The Maze Runner als Utopie

Wie immer gilt ein genereller Spoilervorbehalt.[ref]Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie leidet, sollte die entsprechenden Einträge somit besser meiden.[/ref]

The Maze Runner ist zwar beileibe kein Meisterwerk, das die Zeit überdauern wird, der Film hat mich insgesamt aber positiv überrascht und war kurzweiliger und weniger kitschig, als ich es erwartet hatte (siehe meine Kritik). Zudem bot er in Sachen Utopie einige interessante Elemente.

Wes Balls Film erzählt von einem jungen Mann, der in einem Fahrstuhl zu sich kommt, welcher ihn zu einem von hohen Mauern eingeschlossenen Stück Grünfläche – der Glade – transportiert. Thomas, so der Name des Protagonisten, hat wie die anderen Bewohner der Glade, die ihn bereits erwarten, sein Gedächtnis verloren. Er weiss weder, wer oder was er vorher war, noch, wer ihn hierher gebracht hat. Wie wir bald erfahren, wird die Lichtung jeden Monat via Fahrstuhl mit Nahrungsmitteln und Utensilien versorgt. Zusammen mit dem Nachschub ist jeweils auch ein neuer Junge ohne Erinnerung mit dabei.

Als wäre das nicht bereits mysteriös genug, öffnet sich jeden Morgen eine Türe in der Wand, die den Weg in ein riesiges Labyrinth frei gibt. Dieses Labyrinth führt zu einem Ausgang – zumindest sind die Bewohner der Lichtung davon überzeugt, gefunden hat man ihn bislang noch nicht. Deshalb machen sich die sogenannten Runners jeden Tag auf, um das Labyrinth abzulaufen. In der Hoffnung, dereinst den sagenumwobenen Ausgang zu finden.

Das Leben der kleinen Gemeinschaft ist derweil gut organisiert. Jeder hat seine Aufgabe, es werden Nahrungsmittel angepflanzt und Unterkünfte gebaut, man isst und feiert gemeinsam. Im Grunde gar nicht so schlecht, wenn da nicht die grosse Ungewissheit wäre sowie die unheimlichen Geräusche, die des Nachts aus den Tiefen des Labyrinths widerhallen. Diese stammen von den Grievers, die sich später als eine Art riesenhafte Cyborg-Spinnen entpuppen werden.

Lord of the Flies in der Verfilmung von 1963

Lord of the Flies in der Verfilmung von 1963

Die Halbwüchsigen-Kolonie erinnert an William Goldings mehrfach verfilmten Roman Lord of the Flies (1954). Bei Golding stranden britische Jugendliche auf einer pazifischen Insel und errichten dort bald ein Terrorregime. Die pessimistische Botschaft des Romans: Der Mensch ist eine Bestie, und selbst bestens erzogene britische Jünglinge werden zu Ungeheuern, wenn die normalen gesellschaftlichen Normen wegfallen. Der Roman kann in diesem Sinne als eine Art Radikaldystopie verstanden werden: Es braucht gar keinen Big Brother oder eine übermächtige Partei, um ein Schreckensregime zu errichten. Die Protagonisten des Romans besorgen das alleine – notabene vor dem Hintergrund eines Südseeparadieses.

Verglichen mit Lord of the Flies erscheint The Maze Runner als regelrechte Utopie. Zwar deutet Alby, der unbestrittene Anführer an, dass es in der Vergangenheit nicht immer so friedlich zu und her ging, mittlerweile scheinen die Bewohner der Glade aber eingesehen zu haben, dass sie nur durch Kooperation weiterkommen. So gibt es zwar kleine Rivalitäten und Rangeleien, insgesamt funktioniert das Gemeinwesen aber recht gut. Und es finden sich die üblichen utopischen Elemente wieder. Da wäre einmal ein radikaler Neuanfang. Das unausgesprochene Problem der meisten Utopien ist bekanntlich, wie man mit all den Menschen verfahren soll, die noch im degenerierten vor-utopischen System aufgewachsen sind und denen die richtige utopische Gesinnung fehlt. Die Antwort von Maze Runner: Indem man auch hier Tabula rasa macht und jede Erinnerung an die Vergangenheit auslöscht. Darin zeigt sich auch die für Utopie und Dystopie gleichermassen typische Geschichtslosigkeit.[ref]Paradigmatisch hierfür ist Nineteen Eighty-Four, wo die regierende Partei laufend die Geschichtsschreibung an die Gegenwart anpasst. Aber auch Utopien interessieren sich nicht sonderlich für die Vergangenheit, denn diese ist bloss eine minderwertige Vorstufe der bestehenden Gesellschaft und deshalb für die Gegenwart kaum noch von Relevanz. Mit der Errichtung der Utopie kommt die Geschichte an ihr Ende; «and if for many of us Utopia is grasped as political fulfillment of history, we tend to overlook an ‹end of history› internal to the Utopian texts» (Fredric Jameson: Archaeologies of the Future: The Desire Called Utopia and Other Science Fictions. London/New York 2007, 186).[/ref]  Weitere altbekannte Details sind die zentrale Organisation und Güterverteilung (eine Gesellschaft ohne Geld!) sowie gemeinsame Speise- und Wohnbereiche.

Die utopische Ordnung der Glade ruht auf mehreren Pfeilern: Zum einen sorgt der Fahrstuhl für den Nachschub lebenswichtiger Güter. Die Jungen-Kolonie scheint stets so gut versorgt zu sein, dass kein Kampf ums Essen stattfinden muss, zugleich herrscht aber auch kein Überfluss, der dazu führen könnte, dass jemand mehr besitzt. Die unsichtbaren Herrscher über Fahrstuhl und Labyrinth sind hier ganz und gar utopische Herrscher, die dafür sorgen, dass alle echten Bedürfnisse befriedigt werden.

Unbestrittener Anführer der Gemeinschaft ist Alby, der als erster mit dem Fahrstuhl nach oben geschickt wurde und einen ganzen Monat alleine überleben musste. Obwohl Probleme in der Gruppe diskutiert werden, ist er es am Ende, der kraft seiner Seniorität beschliesst, was zu tun ist. Was die Gemeinschaft zusätzlich zusammenhält, ist die Hoffnung, dereinst aus dem Labyrinth zu finden.

Da eine funktionierende Jungen-Utopie kein Thema für ein Film wäre, werden diese drei stützenden  Faktoren im Laufe des Films nach und nach ausser Kraft gesetzt: Nach der Ankunft von Thomas kommt der Fahrstuhl nur noch einmal nach oben. Dieses Mal mit einer jungen Frau sowie der Nachricht, dass dies die letzte Lieferung war.[ref]Die Figur von Teresa offenbart eine prüde Schwachstelle des Films: Sex ist in dieser Welt kein Thema. Es wäre ja durchaus interessant, wie eine Gruppe Jugendlicher, die alle voll im pubertären Saft stehen, mit ihren Trieben umgeht. Das Thema wird aber nicht einmal angedeutet. Und obwohl die Ankunft Teresas für Aufruhr sorgt, sind körperliche Begierden auch hier kein Thema. Für einen Moment dachte ich ja, dass die Nachricht, dass mit Teresa die letzte Lieferung erfolgt sei, als Aufforderung zu verstehen sei, dass sich die Gemeinschaft nun selber fortpflanzen müsse. Aber da habe ich den Film offensichtlich überschätzt.[/ref]

Kurz darauf erfährt Thomas, den es natürlich ins Labyrinth zieht, dass die Runner den Irrgarten längst abgelaufen haben – ohne einen Ausgang zu finden. Die Hoffnung auf Flucht war somit umsonst. Und schliesslich stirbt Alby. Die Folge: Ein Streit um das weitere Vorgehen und schliesslich um die Führerschaft.

Die Szene, in der Alby Thomas offenbart, dass er und die Runner schon lange wissen, dass es keinen Ausweg aus dem Labyrinth gibt, erinnert an das Konzept der edlen Lüge bei Plato. In dessen Politeia bedient sich die herrschende Philosophenkaste bei verschiedenen Gelegenheiten der Lüge, um die Bürger zu lenken. So wird etwa Paaren vorgegaukelt, dass sie durch einen göttlicher Zufall zusammengeführt wurden, in Wirklichkeit wurden sie von den Herrschern nach Zuchtkriterien ausgewählt. Es gibt nach Plato Situationen, in denen der weise Herrscher das Volk belügen muss, um den richtigen Entscheid umsetzen zu können. Offensichtlich ist Alby ebenso der Meinung, dass er im Interesse der Gemeinschaft handelt, wenn er geheim hält, dass es keinen Ausweg gibt (dass Thomas dann doch einen Ausgang finden wird, versteht sich von selbst).

Gally will die bestehende Ordnung aufrecht erhalten

Gally will die bestehende Ordnung aufrecht erhalten

Alby scheint davon überzeugt, dass die Gemeinschaft ohne die Hoffnung auf Rettung nicht funktionieren kann, allzu viel Zeit wendet der Film für dieses moralische Dilemma allerdings nicht auf. Auch Gallys Motivation, der nach Albys Tod zum Gegenspieler Thomas’ wird, wird nicht gross ausgeleuchtet. Dabei ist dessen Handeln durchaus nachvollziehbar. Denn bis zu Thomas’ Ankunft war das Leben in der Glade ja ganz angenehm; Thomas aber scheint die Ordnung aus dem Gleichewicht zu bringen. Mit dem Ergebnis, dass die Grievers in der Nacht die Glade heimsuchen. Die klassische Utopie ist statisch und ihr natürlicher Feind ist der Utopist, der eine neue Ordnung herbeiführen will – in diesem Falle Thomas, dem es gelingt, einen Griever zu zerstören. Es ist nur konsequent, dass Gally, der an Albys Ordnung glaubt, auf dem Status quo beharrt.

Und tatsächlich behält Gally Recht: Die zerstörte Welt, welche die wenigen Überlebenden am Ende des Films betreten, scheint in jeder Hinsicht schlechter als die Oase der Glade. Aber wir können wohl davon ausgehen, dass am Ende der Trilogie dann doch ein bessere Welt auf die Labyrinthläufer warten wird.

Mysteriöses

Da dieser Tage die neue Ausgabe der Zeitschrift für Fantastikforschung ausgeliefert wird, kann ich nun gemäss Abmachung mit den Herausgebern einen Artikel zugänglich machen, der in der vergangenen Ausgabe erschienen ist. In «Das große Genre-Mysterium: Das Mystery-Genre» befasse ich mich – welche Überraschung – für einmal nicht mit Utopien, sondern mit dem Mystery-Genre.

I- want-to-believe-Plakat

Mit The X-Files fing alles an.

Der Artikel geht auf einen Vortrag zurück, den ich im November 2011 an einer Tagung zur Fernsehserie Lost hielt.[ref]Ein Mitschnitt des – englischen – Vortrags findet sich hier.[/ref] Ich selbst war von Lost nie wirklich begeistert; zum einen fand ich – im Gegensatz zu anderen «Qualitätsserien – einige der Schauspieler wirklich schlecht. Vor allem aber hat mich das ständige Rätsel-auf-Rätsel-Türmen schon bald genervt. Ich war denn auch alles andere als überrascht, dass das Ende so unbefriedigend ausfiel.[ref]An der Tagung hielt unter anderem Roberta Pearson, die den ersten wissenschaftlichen Sammelband zu Lost herausgegeben hat, eine Keynote. Es war für mich einigermassen beruhigend zu hören, dass selbst Pearson die letzte Staffel nicht zu Ende geschaut hat, da ihr die Serie mittlerweile zu sehr auf die Nerven ging.[/ref] Dennoch sagte ich gerne zu, als man mich anfragte, etwas zum Mystery-Genre zu erzählen, denn für mich war das eine gute Gelegenheit, einer These nachzugehen, die ich schon lange gehegt hatte. Wie ich in dem Artikel argumentiere, ist der Begriff «Mystery», wie er heute im Deutschen meist verwendet wird – also als Bezeichnung für irgendwie seltsame Geschichten – im Wesentlichen eine Erfindung des Fernsehsenders ProSieben. Ich kann anhand zahlreicher Quellen belegen, dass «Mystery» erst im Zusammenhang mit der Ausstrahlung von The X-Files auf ProSieben seine heutigen Bedeutung erhielt (im Englischen dagegen ist eine «mystery novel» schlicht und ergreifend ein Krimi).

Daneben enthält der Artikel noch einige grundsätzliche Überlegungen zur Genretheorie sowie ein paar Gedanken zur Verbindung von Todorovs Phantatsiktmodell, Mythentheorie, Fankultur und erzählerischer Komplexität in Fernsehserien. Alles Weitere kann bei Interesse hier nachgelesen werden. Eine englische Version des Artikels wird im Tagungsband enthalten sein, der demnächst erscheinen sollte.

Bibliographische Angaben

Pearson, Roberta E. (Hg.): Reading Lost. Perspectives on a Hit Television Show. London/New York 2009.

Spiegel, Simon: «Das große Genre-Mysterium: Das Mystery-Genre». In: Zeitschrift für Fantastikforschung. Jg. 4.1, Nr. 7, 2014, 2–26.

Spiegel, Simon: «The Big Genre Mystery: The Mystery Genre». In: Beil, Benjamin et al. (Hg.): LOST in Media. Berlin 2014 [im Druck].