Authentische Wunschträume

In der Zeitschrift Komparatistik Online ist dieser Tage ein Teil der Proceedings der letzten Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung erschienen — unter anderem darin enthalten ist ein Artikel von mir zur Utopie im nicht-fiktionalen Film.

Das Timing ist nicht ganz optimal, da ich mich in dem Artikel u.a. auf einen Text beziehe, den ich für die Proceedings der 2012er Jahrestagung geschrieben habe, welche voraussichtlich erst im Herbst erscheinen werden.[ref]Hier die vorläufigen bibliografischen Angaben: «Auf der Suche nach dem utopischen Film». In: Christiane Lötscher, Petra Schrackmann, Ingrid Tomkowiak, Aleta-Amirée von Holzen (Hg.): Übergänge und Entgrenzungen in der Fantastik, Berlin: Lit 2014 [im Druck].[/ref] Ich denke aber, dass der Artikel auch so verständlich sein sollte. Kurz zum Inhalt: Grundthese meines Forschungsprojekts ist, dass es im nicht-fiktionalen Film (vulgo: Dokumentarfilm) zahlreiche Beispiele für utopische Entwürfe gibt, die dem von Thomas Morus in Utopia etablierten Modell weitgehend entsprechen. Ein Beispiel hierfür, das ich im besagten noch nicht veröffentlichten Artikel analysiere, ist Zeitgeist: Addendum von Peter Joseph, ein Low-Budget-Film (auf YouTube frei erhältlich), der neben viel verschwörungstheoretischem Geraune mit dem Venus Project auch einen Gegenentwurf präsentiert.[ref]Ursprünglich aufmerksam auf das Venus Project resp. Josephs Filme wurde ich durch einen Thread auf sf-netzwerk.de. Die Diskussion, in die sich zwischendurch auch ein Vertreter des Venus Project einschaltet, driftet zwar immer wieder ab, zeigt aber sehr schön die Probleme dieses Projekts.[/ref] Das Venus Project wiederum ist zwar durchaus ernst gemeint, präsentiert sich aber als einzige Ansammlung utopischer Topoi. Sei es Geldlosigkeit, zentrale Verteilung der Güter, Erziehung zum besseren Menschen, Abschaffung des politischen Prozesses – das Venus Project bietet die volle Packung.[ref]Aus Josephs Zeitgeist-Filmen ist das Zeitgeist Movement hervorgegangen, das sich ursprünglich als aktivistischer Arm des Venus Project verstanden hat. Wie es derartigen bei sektenähnlichen Vereinigungen aber oft vorkommt, haben sich die beiden Bewegungen mittlerweile überworfen und gehen seither getrennte Wege.[/ref]

Während ich in dem nun später erscheinenden ersten Artikel ganz grundlegend dafür plädiere, den Dokumentarfilme für die Utopieforschung zu erschliessen, konzentriere ich mich in dem in Komparatistik Online erschienenen Aufsatz auf die Frage, wie sich ein Film wie Zeitgeist: Addendum aus Sicht der Dokumentarfilm-Theorie präsentiert. Denn auf den ersten Blick erscheint ein solcher utopischer Film als Paradoxon: Ausgerechnet im Dokumentarfilm, der die Wirklichkeit abbildet, soll es utopische Entwürfe geben, zu deren wesentlichen Eigenschaften es gehört, dass sie (noch) nicht existieren. Bei genauerer Betrachtung ist die Sache freilich gar nicht so widersprüchlich. Dass Dokumentarfilme die Wirklichkeit keineswegs einfach abbilden, dass das Verhältnis zwischen Realität und Film einiges komplexer ist, dürfte jedem klar sein, der sich ein bisschen in diesem Bereich auskennt. Das macht die Sache aber nicht einfacher, und die Filmtheorie müht sich schon seit geraumer Zeit mit der Frage ab, wie das Verhältnis zwischen Dokumentarfilm und Wirklichkeit am besten zu fassen ist. Persönlich scheint mir der semiopragmatische Ansatz von Roger Odin hier am sinnvollsten. Sehr vereinfacht gesagt geht dieser davon aus, dass ein Film vom Rezipienten immer auf verschiedene Arten gelesen werden kann, und dass die unterschiedlichen Lektüre-Modi sowohl durch formale Merkmale im Film – z.B. Kameraführung, Einsatz von Off-Kommentar, Montage – wie auch durch den Kontext, in dem der Film rezipiert wird, nahegelegt werden. Wenn ein Film z.B. als Dokumentarfilm beworben wird, liegt es nahe, dass ich als Zuschauer den dokumentarisierenden Modus wähle. Es stet mir aber immer frei, entgegen der Vorgaben, die ein Film resp. der Kontext macht, einen anderen Lektüremodus zu wählen.

Entwurf von Jacque Fresco.

vlcsnap-2014-05-19-22h31m29s68vlcsnap-2014-05-19-22h31m23s11Die Zukunft, wie man sie sich beim Venus Project vorstellt.

Der dokumentarisierende Modus unterscheidet sich vom  fiktionalisierenden unter anderem dadurch, dass ich als Zuschauer immer davon ausgehe, dass der Filmemacher Aussagen zur Wirklichkeit macht. Das heisst nun nicht, dass die Bilder und Töne im Film tatsächlich reale Ereignisse wiedergeben müssen, aber dass ich seinen Inhalt in Bezug zur Realität setze, dass der Film als Ganzer dem Wahrheitsgebot unterliegt. Zugespitzt formuliert: Ein Dokumentarfilm kann lügen, ein Spielfilm nicht. Der Filmtheoriker Carl Plantinga, der diesbezüglich ähnlich argumentiert wie Odin, spricht von einer assertorischen Haltung.

Was geschieht nun, wenn ein Dokumentarfilm Dinge zeigt, die es offensichtlich nicht gibt, wenn zum Beispiel in Zeitgeist: Addendum die computeranimierten Entwürfe von Venus-Project-Guru Jacque Fresco zu sehen sind?[ref]Fresco, Jahrgang 1916, also genau 400 Jahre jünger als Morus’ Utopia, ist gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin Roxanne Meadows die treibende Kraft hinter dem Venus Project. Benannt ist dieses nach seinem Namen in Venus, Kalifornine.[/ref] Verliert der Film dann seinen dokumentarischen Status? Ich bin der Ansicht, dass das nicht der Fall ist, denn an der grundsätzlichen Haltung des Films ändert sich nichts. Folgendes Zitat aus dem Artikel bringt den Sachverhalt – hoffentlich – auf den Punkt:

Die in Josephs Film gezeigten futuristischen Bauten und Gefährte sind zweifellos (noch) nicht real, im Kontext des Films verändern sie aber ihren Status und erscheinen nicht als völlig fiktive Elemente. Vielmehr ist die Argumentation des Films gerade darauf ausgerichtet, das Gezeigte als plausibel und wünschenswert erscheinen zu lassen. Mittels dieser Strategie verliert das Fiktive seine ursprüngliche Nicht-Wirklichkeit und erhält einen quasi-assertorischen Status. Diesen Vorgang, das Quasi-real-Erscheinen-lassen fiktiver Elemente, bezeichne ich als Faktualisierung (195 f.)

Faktualisierung führt also dazu, dass fiktive Elemente in einem Dokumentarfilm ihren nicht-realen Status zumindest teilweise verlieren. Das heisst nun keineswegs, dass Frescos Entwürfe damit automatisch plausibel werden. Aber auch ein Skeptiker, der das Venus Project für Unsinn hält, wird wohl zugestehen, dass dessen futuristische Städte einen anderen Status haben als die Metropolen eines Science-Fiction-Films. Ein Film wie Blade Runner erhebt keinen Anspruch darauf, eine ernsthafte Prognose zur Stadtentwicklung in den USA abzugeben. Fresco versteht seine Entwürfe dagegen ausdrücklich als ernsthafte Vorschläge, über welche man diskutieren und die man schliesslich auch umsetzen soll.

Mit dem Begriff der Faktualisierung, der übrigens von meiner Projektpartnerin Andrea Reiter stammt, scheint mir ein für mein Projekt ganz wesentliches Element benannt. Momentan haben wir dieses Konzept noch nicht detailliert ausgearbeitet, sondern nur grob skizziert. Auch mein Artikel ist nur als erster Entwurf zu verstehen, der das Phänomen des utopischen Dokumentarfilms aus filmtheoretischer Sicht umreisst. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich der Ansatz als fruchtbar erweisen wird. Der Vorgang der Faktualisierung scheint mir dabei für viele Spielarten des Dokumentarfilms relevant, im Falle der von mir untersuchten utopischen Filme bildet er aber das zentrale Scharnier zwischen Fiktion und Faktualität.

«Snowpiercer»

Auf diesem Blog werde ich unter anderem regelmässig über aktuelle Kinofilme schreiben (zumindest ist das so geplant). Da es hier aber um Analysen und mehr oder weniger wilde Gedanken zu den jeweiligen Filmen und nicht um Kritiken im engeren Sinn gehen soll – dafür gibt es meine andere Website –, gilt ein genereller Spoilervorbehalt. Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie[ref]Definition gemäss Urban Dictionary: (n.) fear of coming across a spoiler. can be preceded with specific kind of spoilerphobia.[/ref] leidet, sollte die entsprechenden Einträge somit besser meiden.

Snowpiercer

Snowpiercer des Südkoreaners Bong Joon-ho ist ein gelungener Science-Fiction-Film (siehe meine Rezension ), der auch in Sachen Utopie/Dystopie von Interesse ist. Kurz zur Geschichte: Der Versuch, die Klimaerwärmung mittels Freisetzung eines Wirkstoffs in die Atmosphäre rückgängig zu machen, hat ein bisschen zu gut funktioniert. In der Folge ist die Erde zu einem unbewohnbaren Eisklotz geworden, die letzten Überlebenden sind in einem Zug versammelt, der in endloser Kreisfahrt die Erde umrundet. Für seine Bewohner ist der Zug die Welt, der Versuch, diese zu verlassen, endet tödlich.

Der Zug ist ein geschlossenes Ökosystem: Es gibt Wagen, in denen Pflanzen angebaut werden, ein Aquarium, in einem Wagen wird Wasser rezykliert etc. Die Anordnung des Zugs bringt auch eine soziale Hierarchie zum Ausdruck: Die Oberschicht, die «ticket-holders», führt in den vorderen Wagen ein Leben in Luxus mit Sushi-Bar, Schönheitssalons und Party-Location, während die Unterschicht im letzten Wagen zusammengepfercht ist und sich von Proteinriegeln (Soylent Green lässt grüssen) ernähren muss. Natürlich wollen sich die Bewohner des hintersten Wagens nicht mit ihrer Situation abfinden – es kommt zur unvermeidbaren Revolte.

Snowpiercer ist eine typische Dystopie: Es wird ein Schreckensregime in all seinen schaurigen Details gezeigt und die Geschichte eines Aufstands erzählt. Im Gegensatz zur Utopie, in der es keine Unzufriedenen gibt, hat die Dystopie durch ihre rebellierende Hauptfigur immer schon einen handlungstreibenden Konflikt.[ref]In der klassischen Dystopie – wenn man diesen Ausdruck verwenden will – gibt es eigentlich immer irgendeine Form von Rebellion gegen die herrschende Ordnung. Oft erkennt dabei ein ursprünglich perfekt angepasstes Mitglied der Gesellschaft die Schlechtigkeit des Systems. Diese Einsicht geht oft Hand in Hand mit einer Liebesgeschichte. Mittlerweile wurde aber auch dieses Muster wiederum variiert. Vladimir Sorokins Der Tag des Opritschniks wäre ein Beispiel für eine Dystopie, die ganz ohne Rebellion auskommt. Der Protagonist ist hier ein Scherge der menschenverachtenden Diktatur. Diese Figur würde in einer «normalen» Dystopie früher oder später an ihrem Tun zweifeln. Sorokins Held dagegen bleibt bis zum Schluss ein treuer Diener seiner Herren.[/ref] Dass Utopie und Dystopie dennoch nahe beieinander liegen, wurde schon vielfach festgestellt. Im Grunde reicht ein Unzufriedener, dem das jeweilige System nicht passt, um aus einer klassischen Utopie eine Dystopie zu machen. Es ist denn auch kein Zufall, dass die meisten klassischen Utopie der Frage ausweichen, was mit all jenen geschah, die ursprünglich gegen die Etablierung der utopischen Ordnung waren …

Auch in Snowpiercer ist die Nähe der beiden Formen präsent, denn für die meisten Reisenden stellt der Zug durchaus eine Utopie dar. Nicht nur ist er – zwangsläufig – von der Aussenwelt abgeschlossen und autark, für die «ticket-holders» gestaltet sich das Leben in dieser Welt zudem sehr angenehm. Ohnehin gibt es keine echte Alternative zum rettenden Zug. Aus Sicht der «ticket-holders» bringen die Rebellen die einzig vernünftige – da alternativlose – Ordnung durcheinander; ein Zerstören des Zugantriebs wäre für alle Insassen gleichermassen fatal.

Für die Aufrechterhaltung der utopischen Ordnung ist Erziehung zentral. Die Utopie ist auf utopische Bürger angewiesen, die einsehen, dass keine vernünftige Alternative zum jeweiligen System existiert. Und tatsächlich gibt es im Snowpiercer-Zug einen Schulwagen, in dem auch die witzigste Szene des Films spielt. Hier werden die Kinder der «ticket-holders» von klein auf gedrillt, um in dieser Welt richtig zu funktionieren. Wie wichtig der Zug ist, lernen die Kleinen dabei in eingängigen Kinderliedern:

Rumble rumble, rattle rattle …
It will never die!
What happens if the engine stops?
We will all freeze and die.

Wilford, der sagenhafte Erbauer und Lenker des Zugs, erscheint je nach Perspektive als weise Vaterfigur, der das Überleben der Menschheit sicherstellt, oder aber als tyrannischer Big Brother. Dabei lässt der Film die Frage lange offen, ob Wilford überhaupt noch lebt oder bloss eine Propaganda-Figur ist (ähnlich wie Orwells Big Brother, bei dem letztlich irrelevant ist, ob er je existiert hat). Wie sich am Ende aber herausstellt, lebt Wilford noch und ist zudem äusserst rührig. Die Rebellion kam für ihn keineswegs unerwartet, sondern wurde vielmehr von ihm eingefädelt. Er versorgt die Rebellen immer wieder mit Informationen, die ihnen das Vorwärtskommen im Zug überhaupt erst ermöglichen. Der Aufstand dient dabei einerseits dazu, die Population des Zugs zu dezimieren, andererseits will Wilford auf diese Weise seinen Nachfolger küren. Ausgerechnet Curtis, der zögerliche Anführer der Revolution, soll den Platz des alternden Wilford einnehmen.

Curtis durchläuft auf seinem Weg zur Zugspitze eine regelrechte utopische (Um-)Erziehung. Als sie sich schliesslich gegenüberstehen, hat er den Argumenten Wilfords wenig entgegen zu setzen; eine echte Alternative zum etablierten Zugsystem kann er nicht bieten. Freilich ist der Film dann doch nicht so bitterböse, dass er der wilfordschen Logik bis zum bitteren Ende folgen würde. Als Curtis entdeckt, was mit den beiden Jungen geschehen ist, die zu Beginn des Films entführt wurden — sie dienen als menschliche Ersatzteile für die alternde Zugmechanik —, siegt die menschliche Anteilnahme über die kalte utopische Rationalität. Die obligate grosse Schlussexplosion macht dem verhassten Zug dann endgültig den Garaus.

Beides — der Sieg der Menschlichkeit sowie der finale Kracher — sind Konventionen des Mainstreamkinos. Aus der Logik der Filmwelt heraus betrachtet erscheinen sie allerdings alles andere als zwingend. Ist es wirklich klug, den Zug zu zerstören und so das Überleben der Menschheit aufs Spiel zu setzen? Snowpiercer kann sich hier nur mit einem Deus ex machina behelfen: Obwohl zu Beginn wenige Minuten Aussentemperatur reichen, um einer Figur den Arm abzufrieren, hat sich die Erde am Ende so weit erwärmt, dass Leben im Freien wieder möglich ist.

Dass die utopisch-dystopische Dialektik trotz entsprechender Ansätze nicht voll zum Tragen kommt, liegt allerdings an einer anderen, gravierenderen Schwäche, auf die auch Abigail Nussbaum in ihrer lesenswerten Rezension (die meine eigene massgeblich inspiriert hat) hinweist: Für das Funktionieren des Ökosystems Zug ist der letzte Wagen vollkommen überflüssig. Wieder und wieder betonen die Vertreter der Obrigkeit zwar, dass das System Zug nur funktioniert, wenn jeder seinen vorgeschriebenen Platz einnimmt;[ref]Auch das ein utopischer Topos. Bereits Platons Politeia, einer der utopischen Urtexte, der für Morus einen massgeblichen Einfluss darstellte, entwirft ein rigides Klassensystem.[/ref]  andernfalls droht das labile Gleichgewicht zu kippen. Tatsächlich kann von einem Gleichgewicht aber nicht die Rede sein, denn der letzte Wagen erfüllt im Ökosystem Zug keinen sichtbaren Zweck. Die Unterschicht produziert nichts, trägt nichts zum Funktionieren des Zugs bei, ist im Grunde überflüssig.

Dabei wären Varianten, in denen der hinterste Wagen wirklich ein integraler Teil des Zugsystems ist, durchaus vorstellbar. Man denke etwa an H. G. Wells’ Klassiker The Time Machine (1895): In ferner Zukunft hat sich die Menschheit in zwei unterschiedliche Spezies ausdifferenziert, die in einer blutigen Symbiose leben. Über der Erde führen die kindlich unschuldigen, aber auch völlig degenerierten Elois ein sorgenfreies Leben. Die schrecklichen Morlocks im Untergrund dagegen halten die Maschinerie dieser Welt am Laufen. Grausame Pointe des Ganzen: Die Morlocks ernähren sich von den Elois. Der Preis, den die Elois für ihr Arkadien bezahlen, ist die ständige Gefahr, eines Tages verspeist zu werden. Aus der Perspektive der Morlocks erscheint das Arrangement dagegen bloss als eine Form von Viehzucht.

Eine analoge Konstellation in Snowpiercer hätte das utopisch/dystopische Dilemma noch verschärft. Mit den beiden Kindern, die einspringen müssen, als die Technik versagt, greift der Film eine ähnliche Idee auf – der letzte Wagen als menschliches Ersatzteillager. Auch das Thema Kannibalismus ist im Film präsent: Wie wir gegen Ende erfahren, assen sich die Bewohner des letzten Wagens gegenseitig auf, bevor sie mit Protein-Riegeln versorgt wurden. Die entsprechenden Ansätzen wären also vorhanden, sie werden aber nicht konsequent durchgespielt. Wirklich erstaunlich ist das nicht, denn wenn Vorder- und Hinterteil des Zugs im gleichen Masse voneinander abhängig wären wie Elois und Morlocks, wäre ein Aufstand von Anfang an sinnlos. Dann könnte dieser bestenfalls dazu führen, die Verhältnisse umzudrehen und die einstigen Herrscher ans Zugsende zu verbannen. Eine so pessimistische Vision ist von einer Hollywood-Produktion aber kaum zu erwarten.

Der Schuh des Anstosses

Ein Detail, das mir besonders aufgefallen ist, möchte ich hier noch erwähnen, obwohl es sich wahrscheinlich um einen reinen Zufall handelt. Relativ früh im Film wird Mason, die Satthalterin Wilfords (Tilda Swinton mit einer karikaturistischen Glanzleistung), vom Vater des einen entführten Jungen mit einem Schuh beworfen. Zur Strafe verliert er den Arm. Bevor das Urteil vollstreckt wird, muss er sich vor dem versammelten Wagen mit dem besagten Schuh auf dem Kopf anhören, dass er die natürliche Ordnung durcheinander gebracht hat (ich habe nur einen Screenshot gefunden, der die Umdrehung der Situation zeigt: Nachdem die Rebellen Mason gefangen genommen haben, muss nun sie mit dem Schuh auf dem Kopf posieren). Ein Schuh ist unten, der Kopf ist oben – «so it is». Wer diese Ordnung stört und den Schuh auf den Kopf stellt, muss bestraft werden.

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Der Schuh des Rebellen

In dieser Szene finden zwei ganz unterschiedliche Motive zusammen. Einerseits spielt sie natürlich auf den irakischen Journalisten Muntazer al-Zaidi an, der US-Präsident George W. Bush im Dezember 2008 mit Schuhen bewarf. Das Schuhwerfen ist seither zu einem ikonischen Bild des Protests geworden. Das Bild des Schuhs auf dem Kopf wiederum findet sich in Tommaso Campanellas Civitas solis, dt. Der Sonnenstaat (verfasst 1602, veröffentlicht 1623). Campanellas utopischer Entwurf ist einer der frühesten Texte, die direkt auf Morus’ Utopia reagieren, eine wilde Mischung aus Theokratie, Kommunismus sowie protofaschistischenen Elementen und ein typisches Beispiel für eine Utopie, in der kein vernünftiger Mensch leben will. Für unsere Zwecke ist die Passage interessant, in der beschrieben wird, was mit Männern geschieht, die sich der Sodomie, sprich: der Homosexualität, hingeben:

Wer bei Sodomie ertappt wird, wird gerügt und muss zur Strafe zwei Tage lang die Schuhe um den Hals gebunden tragen Zum Zeichen, dass er die Ordnung verkehrt und den Fuss auf den Kopf gestellt hat.[ref]Tommaso Campanella: Sonnenstaat. In: Klaus J. Heinisch (Hg.): Der utopische Staat. 26. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, 111–172, hier: 131. Im Wiederholungsfall erwartet den Sodomiten übrigens die Todesstrafe.[/ref]

Wie gesagt: Wahrscheinlich reiner Zufall; ich glaube nicht, dass Bong und sein Team Campanella kannten und bewusst Bezug auf diesen nehmen. Ich finde es aber interessant, wie hier zwei ganz unterschiedliche Motive miteinander verschmelzen und wie der Schuh auf dem Kopf resp. um den Hals in beiden Fällen als Symbol einer frevlerisch verkehrten Ordnung fungiert.