Im Gegensatz zu Pinker versteht Baberowski explizit nicht als Abfolge von zwangsläufig auseinander hervorgehenden Ereignissen:

Wenn Historiker eine Geschichte erzählen, verknüpfen sie zufällig aus der Vergangenheit überlieferte Ereignisse kausal miteinander und unterstellen, ein Ereignis A habe ein später geschehenes Ereignis B verursacht. Aber es hätte auch alles anders kommen können.

Baberowski erteilt aber nicht nur grossen historischen Erzählungen eine Absage, er verneint zudem schlichtweg, dass es so etwas wie einen fortschreitenden Zivilisierungsprozess gibt:

Ich glaube nicht an die Verbesserung des Menschengeschlechts und die Erreichbarkeit des ewigen Friedens. Ich glaube nicht daran, dass man Menschen modellieren und zivilisieren kann.

Auch Baberoskwi könnte man manches erwidern; wo er aber sicher Recht hat, ist in der Kritik an Pinkers grosser Fortschrittserzählung. Pinker ist der Ansicht, dass gewisse historische Errungenschaften unumkehrbar sind, dass beispielsweise Sklaverei und Folter nie wieder zur Norm werden. Dies wirkt aus unserer aktuellen Perspektive durchaus überzeugend. Wir können uns in der Tat kaum vorstellen, dereinst wieder Sklaven zu halten oder öffentlichen Hinrichtungen und Verstümmelungen beizuwohnen. Allerdings ist das just das, was der IS derzeit vollführt. Pinker würde hier wohl einwenden, dass die Greueltaten des Kalifats vor allem auf einen propagandistischen Effekt abzielten – und dies mit Erfolg – , zahlenmässig aber kaum ins Gewicht fallen. Diese Argumentation hat durchaus etwas für sich, aber eine Gewissheit, dass sich die Geschichte so weiterentwickelt, wie von Pinker skizziert, gibt es dennoch nicht.

Pinkers Ansatz ähnelt dem von Francis Fukuyama nach dem Niedergang der Sowjetunion beschworenen «End of History», der Auffassung, dass die Geschichte der Menschheit zwangsläufig zum Triumph freiheitlicher Demokratien führen muss. Beide Autoren lehnen Utopien erklärtermassen ab, übersehen dabei aber, dass sie im Grunde selber von einem utopischen Endzustand ausgehen. Der entscheidende Unterschied zur klassischen Utopie ist dabei, dass ihre ideale Staatsform nicht erst realisiert werden muss, sondern angeblich bereits existiert. Ihre Utopie ist die Gegenwart.[ref]Antonis Balasopoulos, der in einem Artikel zwischen diversen Spielarten von Utopien, Dystopien und Anti-Utopien unterscheidet, zählt Fukuyamas Modell zu den so genannten «pre-emptive anti-Utopias». Diese zeichnen sich dadurch aus, dass «they explicitly suggest that existing reality is, in substance, already Utopian, and hence, that continuing dissatisfaction with it is implicitly or explicitly illegitimate or even dangerous» (62).[/ref]

Literatur

Balasopoulos, Antonis: «Anti-Utopia and Dystopia: Rethinking the Generic Field». In: Vlastaras, Vassilis (Hg.): Utopia Project Archive, 2006–2010. Athens 2011, 59–67.

Engels, Friedrich: «Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft» (1880). In: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke. Bd. 19. Berlin 1973, 177–228.

Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man. New York 1992.

Pinker, Steven: The Better Angels of Our Nature. The Decline of Violence in History and Its Causes. London 2011.

Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1: Der Zauber Platons. München 1975 (Original: The Open Society and Its Enemies, I. The Spell of Plato. London 1945).

– : Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2: Falsche Propheten. München 1980 (Original: The Open Society and Its Enemies, I. The High Tide of Prophety. London 1945).